Hans-Dieter Sill, Güstrow 19.09.2022
Zum spekulativen Denken und zur spekulativen Methode bei Hegel
Inhalt
Aus anderen Schriften von Hegel
Interpretationen anderer Autoren
Ludovicus (Lu) De Vos im Hegel-Lexikon (Cobben 2006)
Historisches Wörterbuch der Philosophie (Ritter et al. 2007)
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Zitate aus Hegels Schriften
Aus der Phänomenologie
Aus der Vorrede
„Hiermit beschließt sich die Phänomenologie des Geistes. Was er in ihr sich bereitet, ist das Element des Wissens. In diesem breiten sich nun die Momente des Geistes in der Form der Einfachheit aus, die ihren Gegenstand als sich selbst weiß. Sie fallen nicht mehr in den Gegensatz des Seins und Wissens auseinander, sondern bleiben in der Einfachheit des Wissens, sind das Wahre in der Form des Wahren, und ihre Verschiedenheit ist nur Verschiedenheit des Inhalts. Ihre Bewegung, die sich in diesem Elemente zum Ganzen organisiert, ist die Logik oder spekulative Philosophie“ (Hegel 1970b, S. 39).
Gedanken:
- Die Ausführungen bewegen sich im Wesentlichen im Bereich des Mentalen. So werden die Begriffe „Geist“ und „Wissen“ im mentalen Sinne verwendet. Die Begriffe „Gegenstand“ und „Sein“ sind Bestandteil des Nichtmentalen, ebenso „Logik“ und „spekulative Philosophie“.
- Die Begriffe Element, Moment, Einfachheit, Gegensatz, Verschiedenheit, Bewegung und Ganzes sind Bestandteil einer Theorie im entäußerten Sinne.
- Unklar bleibt der verwendete Sinn von „das Wahre“ und „Inhalt“.
- Logik und spekulative Philosophie werden gleichgesetzt.
- Spekulative Philosophie ist die Bewegung, die sich in dem Element des Wissens zum Ganzen organisiert.
„In dieser Natur dessen, was ist, in seinem Sein sein Begriff zu sein, ist es, daß überhaupt die logische Notwendigkeit besteht; sie allein ist das Vernünftige und der Rhythmus des organischen Ganzen, sie ist ebensosehr Wissen des Inhalts, als der Inhalt Begriff und Wesen ist, – oder sie allein ist das Spekulative. – Die konkrete Gestalt, sich selbst bewegend, macht sich zur einfachen Bestimmtheit; damit erhebt sie sich zur logischen Form und ist in ihrer Wesentlichkeit; ihr konkretes Dasein ist nur diese Bewegung und ist unmittelbar logisches Dasein. Es ist darum unnötig, dem konkreten Inhalt den Formalismus äußerlich anzutun; jener ist an ihm selbst das Übergehen in diesen, der aber aufhört, dieser äußerliche Formalismus zu sein, weil die Form das einheimische Werden des konkreten Inhalts selbst ist.
Diese Natur der wissenschaftlichen Methode, teils von dem Inhalte ungetrennt zu sein, teils sich durch sich selbst ihren Rhythmus zu bestimmen, hat, wie schon erinnert, in der spekulativen Philosophie ihre eigentliche Darstellung“ (Hegel 1970b, S. 54–55).
Gedanken:
- Es wird zu Beginn des ersten Abschnitts nicht klar, auf welcher Ebene sich Hegel bewegt. Seine Bemerkungen zum äußerlichen Formalismus sprechen dafür, dass es ihm um Zustände und Vorgänge im Bereich des Mentalen geht. Das konkrete Dasein, das logische Dasein und der konkrete Inhalt betreffen dann in diesem Sinne mentale Zustände.
- Interessant ist der Gedanke, dass die Form das „einheimische Werden des konkreten Inhalts“ ist und damit ein äußerlicher Formalismus nicht notwendig ist.
- Die Termini „wissenschaftliche Methode“ und „spekulative Philosophie“ sind, wie Hegel selbst formuliert, Formen der Darstellung, also Bestandteil des entäußerten Mentalen.
„Formell kann das Gesagte so ausgedrückt werden, daß die Natur des Urteils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des Subjekts und Prädikats in sich schließt, durch den spekulativen Satz zerstört wird und der identische Satz, zu dem der erstere wird, den Gegenstoß zu jenem Verhältnisse enthält“ (Hegel 1970b, S. 59).
„Eine Schwierigkeit, die vermieden werden sollte, macht die Vermischung der spekulativen und der räsonierenden Weise aus, wenn einmal das vom Subjekte Gesagte die Bedeutung seines Begriffs hat, das andere Mal aber auch nur die Bedeutung seines Prädikats oder Akzidens. – Die eine Weise stört die andere, und erst diejenige philosophische Exposition würde es erreichen, plastisch zu sein, welche streng die Art des gewöhnlichen Verhältnisses der Teile eines Satzes ausschlösse.
