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Hans-Dieter Sill, Güstrow

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Die spekulative Methode von Hegel und das Lernen von Mathematik – Allgemeines und Einzelnes am Beispiel des Variablen- und des Wahrscheinlichkeitsbegriffs[1]

Vorbemerkungen

Dass ich als Mathematikdidaktiker einen philosophisch basierten Beitrag verfasse, hat zwei Gründe. Bereits in den siebziger Jahren bin ich mit dem Buch von Karl-Friedrich Wessel, Pädagogik in Philosophie und Praxis, das damals bei den Pädagogen in der DDR verpönt war, philosophischen Betrachtungen begegnet, die mich faszinierten und meine wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiet der Didaktik des Mathematikunterrichts wesentlich beeinflussten. Ich habe mit dieser Erkenntnismethode einen eigenen Zugang zu Grundfragen des Lernens von Mathematik entwickelt. Wesentliche Ergebnisse sind in meinem Lehrbuch „Grundkurs Mathematikdidaktik“ (Sill 2019) enthalten sowie auch in einer Lehrbuchreihe zum Mathematikunterricht, die ich herausgegeben habe. Ich konnte Probleme einer stochastischen Bildung, insbesondere zum Begriff der Wahrscheinlichkeit und des Zufalls, in neuer Weise bearbeiten. Ein Ergebnis ist die Konzeption eines propädeutischen Zugangs zum Begriff der Wahrscheinlichkeit in der Primarstufe, die wir empirisch erprobt haben und die auch schon Eingang in Schulbuchwerke gefunden hat. Diese Ergebnisse sind Lehrbüchern zur Didaktik des Stochastikunterrichts in der Sekundarstufe I und in der Primarstufe enthalten (Krüger et al. 2015; Sill und Kurtzmann 2019).

Der zweite Grund ist, dass ich im Ruhestand Zeit und Muße gefunden habe, mich gründlicher mit philosophischen Arbeiten und insbesondere auch mit Hegel zu beschäftigen.

In diesem Beitrag (veröffentlicht bei Leibniz Online (Sill 2022)) möchte ich aus philosophischer Sicht grundlegende Probleme der Lehre von Mathematik insbesondere an Universitäten und Hochschulen diskutieren, die aus meiner Sicht Ursachen für die Probleme von Studierenden mit mathematischen Lehrveranstaltungen sind. Die für das Beispiel der Mathematik vorgebrachten Probleme und ihre Lösungen sind für viele Fachdisziplinen relevant. Der Beitrag richtet sich damit an alle Hochschullehrkräfte und insbesondere an die Kolleginnen und Kollegen aus den Fachdidaktiken, die für die wissenschaftliche Fundierung der Lehr- und Lernprozesse auch an Universitäten und Hochschulen zuständig sind.

Literatur zu Hegel

Zum Einstieg in die Hegel-Lektüre las ich zuerst das Buch von Sahra Wagenknecht (1997) Vom Kopf auf die Füße In dem Buch weist sie aus meiner Sicht überzeugend nach, dass die Einschätzung des jungen Marx zu Hegel in seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten, die auch in der DDR-Philosophie übernommen wurde, den Intentionen von Hegel nicht gerecht wird und Marx sich im reifen Alter zudem davon abwendete. Im Unterschied zu ihrem letzten Buch Die Selbstgerechten, dessen Aussagen ich weit weniger zustimmen kann, fand dieses Buch so gut wie keine Beachtung, weder in der medialen noch in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Nach Google Scholar wurde es bisher nur zweimal zitiert, in einem Buch von Hubertus Knabe und in der jüngsten Publikation der Rosa Luxemburg Stiftung Auf den Schultern von Marx, allerdings ohne weiter darauf einzugehen. Als zweites Buch las ich Hegel für Anfänger von Ralf Ludwig, ebenfalls aus dem Jahre 1997. Es ist seitdem in 11. Auflage erschienen und steht in der Bestsellerliste von Amazon bei den Büchern zu Hegel auf dem ersten Platz. In den vielen wissenschaftlichen Publikationen zu Hegel, die ich danach gelesen habe, wird das Buch von Ralf Ludwig nicht erwähnt.

Viele Einsichten in das Denken von Hegel, die mir beide Bücher in meist verständlicher Weise vermittelt haben, haben sich auch nach dem Studium weiterer wissenschaftlicher Werke als zutreffend erwiesen.

Parallel zu beiden Büchern las ich das Buch von Hegel „Die Phänomenologie des Geistes“ (Hegel 2006). Nach nunmehr fast drei Jahren gelingt es mir schon bedeutend besser.

Die weitere Suche nach Texten von und über Hegel führte mich zu erstaunlichen Ergebnissen. Die zwanzigbändige Ausgabe seiner Werke bei Suhrkamp umfasst 10.867 Seiten, von denen Hegel aber lediglich nur 5770 Seiten verfasst hat. Er hat fünf Monographien über insgesamt 3550 Seiten veröffentlicht. Kleinere Schriften umfassen etwa 2200 Seiten von denen einige erst nach seinen Lebzeiten veröffentlicht wurden. Etwa 5000 Seiten sind Vorlesungsnachschriften auf der Grundlage von Aufzeichnungen seiner Schüler.

Diese etwa 11.000 Seiten, die auf Hegel zurückgehen, sind Grundlage einer schier unglaublichen Zahl von Tagungen und Publikationen. Alleine nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten sich in der Bundesrepublik Deutschland drei internationale Hegelgesellschaften, die regelmäßig Tagungen durchführen und Schriften publizieren. Die Gesellschaften setzen quasi die Tradition der Rechts- und Linkshegelianer fort.

Die Internationale Hegel-Gesellschaft e.V. wurde 1953 unter Teilnahme von sechs DDR-Philosophen von Wilhelm Raimund Beyer in Nürnberg gegründet und hat bisher 33 internationale Tagungen durchgeführt. Der 8. Kongress anlässlich des 200. Geburtstages von Hegel fand 1970 in Ostteil von Berlin statt. In den Reihen der Hegel-Gesellschaft (Hegel-Jahrbuch, Hegel-Jahrbuch Sonderband und Hegel Forschungen) wurden bisher insgesamt 1.466 wissenschaftliche Beiträge in Sammelbänden und 19 Monographien zur Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie und angrenzender Themen in einem Gesamtumfang von 28.698 Seiten publiziert.