In der Tat hat auch das nicht spekulative Denken sein Recht, das gültig, aber in der Weise des spekulativen Satzes nicht beachtet ist. Daß die Form des Satzes aufgehoben wird, muß nicht nur auf unmittelbare Weise geschehen, nicht durch den bloßen Inhalt des Satzes. Sondern diese entgegengesetzte Bewegung muß ausgesprochen werden; sie muß nicht nur jene innerliche Hemmung, sondern dies Zurückgehen des Begriffs in sich muß dargestellt sein. Diese Bewegung, welche das ausmacht, was sonst der Beweis leisten sollte, ist die dialektische Bewegung des Satzes selbst. Sie allein ist das wirkliche Spekulative, und nur das Aussprechen derselben ist spekulative Darstellung. Als Satz ist das Spekulative nur die innerliche Hemmung und die nicht daseiende Rückkehr des Wesens in sich. Wir sehen uns daher oft von philosophischen Expositionen an dieses innere Anschauen verwiesen und dadurch die Darstellung der dialektischen Bewegung des Satzes erspart, die wir verlangten. – Der Satz soll ausdrücken, was das Wahre ist, aber wesentlich ist es Subjekt; als dieses ist es nur die dialektische Bewegung, dieser sich selbst erzeugende, fortleitende und in sich zurückgehende Gang. – Bei dem sonstigen Erkennen macht der Beweis diese Seite der ausgesprochenen Innerlichkeit aus. Nachdem aber die Dialektik vom Beweise getrennt worden, ist in der Tat der Begriff des philosophischen Beweisens verlorengegangen.“ (Hegel 1970b, S. 60).
„Es ist dies dem ähnlich, was beim gewöhnlichen Beweise so vorkommt, daß die Gründe, die er gebraucht, selbst wieder einer Begründung bedürfen, und so fort ins Unendliche. Diese Form des Begründens und Bedingens gehört aber jenem Beweisen, von dem die dialektische Bewegung verschieden ist, und somit dem äußerlichen Erkennen an. Was diese selbst betrifft, so ist ihr Element der reine Begriff; hiermit hat sie einen Inhalt, der durch und durch Subjekt an ihm selbst ist. Es kommt also kein solcher Inhalt vor, der als zum Grunde liegendes Subjekt sich verhielte und dem seine Bedeutung als ein Prädikat zukäme; der Satz ist unmittelbar eine nur leere Form. – Außer dem sinnlich angeschauten oder vorgestellten Selbst ist es vornehmlich der Name als Name, der das reine Subjekt, das leere begrifflose Eins bezeichnet. Aus diesem Grunde kann es z. B. dienlich sein, den Namen Gott zu vermeiden, weil dies Wort nicht unmittelbar zugleich Begriff, sondern der eigentliche Name, die feste Ruhe des zum Grunde liegenden Subjekts ist; da hingegen z. B. das Sein oder das Eine, die Einzelheit, das Subjekt usf. selbst auch unmittelbar Begriffe andeuten. – Wenn auch von jenem Subjekte spekulative Wahrheiten gesagt werden, so entbehrt doch ihr Inhalt des immanenten Begriffs, weil er nur als ruhendes Subjekt vorhanden ist, und sie bekommen durch diesen Umstand leicht die Form der bloßen Erbaulichkeit. – Von dieser Seite wird also auch das Hindernis, das in der Gewohnheit liegt, das spekulative Prädikat nach der Form des Satzes, nicht als Begriff und Wesen zu fassen, durch die Schuld des philosophischen Vortrags selbst vermehrt und verringert werden können. Die Darstellung muß, der Einsicht in die Natur des Spekulativen getreu, die dialektische Form behalten und nichts hereinnehmen, als insofern es begriffen wird und der Begriff ist.“ (Hegel 1970b, S. 61–62).
Gedanken:
- Hegel unterscheidet zwei Formen der Entäußerung eines Begriffs i.m.S., die spekulative und die räsonierende Weise. Das Wort „räsonieren“ hat als eine Bedeutung „sich wortreich [überflüssigerweise] äußern“, wird also im abwertenden Sinne verwendet, woran Hegel offensichtlich anknüpft. Bei der spekulativen Weise einer Äußerung hat das „vom Subjekt Gesagte die Bedeutung seines Begriffs“. Damit meint Hegel, dass die Äußerungen dem entsprechend, was das Subjekt unter dem betreffenden Begriff der Gesamtheit der Momente versteht. Bei der räsonierenden Weise der Äußerung werden nur (offensichtlich äußere) Prädikate und Eigenschaften dargelegt. Hegel sagt deutlich, dass bei einer philosophischen Exposition „die Art des gewöhnlichen Verhältnisses der Teile eines Satzes“ ausgeschlossen werden müssen. Diese Bemerkung richtet sich gegen das formale Herangehen der sprachanalytisch orientierten Philosophie.
- In den folgenden Abschnitten äußert sich Hegel unter verschiedenen Gesichtspunkten dem Verhältnis von mentalen Zuständen, wie einem Begriff, und ihren Darstellungen in sprachlicher Form. Formen der sprachlichen Darstellung sind der Satz und auch der Beweis, wobei mir nicht klar ist, was er unter einem Beweis versteht. Es geht ihm um eine spekulative Darstellung.
- Es muss das Zurückgehen des Begriffs in sich selbst dargestellt werden. Diese entgegengesetzte Bewegung muss ausgesprochen werden. „Diese Bewegung … ist die dialektische Bewegung des Satzes selbst. Sie allein ist das wirkliche Spekulative, und nur das Aussprechen derselben ist spekulative Darstellung.“
- Der spekulative Satz zerstört die Natur des Satzes oder Urteils, der Subjekt und Prädikat beinhaltet, also der übliche Satz aus formaler Sicht.