Die Internationale Hegel-Vereinigung e.V. wurde 1962 von Hans-Georg Gadamer in Heidelberg gegründet. Sie hat bisher 35 Tagungen durchgeführt. Ihre beiden Publikationsreihen (Hegel-Studien und Hegel-Studien Beihefte, mit den Tagungsbänden) haben einen Gesamtumfang von 51.174 Seiten und enthalten 1.171 wissenschaftliche Beiträge sowie 48 Monographien.

Die Vortragsthemen aller 68 Tagungen der beiden Gesellschaften habe ich auf meiner Internetseite zusammengestellt, man erkennt die zahlreichen Wiederholungen.

Beiträge zur Hegel-Forschung liefern auch die Tagungen und Publikationen der in Italien gegründeten „Internationalen Vereinigung Hegel-Marx für dialektisches Denken“, in der Domenico Losurdo aktiv beteiligt war, sowie die bisherigen 9 Tagungen mit insgesamt 35 Vorträgen der 2012 gegründeten „Gesellschaft für dialektische Philosophie“, die die Ideen von Hans-Heinz-Holz weiterführt. Beide waren Mitglied der Leibniz-Sozietät, die 2007 ein Symposium zum 80. Geburtstag von Hans-Heinz-Holz durchgeführt hat.

In der DDR wurden 276 Artikel zu Hegel in der philosophischen Fachliteratur veröffentlicht. Zu Beginn der fünfziger Jahre gab es eine intensive Hegeldebatte, an der sich unter anderem Wolfgang Harich, Ernst Bloch und Georg Lukács beteiligten (Hegel-Institut Berlin e.V. 1999).

Neben diesen Publikationen der Vereine und Gesellschaften, die sich der Hegelforschung gewidmet haben, gibt es eine große Anzahl weiterer Monographien und Sammelwerke zu Hegel. In der 1991 begründete Reihe „Hegeliana“ im Verlag Peter Lang sind bisher 24 Bände mit Texten zu Hegel in einem Gesamtumfang von 5.497 Seiten erschienen.

Zu einem der Hauptwerke Hegels, der Phänomenologie des Geistes, gibt es spezielle Publikationen, die sich in kommentierender Weise mit diesem Werk befassen. Dazu gehören folgende sechs Publikationen, die einen Gesamtumfang von 5305 Seiten haben: Hans Friedrich Fulda & Dieter Henrich (1998), Ludwig Siep (2000), Klaus Vieweg & Wolfgang Welsch (2008), Andreas Arndt & Ernst Müller (2004), Pirmin Stekeler-Weithofer (2014a, 2014b) und Robert Brandom (2021).

Zum 250. Geburtstag von Hegel sind mehrere Monographien im Gesamtumfang von 2397 Seiten erschienen: Dietmar Dath & Marlon Grohn (2020), Walter Jaeschke (2020), Jürgen Kaube (2020), Sebastian Ostritsch (2020), Günter Zöller (2020) und Klaus Vieweg  (2020). Erstaunlicherweise wurde das Buch von Jürgen Kaube, dem Herausgeber der FAZ, mit dem Sachbuchpreis 2021 ausgezeichnet.

Die Summe aller bisher angegebenen Seitenzahlen beträgt 93.071. Zusammen mit den übrigen genannten Publikationen zu Hegel dürften es sicher über 100.000 sein, eine schier unglaubliche Zahl aus Sicht eines Mathematikers und auch eines Pädagogen.

Dazu kommt noch eine sehr große Anzahl von Veröffentlichungen, die nach dem Tode von Hegel im Jahre 1831 bis heute erschienen sind. In vielen Ländern gab und gibt es eine intensive Hegel-Forschung, so in Frankreich (Schneider 2007), England (Stewart, Jon (Ed.) 1996), Italien (Domenico Losurdo), USA (Robert Brandom), Japan (Kubo 2015), China (Zhang 1989) und anderen Ländern.

Mir ist kein anderer deutscher Philosoph bekannt, zu dessen Werk ist eine derart große Anzahl von Publikationen und Forschungseinrichtungen gibt. Zum zweiten großen Philosophen des deutschen Idealismus, Immanuel Kant, gibt es eine einzige deutsche Kant-Gesellschaft, die 1904 in Halle gegründet wurde. Alle fünf Jahre finden abwechselnd in Deutschland und im Ausland Kant-Kongresse statt. Die Gesellschaft gibt die Reihe „Kant-Studien“ mit jährlich vier Heften heraus, die bereits seit 1896 existiert, in diesem Jahr erschien der 112. Band. Weiterhin gibt es eine Kant-Forschungsstelle an der Universität Mainz.

Im Ergebnis meiner bisher fast dreijährigen Beschäftigung mit Schriften von und über Hegel habe ich folgende Einschätzungen und Erklärungen zu dem Hegel-Rezeptionsphänomen.

  • Hegel hat neue philosophische Ideen entwickelt, die sich von denen seiner Vorgänger grundsätzlich unterscheiden. Durch den hohen Abstraktionsgrad, eine ungewohnte, den üblichen Denkgewohnheiten oft widersprechende Betrachtungsweise, die mit einem ständigen Wechsel gegensätzlicher Gedanken verbunden ist, erfordert das Verstehen der Gedanken von Hegel eine sehr hohe Anstrengungsbereitschaft und eine große Flexibilität des Denkens.
  • Die in der Sache liegenden Probleme werden durch die Art und Weise der Darstellung erheblich verschärft. Hegel pflegt eine „verschwurbelte“ Sprache mit einem „geschraubten Stil“ und vielen „dunklen Sätzen“ (Ludwig 1997). Hegels Werk wird teilweise als „fast ungenießbar“ bezeichnet (Bonsiepen 2006, S. LX). Kenner der Besonderheiten des Schwäbischen sprechen von Schwabismen, Hegels Einfälle seien „nichts anderes sind als vertieftere Schwabismen“ (Hermann Kurz nach Ostritsch 2020, S. 26).
  • Viel gravierender als die verschwurbelte Ausdrucksweise ist aber die Tatsache, dass Hegel zahlreiche Wörter, die oft eine zentrale Bedeutung in seiner Theorie haben, in einem ganz anderen Sinne benutzt als sie üblicherweise in der Philosophie oder der Alltagssprache verwendet werden. Dazu gehören die Wörter: Begriff, Bewusstsein, Verstand, Vernunft, Geist, Herr, Knecht, Krafta.
  • Erschwerend für das Verständnis von Hegels Schriften und eine Ursache für ihre Ambiguität ist die sehr seltene Verwendung von konkreten Beispielen. Viele der wenigen Beispiele sind zudem recht trivial und verdeutlichen nicht die methodologische Kraft der Hegelschen Gedanken.
  • Diese Besonderheiten der Hegelschen Philosophie erklären aus meiner Sicht die ansonsten unverständliche Tatsache, dass es zu einer einzigen Schrift von Hegel im Umfang von 580 Seiten sechs ausführliche Kommentare namhafter Philosophen im Umfang von 5.300 Seiten gibt.
  • In den Schriften Hegels sind eine große Fülle von Ideen zu allen möglichen philosophischen, naturwissenschaftlichen, ästhetischen, politischen und religiösen Fragen enthalten. Der Hintergrund ist, dass Hegel versucht hat, ein Gesamtsystem aller Wissenschaften zu entwickeln, das auf seinen fundamentalen philosophischen Ideen beruht.
  • Fast alle Schriften über die Theorien Hegels, die ich gelesen habe, beschäftigen sich mit der Interpretation Hegelscher Schriften, mit ihrer Einordnung in die Philosophiegeschichte, mit Beziehungen zu Gedanken anderer Philosophen und Vertreter anderer Wissenschaften.