- Die Form des Satzes muss aufgehoben werden, nicht nur durch den bloßen Inhalt des Satzes. „Als Satz ist das Spekulative nur die innerliche Hemmung.“ „der Satz ist unmittelbar eine nur leere Form. … [Er] ist es vornehmlich der Name als Name, der das reine Subjekt, das leere begrifflose Eins bezeichnet.“
- Das Begründen und Beweisen als eine unendliche Kette gehören dem „äußerlichen Erkennen“ an und ist verschieden von der dialektischen Bewegung, deren Element der reine Begriff ist.
- Am Beispiel der Bezeichnung „Gott“ unterscheidet er zwischen Wort und Begriff.
Im Kapitel: C. (AA) VERNUNFT
Abschnitt b. Die Beobachtung des Selbstbewußtseins in seiner Reinheit und seiner Beziehung auf äußere Wirklichkeit; logische und psychologische Gesetze
„Es ist hier hinreichend, die Ungültigkeit der sogenannten Denkgesetze aus der allgemeinen Natur der Sache aufgezeigt zu haben. Die nähere Entwicklung gehört in die spekulative Philosophie, worin sie sich als dasjenige zeigen, was sie in Wahrheit sind, nämlich einzelne verschwindende Momente, deren Wahrheit nur das Ganze der denkenden Bewegung, das Wissen selbst ist“ (Hegel 1970b, S. 228).
Gedanken:
- Hegel bezeichnet die Denkgesetze als verschwindende Momente der denkenden Bewegung als Ganzes, was das Wissen selbst ist. Die Reflexion über diesen Zusammenhang erfolgt in der spekulativen Philosophie.
Aus anderen Schriften von Hegel
Wissenschaft der Logik
„Der Satz enthält somit das Resultat, er ist dieses an sich selbst. Der Umstand aber, auf den hier aufmerksam zu machen ist, ist der Mangel, daß das Resultat nicht selbst im Satze ausgedrückt ist; es ist eine äußere Reflexion, welche es in ihm erkennt. – Es muß hierüber sogleich im Anfange diese allgemeine Bemerkung gemacht werden, daß der Satz, in Form eines Urteils, nicht geschickt ist, spekulative Wahrheiten auszudrücken; die Bekanntschaft mit diesem Umstande wäre geeignet, viele Mißverständnisse spekulativer Wahrheiten zu beseitigen. Das Urteil ist eine identische Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat; es wird dabei davon abstrahiert, daß das Subjekt noch mehrere Bestimmtheiten hat als die des Prädikats, sowie davon, daß das Prädikat weiter ist als das Subjekt. Ist nun aber der Inhalt spekulativ, so ist auch das Nichtidentische des Subjekts und Prädikats wesentliches Moment, aber dies ist im Urteile nicht ausgedrückt. Das paradoxe und bizarre Licht, in dem vieles der neueren Philosophie den mit dem spekulativen Denken nicht Vertrauten erscheint, fällt vielfältig in die Form des einfachen Urteils, wenn sie für den Ausdruck spekulativer Resultate gebraucht wird“ (Hegel 1970d, S. 93).
„Die Natur des spekulativen Denkens zeigt sich hieran als einem ausgeführten Beispiele in ihrer bestimmten Weise; sie besteht allein in dem Auffassen der entgegengesetzten Momente in ihrer Einheit. Indem jedes, und zwar faktisch, sich an ihm zeigt, sein Gegenteil an ihm selbst zu haben und in diesem mit sich zusammenzugehen, so ist die affirmative Wahrheit diese sich in sich bewegende Einheit, das Zusammenfassen beider Gedanken, ihre Unendlichkeit, – die Beziehung auf sich selbst, nicht die unmittelbare, sondern die unendliche“ (Hegel 1970d, S. 168).
„Das spekulative Denken besteht nur darin, daß das Denken den Widerspruch und in ihm sich selbst festhält, nicht aber, daß es sich, wie es dem Vorstellen geht, von ihm beherrschen und durch ihn sich seine Bestimmungen nur in andere oder in nichts auflösen läßt“ (Hegel 1970e, S. 76).
Gedanken:
- Hegel äußert sich hier in sehr klarer Weise zu den Problemen, die mit der Entäußerung von Resultaten spekulativen Denkens verbunden sind. Er unterscheidet dabei deutlich zwischen den eigentlichen Denkresultaten als mentalen Zuständen und den äußeren Reflexionen dieser Zustände in Form von grammatischen Sätzen.
- Als Probleme der Formulierung diese Resultate in Form von Sätzen und Urteilen führt er an, dass das Urteil eine identische Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat ist, aber das Subjekt im spekulativen Sinne noch mehrere Bestimmtheiten als die des Prädikats haben kann und dass das Prädikat, wie er sagt, „weiter als das Subjekt“ ist. Weiterhin wird nicht ausgedrückt, dass das Nichtidentische von Subjekt und Prädikat ein wesentliches Moment des spekulativen Denkens ist. Es muss in sprachlicher Form zugleich die Identität und Nichtidentität von Subjekt und Objekt dargestellt werden.
Mit der Formulierung „weiter als das Subjekt“ meint er möglicherweise, dass das betreffende Prädikat auch anderen Subjekten zugesprochen werden kann. - Abschließend stellt er fest, dass aufgrund dieser Tatsachen die Darstellung der Resultate der spekulativen Philosophie für viele damit nicht so Vertraute unverständlich erscheinen.
- Er belegt damit erneut, dass mit der Philosophie der Sprache wesentliche Elemente philosophischer Überlegungen nicht adäquat erfasst werden können.
- Er unterscheidet bei der Einheit Gedanken zwischen der unmittelbaren Beziehung der entgegengesetzten Momente und der Unendlichkeit der Beziehung. Damit meint er offensichtlich die übergreifende Allgemeingültigkeit der Beziehung.
- Mit seinen Bemerkungen zu Beziehung des spekulativen Denkens und des Widerspruchs, der jedem Objekt innewohnt, distanziert er sich von einfachen Vorstellungen, nach denen der Widerspruch das spekulative Denken aufheben oder die Bestimmungen in andere überführen kann. Diese einfachen Vorstellungen sind ein wesentliches Moment der Auffassung zur Rolle von Widersprüchen in der marxistisch-leninistischen Philosophie.
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I
„Das Logische hat der Form nach drei Seiten: α) die abstrakte oder verständige, β) die dialektische oder negativ-vernünftige, γ) die spekulative oder positiv-vernünftige.
Diese drei Seiten machen nicht drei Teile der Logik aus, sondern sind Momente jedes Logisch-Reellen, das ist jedes Begriffes oder jedes Wahren überhaupt“ (Hegel 1970a, S. 168).
„γ) Das Spekulative oder Positiv-Vernünftige faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf, das Affirmative, das in ihrer Auflösung und ihrem Übergehen enthalten ist.
- Die Dialektik hat ein positives Resultat, weil sie einen bestimmten Inhalt hat oder weil ihr Resultat wahrhaft nicht das leere, abstrakte Nichts, sondern die Negation von gewissen Bestimmungen ist, welche im Resultate eben deswegen enthalten sind, weil dies nicht ein unmittelbares Nichts, sondern ein Resultat ist. 2. Dies Vernünftige ist daher, obwohl ein Gedachtes, auch Abstraktes, zugleich ein Konkretes, weil es nicht einfache, formelle Einheit, sondern Einheit unterschiedener Bestimmungen ist. Mit bloßen Abstraktionen oder formellen Gedanken hat es darum überhaupt die Philosophie ganz und gar nicht zu tun, sondern allein mit konkreten Gedanken. 3. In der spekulativen Logik ist die bloße Verstandes-Logik enthalten und kann aus jener sogleich gemacht werden; es bedarf dazu nichts, als daraus das Dialektische und Vernünftige wegzulassen; so wird sie zu dem, was die gewöhnliche Logik ist, eine Historie von mancherlei zusammengestellten Gedankenbestimmungen, die in ihrer Endlichkeit als etwas Unendliches gelten“ (Hegel 1970a, S. 176–177).
„Weiter ist nun das Spekulative überhaupt nichts anderes als das Vernünftige (und zwar das Positiv-Vernünftige), insofern dasselbe gedacht wird. Im gemeinen Leben pflegt der Ausdruck Spekulation in einem sehr vagen und zugleich untergeordneten Sinn gebraucht zu werden, so z. B., wenn von Heirats- oder Handelsspekulationen die Rede ist, worunter dann nur so viel verstanden wird, einerseits daß über das unmittelbar Vorhandene hinausgegangen werden soll und andererseits daß dasjenige, was den Inhalt solcher Spekulationen bildet, zunächst nur ein Subjektives ist, jedoch nicht ein solches bleiben, sondern realisiert oder in Objektivität übersetzt werden soll.
Dagegen ist dann zu sagen, daß das Spekulative seiner wahren Bedeutung nach weder vorläufig noch auch definitiv ein bloß Subjektives ist, sondern vielmehr ausdrücklich dasjenige, welches jene Gegensätze, bei denen der Verstand stehenbleibt (somit auch den des Subjektiven und Objektiven), als aufgehoben in sich enthält und eben damit sich als konkret und als Totalität erweist. Ein spekulativer Inhalt kann deshalb auch nicht in einem einseitigen Satz ausgesprochen werden. Sagen wir z. B., das Absolute sei die Einheit des Subjektiven und des Objektiven, so ist dies zwar richtig, jedoch insofern einseitig, als hier nur die Einheit ausgesprochen und auf diese der Akzent gelegt wird, während doch in der Tat das Subjektive und das Objektive nicht nur identisch, sondern auch unterschieden sind“ (Hegel 1970a, S. 178).
Gedanken:
- Das dialektische Denken bezeichnet Hegel als negativ-vernünftig. Es ist Bestandteil der Vernunft, die in seiner Terminologie über den Verstand im Sinne formallogischen Denkens hinausgeht. Er nennt die Dialektik negativ-vernünftig, weil ihr Kern in der dialektischen Aufhebung eines Existierenden besteht.
- Das spekulative Denken, das er als positiv-vernünftig bezeichnet, fast die entgegengesetzten Bestimmungen als Einheit auf. Positiv heißt es, weil damit die Wahrheit eines Ganzen reflektiert wird.