Hegel-Interpretationen

Trotz der großen Resonanz, die Arbeiten von Hegel auf nationaler und internationaler Ebene fanden und immer noch finden, gibt es auch entschiedene Gegner seiner Theorien, die sich teilweise mit drastischen Worten äußern.

Arthur Schopenhauer, der den Begriff „Hegelei“ für eine unverständliche, mystifizierende Sprache erfand, sagte: „Hegel, ein platter, geistloser, ekelhaft-widerlicher, unwissender Scharlatan, der, mit beispielloser Frechheit, Aberwitz und Unsinn zusammenschmierte, welche von seinen feilen Anhängern als unsterbliche Weisheit ausposaunt und von Dummköpfen richtig dafür genommen wurden, […] hat den intellektuellen Verderb einer ganzen gelehrten Generation zur Folge gehabt“ (nach Weischedel 1997, S. 109).

Nach Sir Karl Raimund Popper habe Hegel durch den Versuch, durch unverständliche Sprache tatsächlich fehlende inhaltliche Substanz vorzutäuschen, in der Philosophiegeschichte eine neue Epoche eingeleitet, die nicht auf Gedankenaustausch und Argumentation, sondern auf Beeindruckung und Einschüchterung ausgerichtet gewesen sei. Dieser ‚Jargon‘ habe zunächst intellektuelle und dann auch moralische Verantwortungslosigkeit nach sich gezogen (Popper 2003).

Herbert Schnädelbach, ein ausgewiesener Kenner der Hegelschen Werke, kommt zu dem Schluss, dass Hegel und der deutsche Idealismus ein „philosophisches Unglück“ wären. Sein Fazit lautet: „Vergesst Hegel!“ (Stekeler-Weithofer 2000). Er wandte sich gegen universitäre Beschäftigungen mit Hegel, solange diese nur der „Ahnenpflege“ und nicht auch der Gegenwart dienten. Nur noch der kritische Umgang mit Hegel (wie man es nicht machen solle) sei zu rechtfertigen und lehrreich (Schnädelbach 2003, S. 73).

Ein entschiedener Gegner der Hegelschen Dialektik war auch Theodor Adorno, der mit seiner „Negativen Dialektik“ als Kern seiner Kritischen Theorie ein Gegenentwurf zu Hegel entwickelt hat (Adorno 1970). Die kritische Theorie hat heute auch unter marxistischen Philosophen Verbreitung gefunden, so etwa auch am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

In der aktuellen philosophischen Landschaft findet Hegel nach meinen Eindrücken außer den Aktivitäten der Gesellschaften kaum noch statt. So gab es auf dem XXIV. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, der an der Humboldt-Universität in Berlin 2020 durchgeführt wurde, in der Rubrik „Klassische deutsche Philosophie“ 15 Vorträge, von denen sich neun im Titel auf Kant, zwei auf Hegel und einer auf Fichte bezogen. In der gleichen Kategorie auf dem diesjährigen XXV. Kongress in Nürnberg mit dem Thema „Das Wahre, Gute und Schöne“ gab es elf Vorträge, von denen fünf im Titel ein Bezug zu Kant, drei zu Fichte und nur einer zu Hegel hatte. Von den 15 Kolloquien gab es zwei, bei denen in den allgemeinen Beschreibungen ein Bezug zu Kant hergestellt wurde, der Name Hegel trat nicht auf.

Nach meinen Informationen, die ich über die Philosophieausbildung in Magdeburg und Rostock habe, wird die Hegelsche Philosophie in der Ausbildung nicht oder nur am Rande erwähnt.

Die geringe Präsenz Hegels in der heutigen Zeit hat aus meiner Sicht u. a. folgende Gründe:

  1. Weder Hegel noch seinen Interpreten ist es gelungen, sich einem großen Kreis von Philosophen und Wissenschaftlern anderer Fächer verständlich zu machen. Ein Hauptgrund ist die Verwendung missverständlicher Wörter und Wendungen.

Als ein Beispiel für die missverständliche Verwendung von Wörtern möchte ich kurz auf die Bedeutungen der Wörter spekulativ und Spekulation bei Hegel eingehen, die dann in den Wortkombinationen spekulativer Begriff und spekulative Methode eine Rolle spielen und auch im Thema meines Vortrages vorkommen. In der Alltagssprache wird Spekulation einerseits in dem Sinne aufgefasst, dass Behauptungen gemacht werden, die auf Mutmaßungen beruhen und andererseits, wenn es um Aussagen geht, die sich erst in der Zukunft als falsch oder richtig erweisen können. In der Philosophie ist üblicherweise Spekulation eine Denkweise zum Erlangen von Erkenntnissen, indem man über die herkömmliche empirische oder praktische Erfahrung hinausgeht. So sagt Kant: „Eine theoretische Erkenntniß ist speculativ, wenn sie auf einen Gegenstand oder solche Begriffe von einem Gegenstande geht, wozu man in keiner Erfahrung gelangen kann. Sie wird der Naturerkenntniß entgegengesetzt, welche auf keine andere Gegenstände oder Prädicate derselben geht, als die in einer möglichen Erfahrung gegeben werden können“ (Kant 2021, S. 443).