- Das positiv-Vernünftige, ist ein Gedachtes, also Element des Mentalen. Es ist abstrakt und zugleich konkret, abstrakt im Sinne einer übergreifenden Einheit von gegensätzlichen Bestimmungen und konkret, weil es um die Bestimmung der Momente eines konkreten Objekts geht. Das Spekulative erweist sich als Totalität.
- Die Verstandes-Logik ist im Spekulativen enthalten, „es bedarf dazu nichts, als daraus das Dialektische und Vernünftige wegzulassen.“
- Hegel weist darauf hin, dass das Wort „Spekulation“ im Alltag eine andere Bedeutung hat als in seiner Theorie.
- Er erläutert an dem Beispiel des Satzes „das Absolute sei die Einheit des Subjektiven und des Objektiven“, dass ein spekulativer Inhalt nicht in einem einseitigen Satz ausgesprochen werden kann. Der Satz sei zwar richtig, aber er enthält nicht den Gedanken, dass das Subjektive und das Objektive nicht nur identisch, sondern auch unterschieden sind.
Vorlesungen über die Philosophie der Religion I
„Spekulative Philosophie ist das Bewusstsein der Idee, so daß alles als Idee aufgefasst wird; die Idee aber ist das Wahre im Gedanken, nicht als bloße Anschauung oder Vorstellung. Das Wahre im Gedanken ist näher dieses, daß es konkret sei, in sich entzweit gesetzt, und zwar so, daß die zwei Seiten des Entzweiten entgegengesetzte Denkbestimmungen sind, als deren Einheit die Idee gefaßt werden muß. Spekulativ heißt, ein Wirkliches auflösen und dieses in sich so entgegensetzen, daß die Unterschiede nach Denkbestimmungen entgegengesetzt sind und der Gegenstand als Einheit beider aufgefaßt wird“ (Hegel 1970c, S. 30).
Gedanken:
- In beiden obigen Zitaten wird das Wesen spekulativen Denkens in verständlicher Weise charakterisiert.
- Hegel unterscheidet in seiner Darstellung wieder zwischen der theoretischen Ebene (spekulative Philosophie) und der mentalen Ebene (spekulative Philosophie als Bewusstsein der Idee). Ein Wirkliches soll aufgelöst werden in zwei Bestandteile (in der Realität), sodass die Unterschiede nach Denkbestimmungen (im Mentalen) entgegengesetzt sind. Der Gegenstand (als reales Objekt) soll dann als Einheit beider Denkbestimmungen aufgefasst werden.
Interpretationen anderer Autoren
Ludovicus (Lu) De Vos im Hegel-Lexikon (Cobben 2006)
„Das Spekulative als Resultat ist deshalb ein Konkretes, weil es die Leistung des unbedingten Denkens oder des Begreifens ist. Die resultierende Einheit ist eine Affirmation, weil sie wenigstens von der Diskursivität des bis zur Unbedingtheit gehenden Wissens durchzogen ist. Der Widerspruch, dem das Resultat eine Antwort liefert, ist ein denkend-skeptischer in Bezug auf Begriffe. Skeptische Kritik greift jede Unmittelbarkeit oder Positivität eines gegebenen, verständigen Begriffs auf gleicher Begriffsebene an, sofern sie zweifache Instantiierungsprobleme des Begriffs, dem Dasein oder der Bedeutung nach, aufzeigt.“ S. 329
„Nur der Phänomenologie eigentümlich ist einerseits diese Theorie des ‚spekulativen Satzes’ (GW 9, 45-46). Diese gliedert tatsächlich den dargestellten Inhalt der Phänomenologie, wie es aus dem Religionskapitel hervorgeht, in dem die Sätze ‚das Selbst ist das absolute Wesen’, wie ‚das absolute Wesen ist das Selbst’ den Fortgang bestimmen (GW 9, 400). Abwegig aber ist es, diese Theorie auch für die Logik in Anspruch zu nehmen, denn die vorgenommenen spekulativen Sätze, wie ‚das Sein ist das Wesen’, sowie ‚das Wesen ist das Sein’, sind nicht in der Lage, den logischen Fortgang hinreichend zu bestimmen, sofern sie nicht das Wesen, sondern bloß den Bereich des Wesens als Reflexion in ihm selbst gliedern (GW 11, 323).
Ein zweites Spezifikum der Phänomenologie zeigt sich andererseits bei der Religion. Obwohl die Logik in der Vorrede derselben durchgängig als spekulative Philosophie (GW 9, 30, vgl. GW 9, 447) sowie die logische Notwendigkeit als das Spekulative (GW 9, 40) bezeichnet werden, heißt das absolute Wissen zwar begreifendes Wissen, aber nirgendwo spekulativ. Der Text der Phänomenologie nennt nur das Wissen der offenbaren Religion, in dem Gott als Geist erkennbar ist, das spekulative Wissen (GW 9, 407). Von dieser Verbindung her erscheint die Religion später als allgemeines Bewusstsein des ganz allgemeinen Spekulativen. Die Religion bietet das Spekulative als Inhalt und Zustand des Bewusstseins (GW 17, 48), sodass für jeden, der religiös ist, und nicht nur für den Philosophen das Spekulative erreichbar ist (vgl. GW 18, 162; 23).“ S. 331/332
Gedanken:
- Unter einem spekulativen Satz verstehen die Autoren zum Beispiel die Sätze ‚das Selbst ist das absolute Wesen’, wie ‚das absolute Wesen ist das Selbst’, in denen Nominator und Prädikator vertauscht sind. Damit haben Sie das Wesen des spekulativen Denkens nicht erfasst. Das drückt sich dann auch in der Feststellung aus, dass die Theorie des spekulativen Satzes vor allem im Religionskapitel enthalten ist und in der Logik keine Rolle spielt, da solche Satzpaare nicht in der Lage sind, den logischen Fortgang hinreichend zu bestimmen.
- Für sie ist es ein Widerspruch, dass die Logik von Hegel in der Phänomenologie durchgängig als spekulative Philosophie, das absolute Wissen aber nicht als spekulativ bezeichnet wird. Lediglich die Religion, in der Gott als Geist erkennbar ist, bietet aus ihrer Sicht das Spekulative als Inhalt und Zustand des Bewusstseins, sodass für jeden, der religiös ist, das Spekulative erreicht werden kann. Auch dies zeugt vom Unverständnis der grundlegenden Idee des spekulativen Denkens, die natürlich nicht auf das religiöse Denken eingeschränkt ist.
- Insgesamt kann man feststellen, dass die Autoren Grundideen von Hegel nicht erfasst haben.
Henrich 1986
„In dieser Konzeption hat Hegel die Einsichten Kants mit den Erwartungen der Philosophen vereinigt, die Kant vorausgingen und denen er widersprochen hatte: Hegel hat den methodischen Monismus von Descartes, Spinoza und Leibniz mit dem kantischen Methodenpluralismus und dem von ihm geforderten Begründungsbegriff zweiter Stufe zusammengeführt. Es empfiehlt sich, solche Zusammenhänge in der Verständigung über Hegels Logik-Konzeption zu beachten, die seit langem in einer Hegel nicht ganz gemäßen Abkürzung „dialektische Logik“ genannt wird. Wollte man Hegel in allen Intentionen folgen, welchen diese Konzeption eingegangen sind, so wäre sie als „Theorie des spekulativen Denkens“ zu bezeichnen.“ S. 8
Gedanken:
- Der Autor stellt fest, dass Hegel mit dem Konzept des spekulativen Denkens den methodischen Monismus von Descartes, Spinoza und Leibniz mit den Vorstellungen von Kant zum Methodenpluralismus zusammengeführt hat. Spinoza versteht alle Einzelnen als Modi einer einzigen Substanz, während Leibniz von der Selbstständigkeit unendlich vieler Einzelner ausgeht. Mit dem methodischen Monismus bei Hegel ist sicher gemeint, dass Hegel das Ganze in Gedanken als Einheit gegensätzlicher Denkbestimmungen auffasst.
- Er wendet sich gegen die Abkürzung „dialektische Logik“, die den Intentionen von Hegel nicht vollständig gerecht wird und spricht sich für die Bezeichnung „Theorie des spekulativen Denkens“ aus.
Historisches Wörterbuch der Philosophie (Ritter et al. 2007)
„Mit der frühen Neuzeit setzt eine sich kontinuierlich verstärkende Kritik an der Spekulation ein. Die Abwertung und Unterordnung der Spekulation unter das praktische Interesse erreichen bei Kant ihren systematischen und wirkungsgeschichtlichen Höhepunkt. – 4) Mit einer Kritik an der Kritik der Spekulation wird der Begriff im Deutschen Idealismus positiv erneuert. Unter Aufnahme spezifischer Vorgaben der Tradition bezeichnet Spekulation nun eine vornehmlich der Vernunft vorbehaltene Denkform. – 5) Nach dieser exponierten und zentralen Stellung hat der Begriff im 19. Jh. vor allem negative Konjunktur: Spekulation wird mit systematischem Denken – vor allem dem Hegelschen – gleichgesetzt und radikal kritisiert. Im 20. Jh. verliert der Begriff an Bedeutung; mit der Konzentration der Philosophie auf die Probleme der Sprache finden sich nur noch vereinzelt Versuche, philosophisches Denken mit dem Begriff Spekulation zu explizieren“ (Ritter et al. 2007, Bd. 9, S. 1356).
Gedanken
- Es bleibt unklar, weshalb Spekulation mit systematischem Denken gleichgesetzt werden kann.
- Der Begriff des spekulativen Denkens bei Hegel enthält die Unmöglichkeit gegensätzlichen Momente unter Verwendung der formalen Logik sprachlich darzustellen. Damit ergibt sich, dass die Sprachphilosophie mit diesem Terminus nichts anfangen kann.
- Insgesamt lässt sich aber sagen, dass der Terminus „Spekulation“ im philosophischen Sprachgebrauch nur noch von historischer Bedeutung ist und deshalb in aktuellen Publikationen nicht verwendet werden sollte.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Die Bezeichnungen „spekulatives Denken“ und Spekulation sind im hohen Maße missverständlich. Hegel hat mit diesen Formulierungen seiner Sache keinen guten Dienst erwiesen. Auch die Unterscheidung von Verstand und Vernunft bei Hegel trägt nicht zur Verständlichkeit bei. Die Begriffe „Dialektik“ und „Spekulation“ gehören bei Hegel eng zusammen und werden von ihm beide zur Charakterisierung der Vernunft verwendet. Der Begriff „Dialektik“ ist in der heutigen Zeit sehr unterschiedlich belegt und Gegenstand zahlloser Publikationen. Hegel versteht darunter in eingeschränkter Weise nur das Moment der dialektischen Aufhebung.