Dagegen sagt Hegel: „Spekulativ denken heißt, ein Wirkliches auflösen und dieses in sich so entgegensetzen, daß die Unterschiede nach Denkbestimmungen entgegengesetzt sind und der Gegenstand als Einheit beider aufgefasst wird“ (Hegel 1970, Bd. 16, S. 30). Er schreibt weiter: „In diesem Dialektischen, […], und damit in dem Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit oder des Positiven im Negativen besteht das Spekulative. Es ist die wichtigste, aber für die noch ungeübte, unfreie Denkkraft schwerste Seite“ der Dialektik (Hegel 1970, Bd. 5, S. 52).

Die von Hegel so bezeichnete spekulative Methode besteht also darin, etwas Existierendes als Einheit gegensätzlicher Momente aufzufassen. In Bezug auf einen Erkenntnisgegenstand geht es um das „Sicherkennen im Anderssein“. Diese Methode wendet Hegel auf den Prozess der Begriffsbildung an. Ein Begriff ist bei Hegel im Unterschied zur üblichen Bedeutung dieses Wortes in der formalen Logik nicht einfach eine Abstraktion, eine Klasse von Objekten, sondern die Einheit entgegengesetzter Momente; er bezeichnet dies als den „spekulativen Begriff“.

Es ist erkennbar, dass die Bedeutung von Hegels Begriff der Spekulation mit der alltagssprachlichen Bedeutung fast keine Gemeinsamkeiten hat, dass man aber auch das Gemeinte ohne die Worte Spekulation, spekulative Methode oder spekulativer Begriff ausdrücken kann. Dies trifft nach meiner Einschätzung auch für die meisten der anderen missverständlichen Termini bei Hegel zu. Ich habe in der bisher gesichteten Literatur noch kein Versuch gefunden, das Vokabular von Hegel in eine allgemeinverständliche Form zu übertragen und seine grundlegenden Erkenntnisse in dieser Form darzustellen. Auch im Hegel-Lexikon (Cobben 2006) wird dies nicht geleistet.

  1. Es ist Hegel und seinen Interpreten weiterhin nicht gelungen, die Anwendbarkeit der entwickelten Theorien in anderen Wissenschaften zur Lösung zentraler Probleme überzeugend nachzuweisen. Dies wird auch dadurch behindert, dass sich Hegel bei seinen Äußerungen zu anderen Wissenschaften oft geirrt hat. Dazu gehören gravierende physikalische Fehler in seiner Habilitationsschrift zu Gesetzen der Planetenbewegung, die Ablehnung der zeitgenössischen Evolutionstheorie oder seine ablehnende Haltung zur empirischen Forschung in den Naturwissenschaften.

Um zu untersuchen, ob und wie die Hegelschen Theorien auf Probleme anderer Wissenschaften angewendet werden, habe ich sämtliche Vortragsthemen auf den Tagungen der Hegel-Vereinigung untersucht. Auf den ersten 34 Hegel-Tagungen wurden insgesamt 745 Vorträge gehalten. Ich habe darunter 32 Vorträge gefunden (4,3 %), bei denen im Thema einen Bezug zu Wissenschaften wie der Mathematik, den Naturwissenschaften, der Wissenschaftstheorie, der Geschichtsphilosophie, der Kunstphilosophie, der politischen Philosophie oder der Sozialphilosophie hergestellt wurde. Auf die Erfassung von Bezügen zu Religionswissenschaften habe ich verzichtet. Beim Studium der Beiträge zu neun Vorträgen zu Naturwissenschaften und der Mathematik habe ich festgestellt, dass es im Wesentlichen um eine kritische Darstellung von Hegels Auffassungen zu Problemen der betreffenden Wissenschaften ging. Dabei wurden dann insbesondere die fachlichen Fehler herausgestellt. Eine Anwendung etwa der spekulativen Methode wird nicht diskutiert. Auf die Beiträge zu Mathematik gehe ich noch näher ein.

Als unvoreingenommener und anwendungsorientierter Betrachter der Szene sehe ich die Hegelforschung noch vor der Aufgabe, eine Aufhebung der Hegelschen Philosophie im Hegelschen Sinne vorzunehmen, d. h. seine wesentlichen Gedanken zu bewahren, mit verständlichen Begriffen in einer neuen Form darzustellen und vor allem die Anwendbarkeit der Theorien in verschiedenen Wissenschaftsbereichen zu untersuchen. Eine wesentliche, schon erfüllte Voraussetzung ist die minutiöse Auseinandersetzung mit den Hegelschen Gedanken. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Art des Verständnisses der Hegelschen Texte von den eigenen grundlegenden Auffassungen abhängt. Auslöser der Zersplitterung der Hegel-Forscher in die Hegelschulen der Rechts- und Linkshegelianer im 19. Jahrhundert, die auch heute noch erkennbar ist, war die Frage: Wie hielt es Hegel mit der Religion? (Ludwig 1997, S. 190). 

Der Gegensatz von Innerem und Äußerem bei der Aneignung von Wissen

Im Folgenden soll dargestellt werden, wie mit der spekulativen Methode von Hegel grundlegende Probleme des Lehrens und Lernens am Beispiel der Mathematik insbesondere an Hochschulen und Universitäten erfasst und bearbeitet werden können.

Bekannterweise stellen mathematische Lehrveranstaltungen seit Generationen für die Mehrzahl der Studierenden sowohl im Lehrerstudium als auch im Mathematikstudium und in den mathematischen Veranstaltungen für Mediziner oder Psychologen eine kaum zu bewältigende Hürde dar. Ich möchte auf zwei grundlegende Probleme und die damit verbundenen Grenzen des Denkens bei vielen Lehrenden eingehen. Das erste Problem ist der Gegensatz von Innerem und Äußerem.

Wissen, insbesondere wissenschaftliche Begriffe und Theorien entstehen im Kopf eines Menschen im Ergebnis seiner Erfahrungs- und Erkenntnisprozesse. Es handelt sich also zunächst um mentale Objekte, wie Gedanken, Wörter im mentalen Lexikon, Vorstellungen oder Überzeugungen. Wörter sind also zum einen bestimmte Zustände bzw. Strukturen im menschlichen Gehirn. Diese mentalen Repräsentationen unterscheiden sich von Mensch zu Mensch mehr oder weniger deutlich.

In dem Augenblick, in dem ein Wort von einem Menschen ausgesprochen bzw. schriftlich fixiert wird, ändert sich der ontologische Charakter des Wortes. Es ist nicht mehr Element des Mentalen, sondern es ist ein nichtmentales Objekt geworden. Gesprochene und geschriebene Worte sind Bestandteil der Realität und können Gegenstand von Prozessen der Informationsverarbeitung bzw. Erkenntnisgewinnung sein. Man kann sie als „entäußertes Mentales“ bezeichnen.

Das entäußerte Mentale ist analog zum Begriff der Information eine Form des Nichtmentalen. Es ist zwar nicht gegenständlich im physikalischen Sinne, aber an gegenständliche Objekte als seine Träger gebunden. Mögliche Träger sind Schallwellen, Papier, elektronische Medien sowie Musik, Bilder oder Skulpturen von Künstlern. Es muss zwischen dem entäußerten Mentalen an sich und seinem gegenständlichen Träger unterschieden werden. So sind die gedruckten Buchstaben in einem Text nur der Träger der mit diesen Buchstaben ausgedrückten Gedanken. Ein Kunstwerk wie ein Musikstück, ein Bild oder eine Skulptur sind Träger der Vorstellungen, Gedanken oder Gefühle des Künstlers, der sie produziert hat. Ohne die darin ausgedrückten Gefühle und Gedanken wäre Musik nur Schallwellen, ein Bild wäre eine Leinwand mit Farben und eine Skulptur etwa ein Stück Bronze oder Holz.

Diese Überlegungen lassen sich in analoger Weise auf die Termini Begriff, Satz u. a. übertragen. Für den Terminus Theorie ergibt sich, dass Theorie einmal ein System von Gedanken und Vorstellungen im Kopf eines Menschen bezeichnet, zum Beispiel die philosophischen Vorstellungen im Kopf von Hegel, und zum anderen schriftliche oder mündliche Darstellungen der Theorie, zum Beispiel die Darstellung der theoretischen Vorstellungen von Hegel in seinen Büchern oder Vorlesungen.

Ein besonderes Problem der Kommunikation über diese Probleme besteht darin, dass es für die genannten Termini als mentale oder nichtmentale Objekte keine speziellen Bezeichnungen gibt.

Eine Ausnahme bildet die Verwendung der Termini Kenntnisse und Wissen in der pädagogischen Psychologie in der DDR. Unter Erkenntnissen wurden „individuelle Abbilder von Dingen Eigenschaften, Vorgängen oder Relationen der objektiven Realität“, also mentale Objekte verstanden, die „in Form von Vorstellungen, Begriffen, Urteilen im Gedächtnis gespeichert werden“ (Kossakowski et al. 1977, S. 139). Diese werden von „dem Wissen als einer Form des gesellschaftlichen Bewusstseins unterschieden“, also einem nichtmentalen Objekt, wobei allerdings darauf hingewiesen wird, dass „im pädagogischen und allgemeinen Sprachgebrauch die Termini Wissen und Kenntnis meistens synonym verwendet“ werden (Kossakowski et al. 1977, S. 152). Dies ist auch heute der Fall.

Bei einem Lernvorgang handelt es sich um den umgekehrten Prozess. Ein entäußertes Mentales in Form von Worten oder Texten muss durch den Lernenden verinnerlicht, also zum Bestandteil seiner mentalen Zustände werden. Um den Prozess der Verinnerlichung fundiert und zielgerichtet zu planen und durchzuführen, muss das im Lernenden vorhandene System der mentalen Zustände, also zum Beispiel das vorhandene System von Wörtern und ihren intendierten Bedeutungen bekannt sein. Weiterhin müssen die Gesetzmäßigkeiten bekannt sein, nach denen neue mentale Zustände gebildet bzw. alte verändert werden.

Bei einer Mathematikvorlesung muss man also als Lehrender zwei gegensätzliche Dinge im Blick haben: die als entäußertes Mentales vorliegende mathematische Theorie und ihre strukturierte, exakte Darstellung auf der einen Seite und das vorhandene System der mathematischen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Studierenden als mentale Objekte auf der anderen Seite. Dieser gedoppelte Blick, der für eine Lehrkraft an einer Schule zumindest bis Klasse 10 selbstverständlich ist, bereitet nach meinen langjährigen Erfahrungen Lehrenden an der Universität fast unüberwindliche Probleme. Mir ist es trotz vieler Gespräche und Bemühungen nicht gelungen, meine Kollegen Mathematikprofessoren davon zu überzeugen, dass Hochschuldidaktik mehr ist als die didaktisch geschickte Aufbereitung des Stoffes und dass sie damit beginnen, die engen Grenzen der stofforientierten Sichtweise zu überwinden.

Abb. 1: Schematische Darstellung des gedoppelten Blicks, Grafik aus ©www.ClipartsFree.de

Ein typisches Beispiel sind die Auffassungen zur Rolle von Beweisen in einer Mathematikvorlesung. Hochschullehrer sehen die Beweise ausschließlich unter dem Aspekt ihrer mathematischen Notwendigkeit für eine geschlossene Darstellung der Theorie. Neben wissenschaftstheoretischen Einsichten in die Rolle von Beweisen in der Mathematik, die auch an wenigen instruktiven Beispielen vermittelt werden könnten, geht es aber vielmehr um die Ausbildung der Fähigkeiten im Beweisen bei den Studierenden.

Das Sicherkennen im Anderssein wäre für beide Seiten eine wesentliche Bereicherung. Wenn ein Hochschullehrer sich ernsthaft darüber Gedanken macht und auch erkundet, was im Ergebnis seiner Vorlesung beim Studierenden im Kopf neu vorhanden ist oder verändert wurde, kommt er zu tieferen Einsichten in die Art und Weise, die Vorlesung zu halten. Wenn in diesem wechselseitigen Prozess des Sicherkennens ein Studierender die Möglichkeit hat, seine ausgebildeten mentalen Strukturen mit denen seines Professors zu vergleichen, käme auch er zu neuen Einsichten.