Die mit diesen Termini verbunden Gedanken von Hegel halte ich aber für grundlegend. Um sie zu bewahren und in die aktuelle Diskussion einzubringen, sind andere Bezeichnungen erforderlich, die ohne die Wörter spekulativ, Spekulation, Dialektik, Verstand und Vernunft auskommen.
Anstelle von „spekulativem Denken“ kann vom „Denken in Gegensätzen“ gesprochen werden, das sich in folgender Weise explizieren lässt:
- Voraussetzung für ein Denken in Gegensätzen ist die Bestimmung der gegensätzlichen Momente eines Objektes. Jedes der Momente enthält dabei auch das andere in sich.
- Inhalt des Denkens in Gegensätzen ist das Objekt als Einheit der gegensätzlichen Momente.
- Zum Inhalt des Denkens gehören die Bestimmung der wechselseitigen Beziehungen der Momente und Überlegungen zu Veränderungen des Objektes, die sich aus dem Wirken der gegensätzlichen Momente ergeben.
Das Denken in Gegensätzen soll an drei Beispielen erläutert werden.
Ein erstes Beispiel ist das Denken in Gegensätzen selbst. Eine Analyse dieses Objektes führt zu folgenden Ergebnissen.
Die beiden gegensätzlichen Momente dieses Denkens sind das Denken als mentaler Vorgang bei einem Menschen und die mündliche oder schriftliche Darstellung des Denkens im Rahmen einer Theorie, die als Denkmethode bezeichnet werden kann. Die Gegensätze sind also ein mentaler Vorgang und seine Entäußerung. Wenn ein Mensch in Gegensätzen denkt, orientiert er sich bewusst oder unbewusst an der Methode des Denkens in Gegensätzen. Die Entäußerung des Denkens enthält in sich als Gegenstand das Denken als mentaler Vorgang.
Das Denken in Gegensätzen muss als Einheit der beiden Momente erfasst werden. Eine Beschränkung etwa auf die Darstellung im Rahmen einer Theorie von Denkmethoden erfasst nicht das Wesen des Denkens als Ganzes.
Die tatsächlichen Denkverläufe eines Menschen beeinflussen die von ihm vorgenommene Entäußerung, die Grundlage für intersubjektive Verständigungen ist. Dabei ist das Problem zu beachten, auf das Hegel mehrfach hinweist, dass die mentalen Vorgänge nur schwer in ihrer Komplexität in Worte zu fassen sind. Eine schriftliche Beschreibung des Denkens in Gegensätzen beeinflusst das entsprechende Denken eines Menschen, wenn er sich mit dieser Beschreibung auseinandersetzt. Die wechselseitigen Beziehungen der beiden Momente führen zu einer Qualifizierung des Denkens und seiner Beschreibung.
Als zweites Beispiel werden gegensätzliche Momente eines mathematischen Begriffs betrachtet, insbesondere für den Begriff der Variablen. Eine ausführliche Diskussion dieses Beispiels ist in dem Text „Die spekulative Methode von Hegel und das Lernen von Mathematik“ enthalten.
Das Objekt ist in diesem Fall ein mathematischer Begriff, speziell der Begriff der Variablen. Die gegensätzlichen Momente sind die formalen und nichtformalen Momente.
Zu den formalen Momenten des Variablenbegriffs gehört, dass es verschiedene Möglichkeiten zur Bezeichnung von Variablen gibt, wie kleine oder große Buchstaben, indizierte Buchstaben oder Aneinanderreihungen von Buchstaben. Eine Variable kann in vielen Fällen durch Elemente eines Grundbereiches belegt werden. Mit Variablen für Zahlen kann nach bestimmten formalen Regeln gerechnet werden. Das Besondere an dem mathematischen Begriff der Variablen ist, dass er nicht mithilfe anderer Begriffe definiert werden kann. Die in der Regel mögliche Definition eines mathematischen Begriffs gehört zu seinen formalen Momenten.
Nichtformale Momente sind, dass nicht jeder Buchstabe in einem mathematischen Ausdruck eine Variable ist, derselbe Buchstabe auch verschiedene mathematische Objekte bezeichnen kann, mit einer Variablen in unterschiedlicher Weise eine feste Zahl, eine feste aber unbekannte Zahl oder eine beliebige Zahl bezeichnet werden kann und dass sich eine Variable ändern kann. Die nichtformalen Momente sind kein expliziter Gegenstand der Mathematik, da sie sich nicht formalisieren lassen.
Dieser Gegensatz existiert auf zwei verschiedenen Ebenen, dem Denken eines Menschen, der Mathematik lernt bzw. seine mathematischen Kenntnisse anwendet und auf der anderen Seite dem Denken eines Wissenschaftlers, der diese Denkvorgänge analysiert und die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Arbeit in Publikationen entäußert.