Das Problem der heute dominierenden einseitigen Sicht auf das Lernen zeigt sich besonders deutlich bei den Diskussionen zum Verhältnis von Schulmathematik und akademischer Mathematik in der Ausbildung von Mathematiklehrkräften. Es wird von vielen Mathematikern vehement die Auffassung vertreten, dass es nicht Aufgabe der Universität sei, Elemente der Schulmathematik in die Lehre aufzunehmen. Die Beschäftigung mit der akademischen Mathematik würde die Lehramtskandidaten automatisch befähigen, die Schulmathematik zu beherrschen. Von dem amerikanischen Mathematiker Hung-Hsi Wu, der zahlreiche Schriften zum Mathematikunterricht und zur Mathematiklehrerausbildung verfasst hat, wurde für diese Auffassung der Begriff „Durchsickerungstheorie“ (trickledown theory) eingeführt (Wu 2015). Hoth et al. (2020) haben eine groß angelegte empirische Untersuchung in Form einer Längsschnittstudie im ersten und dritten Semester an 20 Hochschulen in Deutschland durchgeführt. Ziel war zu untersuchen, wie sich das akademische Fachwissen und das schulbezogene Fachwissen von Mathematikstudierenden für das Lehramt der Sekundarstufe im ersten Studienjahr entwickelt und welchen Effekt das akademische Fachwissen auf die Entwicklung des schulbezogenen Fachwissens im ersten Studienjahr hat. Die Ergebnisse zeigten, dass es keine signifikanten Veränderungen im schulbezogenen Fachwissen gab und, dass keine signifikanten Zusammenhänge zwischen diesen beiden Wissensbereichen nachgewiesen werden konnten. Die Autoren der Studie zogen daraus die Schlussfolgerung, dass die „Durchsickerungstheorie“ empirisch widerlegt ist und man zusätzliche gezielte Veranstaltungen zu Zusammenhängen zwischen akademischer Mathematik und Schulmathematik anbieten sollte.

Die Einheit von formalen und nichtformalen Momenten mathematischer Begriffe

Generelle Bemerkungen

Das zweite Problem ist eng mit dem ersten verbunden. Es geht um die Frage, welche Art von Mathematik im Kopf eines Mathematikers vorhanden ist und demzufolge dargestellt wird. Dies betrifft im Sinne Hegels das Wesen mathematischer Begriffe, Zusammenhänge und Verfahren als Einheit formaler und nichtformaler Momente. Meine These ist, beginnend in der gymnasialen Oberstufe und teilweise schon früher ist der Gegenstand mathematischer Unterrichts- und Lehrveranstaltungen nicht mehr die „wahre“ Mathematik und dies ist eine Hauptursache für die Probleme der Lernenden mit diesen Veranstaltungen. Hauptinhalt dieser Lernprozesse sind die formalen Momente. Die gegenwärtigen, teilweise enormen Anstrengungen an den Universitäten und Hochschulen über Brückenkurse, Tutorien und andere Maßnahmen den Studierenden bei der Bewältigung der universitären Anforderung zu helfen, führen aus meiner Sicht zu keinen nachhaltigen Ergebnissen, solange nicht das genannte Grundproblem in Angriff genommen wird. Die zu überwinden geistigen Hürden bei vielen Mathematikern[2] sind aber noch größer als bei der Orientierung auf das Innere eines Lernenden.

In meinen bisherigen Texten habe ich, wie es auch ansonsten in der Mathematikdidaktik üblich ist, anstelle von „Momenten“ von „Aspekten“ eines Begriffs gesprochen. Der Terminus „Moment“ scheint mir aber jetzt treffender als der Terminus „Aspekt“ zu sein, da es nicht um Betrachtungsweisen, sondern um tatsächliche Eigenschaften des Begriffs geht. Anstelle von „nichtformal“ habe ich bisher die Bezeichnung „inhaltlich“ verwendet. Jetzt sehe ich das Problem, dass der Terminus „inhaltlich“ mit dem Inhalt bzw. der Intension eines Begriffs verbunden werden könnte, was natürlich nicht gemeint ist. Zum Inhalt eines Begriffs gehören sowohl die nichtformalen als auch die formalen Momente. Weiterhin wird durch die Bezeichnungen „formal“ und „nichtformal“ das Gegensätzliche der Momente betont. Da von den Studierenden und Lehrkräften in meinen Veranstaltungen der Terminus „inhaltlich“ in dem von mir intendierten Sinne verstanden wurde, sehe ich keine Notwendigkeit, die Termini in den Texten zu ändern.

Hegel studierte auch Mathematik, hielt Mathematikvorlesungen an der Universität Jena und gab Mathematikunterricht an einem Gymnasium in Nürnberg. Als „der wohl beste Philosoph der Mathematik vor Frege und Wittgenstein“ (Stekeler-Weithofer 2018, S. 48) äußerte er sich in seinen Schriften, insbesondere in der 2. Auflage der Wissenschaft der Logik I oft zu Fragen mathematischer Begriffsbildung. Dabei kritisierte er den formellen Gebrauch von Kategorien und den Formalismus der Mathematik (Wolff 1986, S. 255). Er betonte die Einheit quantitativer und qualitativer Momente mathematischer Begriffe. So charakterisierte er die Stetigkeitsdefinition von Cauchy als eine leere Kategorie, da sie über das Gesetz der Kontinuität nichts ausdrücke (Hegel 1970, Bd. 5, S. 315). Cauchy hat die Stetigkeit von Funktionen über den Grenzwert von Funktionswerten an eine Stelle als eine lokale Eigenschaft definiert. Diese neuartige Definition war ein mathematisch bedeutender Fortschritt gegenüber der bisherigen Erklärung einer stetigen Funktion nach Euler, nach der eine Funktion stetig ist, wenn sie durch eine einzige analytische Gleichung ausgedrückt werden kann. Mit der neuen Begriffsbildung wurde ein höherer Grad der Formalisierung und Allgemeinheit erreicht, der dann durch die anschließende ε-δ-Definition von Weierstraß seine heutige Form erhielt. Der qualitative Gedanke der Kontinuität, an dem Hegel gelegen war, lässt sich nicht durch die Definition von Cauchy erfassen. Um die Betrachtung infinitesimaler Größen und Größenverhältnisse zu vermeiden, plädierte er für eine Definition der Ableitung durch stetige Ergänzung der Funktion der Differenzenquotienten Fx(h)/h = (f (x + h) − f (x))/h an der zunächst nicht definierten Stelle h = 0 (Stekeler-Weithofer 2018).

Hegel äußert den Gedanken einer philosophischen Mathematik, „welche dasjenige aus Begriffen erkennte, was die gewöhnliche mathematische Wissenschaft aus vorausgesetzten Bestimmungen nach der Methode des Verstandes ableitet“ (Hegel 1970, Bd. 9, S. 52). Bezogen auf das Beispiel der Geometrie und Arithmetik hält er es für „eine überflüssige und undankbare Mühe […], für den Ausdruck der Gedanken ein solches widerspenstiges und inadäquates Medium, als Raumfiguren und Zahlen sind, gebrauchen zu wollen“ (Hegel 1970, Bd. 9, S. 53). Die Probleme könnten aus seiner Sicht allein durch eine Erklärung behoben werden. „Der wesentliche Ausdruck des Gedankens ist alsdann diese Erklärung, und jenes Symbolisieren ein gehaltsloser Überfluss“ (Hegel 1970, Bd. 9, S. 54). Er stellt weiter fest: „Andere mathematische Bestimmungen, wie das Unendliche, Verhältnisse derselben, das Unendlichkleine, Faktoren, Potenzen usf., haben ihre wahrhaften Begriffe in der Philosophie selbst; es ist ungeschickt, sie für diese aus der Mathematik herzunehmen und entlehnen zu wollen, wo sie begriffslos ja so oft sinnlos aufgenommen werden und ihre Berichtigung und Bedeutung vielmehr von der Philosophie zu erwarten haben. Es ist nur die Trägheit, die, um sich das Denken und die Begriffsbestimmung zu ersparen, ihre Zuflucht zu Formeln, die nicht einmal ein unmittelbarer Gedanken Ausdruck sind, und zu deren schon fertigen Schematen nimmt“ (Hegel 1970, Bd. 9, S. 54).

Hegel plädiert mit seinen Worten für eine Differenzierung zwischen den quantitativen und qualitativen, also allgemein zwischen formalen und nichtformalen Momenten mathematischer Begriffe. Es ist allerdings nicht Aufgabe der Philosophen, dies zu leisten, da man in der Regel nicht voraussetzen kann, dass sie mathematische Experten sind. Zudem sind für die Bestimmung des Nichtformalen keine philosophischen Termini erforderlich.

Hegels Auffassungen zur Mathematik entsprechen seinem generellen Anliegen, ein eigenes System der Wissenschaften zu entwerfen, das auf seiner Philosophie fußen sollte. Dies ist ein generell richtiger Ansatz, der aber eine Zusammenarbeit aller Wissenschaften erfordert und nicht von einem einzelnen Philosophen bewältigt werden kann. In der heutigen Zeit habe ich den Eindruck, dass sich die Philosophen im wesentlich mit sich selbst beschäftigen und mit Ausnahme der Religions- und Kulturwissenschaften sowie der Rechts-, Sozial- und Politikwissenschaften wenig zur philosophischen Grundlegung der anderen Wissenschaften beitragen. Die immer weitere Diversifizierung der philosophischen Theorien ist dabei ein großes Hindernis.

Hegels Ansatz hat, wie viele seiner Anregungen für die Naturwissenschaften, keine Resonanz in der mathematischen Wissenschaft gefunden. Selbst die Mathematiker, die sich mit philosophischen Problemen der Mathematik und insbesondere mathematischer Begriffe befassen, haben die Einheit formaler und nichtformaler Momente nicht thematisiert. Zum Beleg dieser These werden folgende Ergebnisse einer Sichtung folgender Quellen zu philosophischen Problemen der Mathematik angegeben: (Banse 2009), (Hischer 2012),  (Bedürftig und Murawski 2019), (Felgner 2020) und (Neunhäuserer 2021).

  • Die Mathematik wird auf ihre formale Seite reduziert, „Mathematik ist […] streng regelgeleitetes reines Denken. Ihre Gegenstände sind ausgedacht und ihre Methode logisch exakt. Mathematische Wahrheit ist interne Richtigkeit, unabhängig von äußeren Überprüfungen“ (Banse 2009, S. 23).
  • Die Philosophie wird nicht als eine Grundlage der Mathematik angesehen, beide Wissenschaften haben unterschiedliche Ziele. „Philosophie antwortet auf Sinnfragen. Sie ist die theoretische Grundlage praktischer Anstrengungen zur Humanisierung menschlicher Aktivitäten […]. Mathematik dagegen ist allgemeine Strukturtheorie. Sie abstrahiert von den spezifischen menschlichen Aktivitäten. Philosophie ist Weisheitslehre als Wahrheitssuche und Hoffnungsbringer. Mathematik bleibt unpersönliche Welttheorie“ (Banse 2009, S. 34).
  • Auf die oben angeführten Gedanken von Hegel wird nicht eingegangen. Wenn überhaupt Hegel erwähnt wird, sind die Ausführungen oft durch ein völliges Unverständnis der Hegelschen Auffassungen gekennzeichnet. So behauptet Neunhäuserer, dass Hegel den Satz vom ausgeschlossenen Dritten in seiner Logik ausdrücklich ablehnt (Neunhäuserer 2021, S. 57), woraus Neunhäuserer schlussfolgert, dass Hegel „sich aus Wissenschaft und Philosophie, im Sinne einer vernunftgemäßen Bezugnahme auf die Welt [verabschiedet], und … nur noch in den schönen Künsten, der Religion oder der Politik reüssieren“ kann.
  • Dem Nichtformalen wird lediglich eine Rolle bei der Entstehung der formalen Begriffe und Theorien beigemessen, als eine Vorstufe der Mathematik, ein „Prolegomena, also dem, was der eigentlichen Tätigkeit der Mathematiker vorangeht“ (Felgner 2020, S. 252). Es wird festgestellt, dass man „in der Mathematik nur über solche Ideen nachdenken kann, deren Inhalte mit Formalismen eingefangen werden können. Was nicht formalisierbar ist, kann nicht mit den Mitteln der Mathematik behandelt werden“ (Felgner 2020, S. 253).
  • Es gibt vereinzelte Stimmen von Mathematikern, die über die formale Sichtweise hinausgehen: „Es stimmt nicht, dass wir in der Algebra über Zeichen nachdenken; wir denken immer über die Ideen nach, die sie repräsentieren.“ (Louis Couturat: Les principes des Mathématiques. Paris 1905, S. 276 nach Felgner 2020, S. 241).
  • Eine besondere Rolle wird den Axiomen beigemessen: „Eine beliebige mathematische Theorie ist vollständig umrissen, wenn man in einer geeigneten formalen Sprache ℒ ihre sämtlichen Axiome aufgeschrieben hat. In diesen Axiomen wird beschrieben, in welchen Beziehungen die fraglichen Objekte untereinander stehen und wie mit den Zeichen, die diese Objekte bezeichnen sollen, umgegangen werden kann.“ Über die verwendeten Begriffe sind keine weiteren Erklärungen notwendig. „Beim Aufbau einer mathematischen Theorie muß also gar nichts über die Natur der Objekte, mit denen die Theorie zu tun hat, gesagt werden.“ (Felgner 2020, S. 284).
  • In den Lehrbüchern von Mathematikern, die auch auf dem Gebiet der Didaktik arbeiten, (Bedürftig und Murawski 2019; Hischer 2012), werden bei den diskutierten Begriffen wie Zahl und Funktion auch einige nichtformale Momente angegeben, ohne dies auf Vollständigkeit zu untersuchen und auf alle Begriffe zu verallgemeinern.
  • Die allgemeinen Betrachtungen zu mathematischen Begriffen bleiben auf der Ebene der formalen Logik, es werden nur Begriffsname, Begriffsinhalt und Begriffsumfang unterschieden (z. B. Hischer 2012, S. 40).
  • Ein typisches Beispiel für die Auffassungen von Mathematikern zu Begriffen ist das Buch von Neunhäuserer (2020). Auf 365 Seiten gibt er 1000 Definitionen von Begriffen und dazu jeweils Beispiele an. Er ist der Meinung, dass die „Lektüre […] dieses Buches […] die Möglichkeit [bietet], schnell ein fundiertes Verständnis der Begriffe eines Teilgebiets der Mathematik zu erreichen. […] Wenn Sie ein Kapitel dieses Buches in Vorbereitung einer Prüfung durchgearbeitet haben, können Sie sich in begrifflicher Hinsicht sicher fühlen“ (Neunhäuserer 2020, S. V). Die von ihm angegeben Beispiele sind alle formal und werden ohne Erklärungen präsentiert. Als Beispiele für die Definition des Wahrscheinlichkeitsraumes, die die Definition der Wahrscheinlichkeit enthält, werden als Beispiele 13 Definitionen von Wahrscheinlichkeitsverteilungen wie die Binomialverteilung, die Poisson-Verteilung u. a. ohne weitere Erläuterungen angegeben.