Für einen Lernenden oder Anwender algebraischen Wissens und Könnens beeinflusst die Ausprägung des Gegensatzes in hohem Maße den Grad der Beherrschung des Wissens und Könnens. Im Denken des betreffenden Menschen müssen diese gegensätzlichen Momente in Lernprozessen ausgebildet bzw. angewendet werden. Beim Arbeiten mit Variablen auf der formalen Ebene, etwa beim Umformen von Termen, wirken die nichtformalen Momente im Hintergrund des Denkens teilweise unbewusst. Sie sorgen u. a. für ein Gefühl von Verständnis und Vertrautsein mit einer mathematischen Variablen als formalem Objekt. Die formalen Momente enthalten also die nichtformalen in sich. Auch die nicht formalen Momente enthalten die formalen, da im Denken an nichtformale Momente auch Variable als formale Objekte enthalten sind, etwa wenn an die Veränderung einer Variablen x gedacht wird.
Die schulischen Lernprozesse im Umgang mit Variablen erstrecken sich über die gesamte Schulzeit und verlaufen in verschiedenen Phasen. Jede Phase ist durch ein bestimmtes Verhältnis der formalen und nichtformalen Momente im Arbeiten mit Variablen charakterisiert. Die Gestaltung dieser wechselseitigen Beziehung ist ein bisher weitgehend ungelöstes didaktisches Problem.
Die vielen Probleme, die es auch bei Erwachsenen in Bezug auf ihr algebraisches Wissen und Können gibt, beruht zum großen Teil auf der mangelnden Ausbildung der nichtformalen Momente. Dies betrifft auch die weiteren algebraischen Grundbegriffe Term und Gleichung.
Ein Wissenschaftler, der über den Gegensatz von formalen und nichtformalen Momenten des Variablenbegriffs und seiner Entwicklung im Denken von Menschen forscht, hat zwei mögliche Zugänge zu diesem Problem. Er kann zum einen das Auftreten und die Eigenschaften von Variablen in der Mathematik und ihren Anwendungen untersuchen und bei diesen Reflexionen die Momente bestimmen. Zum anderen kann er das Denken von Menschen in Bezug auf die vorhandenen gegensätzlichen Momente analysieren. Erst bei diesem zweiten Zugang gelangt er zu den entscheidenden Erkenntnissen über die wechselseitige Beziehung der gegensätzlichen Momente. Diese Erkenntnisse sind dann Grundlage für empirische Untersuchungen zur Gestaltung der betreffenden Lernprozesse. Die Entäußerungen seiner Gedanken und Forschungsergebnisse sind Gegenstand von wissenschaftlichen Publikationen.
Das Objekt des dritten Beispiels ist die Beziehung von zwei Menschen, die sich nahe stehen. Dabei kann es sich um zwei Bekannte, zwei Freunde, um die Partner in einer Lebensgemeinschaft bzw. einer Ehe oder um ein Kind und seine Eltern handeln. Für den Fall einer ehelichen Gemeinschaft wird die Beziehung in dem Text „Alleinsein und Zusammensein mit anderen Menschen“ ausführlicher diskutiert.
Ein Merkmal dieser Beziehungen der Gegensatz von Zusammensein und Nichtzusammensein der betreffenden Menschen. Beides sind Prozesse, die sich ausschließen. Zusammensein bedeutet, dass beide Partner räumlich beieinander sind, miteinander sprechen oder andere direkte Kontakte miteinander haben. Auch bei einer räumlichen Trennung können sie zusammen sein, indem die Kommunikation über telefonische oder elektronische Medien erfolgt. Nichtzusammensein heißt, dass beide Partner räumlich getrennt voneinander sind oder dass sich einer bei Anwesenheit des anderen völlig in sich zurückzieht.
Zusammensein und Nichtzusammensein beinhalten sich gegenseitig. Im Prozess des Zusammenseins existieren Gedanken an ein gewünschtes oder notwendiges Alleinsein der Partner und im Prozess des Nichtzusammensein der Menschen entsteht der Gedanke und der Wunsch nach dem Zusammensein mit dem anderen Menschen.
Die Gestaltung dieses Verhältnisses ist ein Faktor der Qualität der Beziehungen. In einer guten Beziehung sollte es ein ausgewogenes und bewusst gestaltetes Verhältnis zwischen Nichtzusammensein und Zusammensein geben.
In einer Beziehung zwischen Eltern und Kindern entwickelt sich dieses Verhältnis, wenn die Kinder selbstständiger werden. Das Erleben des Zusammenseins beeinflusst die Gedanken und Gefühle der Eltern und Kinder im Prozess des Nichtzusammenseins.
Auch in diesem Fall kann unterschieden werden zwischen den mentalen Prozessen, die bei den Beteiligten in den Phasen des Zusammenseins und Nichtzusammenseins ablaufen und den mentalen Prozessen und ihren Entäußerungen bei Forschern, die sich mit diesen Beziehungen beschäftigen.
Literaturverzeichnis
Cobben, Paul (Hg.) (2006): Hegel-Lexikon. Darmstadt: Wiss. Buchges.
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Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried; Gabriel, Gottfried (Hg.) (2007): Historisches Wörterbuch der Philosophie. 13 Bände. Basel: Schwabe.