Die Ignoranz von Fachwissenschaftlern gegenüber den nichtformalen Momenten mathematischer Begriffe basiert nach meinen Erfahrungen vor allem auf der Tatsache, dass sich nichtformale Momente per se nicht formalisieren lassen, rein fachlich in den meisten Fällen fehlerhaft sich und deshalb kein Bestandteil der Mathematik sein können. Anschauliche Vorstellungen etwa zu den Begriffen Grenzwert, Stetigkeit oder Wahrscheinlichkeit werden nur als Vorstufe der formalen Fassung dieser Begriffe akzeptiert und brauchen nach der Formalisierung höchstens noch aus historischen Gründen thematisiert werden. Die grundlegende Ablehnung gegenüber allen nichtformalen Betrachtungen ist nach meinen Erfahrungen fest im Gedankengebäude der Mathematiker verankert.

Im Folgenden sollen die grundlegenden Gedanken zum Verhältnis formaler und nichtformaler Momente mathematischer Begriffe an zwei ausgewählten Beispielen verdeutlicht werden, den Begriffen Variable und Wahrscheinlichkeit.

Zum Begriff der Variablen

Der Begriff der Variablen ist offensichtlich ein grundlegender Begriff der Mathematik. Umso überraschender ist, dass dieser Begriff nicht definiert werden kann, weder durch Angabe eines Oberbegriffs und artspezifischer Merkmale noch durch eine axiomatische oder andere Art von Definitionen. Man findet in Nachschlagewerken unter anderem folgende Erklärungsversuche:

  • Eine Variable ist ein Platzhalter für eine Zahl. (https://www.gut-erklaert.de/mathematik/variablen-definition-rechnen.html)
  • Eine Variable ist ein Name für eine Leerstelle in einem logischen oder mathematischen Ausdruck. (Henze und Last 2003, S. 7)
  • Variable, eine symbolische Darstellung, also ein Zeichen für ein beliebiges Element aus einer gegebenen Menge. (Walz 2016, S. 290)
  • Eine Variable ist ein Ausdruck in entsprechend (teil)normierten Schriftsprachen, bes. in der Mathematik, zumeist ein (ggf. indizierter) Buchstabe. (Ritter et al. 2007, Bd. 11, S. 545)

Es ist offensichtlich, dass es sich bei den ersten beiden Begriffserklärungen nicht um Definitionen handelt, da die verwendeten Wörter Platzhalter und Leerstelle keine mathematischen Termini sind. Dies trifft auch für das Wort Zeichen in dem dritten Erklärungsversuch zu. Mit dieser Erklärung würde der Begriff „Variable“ zudem einen weit größeren Umfang haben als es in der Mathematik üblich ist, da für den angegebenen Terminus Menge keine Einschränkungen gemacht werden und so alle möglichen Mengen von Objekten denkbar wären. Auch bei der vierten Erklärung aus dem Historischen Wörterbuch der Philosophie wird mit dem verwendeten Oberbegriff „Ausdruck“, der ebenfalls nicht definierbar ist, der Umfang des Begriffs „Variable“ wesentlich erweitert, da zum Beispiel auch Terme und Gleichungen mathematische Ausdrücke sind.

In anderen Wissenschaften ist der Begriff der Variablen klar definiert, in der Statistik als Synonym für Merkmal und in der Informatik als Name eines Speicherplatzes. Die angeblich so klare und deduktiv aufgebaute Struktur der Mathematik erweist sich als Fiktion. Dies betrifft nicht nur das Problem eines nicht definierbaren Variablenbegriffs, sondern zahlreiche grundlegende Probleme des axiomatischen Aufbaus der Mathematik. Stekeler-Weithofer (2019) stellt am Beispiel von mehreren Axiomensystemen dar, dass zwischen vollständig formalen, informalen und halbformalen Systemen unterschieden werden muss. Er sieht u. a. keine Möglichkeit eines vollformalen axiomatischen Aufbaus der Mengenlehre (Stekeler-Weithofer 2019, S. 143), „jeder deduktive Beweis setzt immer schon eine informale und externe Logik des Umgangs mit der informalen Unterscheidung zwischen einem Beweisbaum endlicher Länge und einem regressus ad infinitum voraus“ (Stekeler-Weithofer 2019, S. 125) und er schließt sich der Ansicht von Hermann Weyl an: „Und mit Schmerzen sieht der Mathematiker den größten Teil seines, wie er meinte, aus festen Quadern gefügten Turmbaus in Nebel zergehen“ (Weyl 2009, S. 75).

Wenn man die Verwendungen des Wortes „Variable“ in der Mathematik genauer betrachtet, ergeben sich u. a. folgende nichtformale Momente (Sill 2019, S. 261–263).

  • Zur Bezeichnung von Variablen können verwendet werden: kleine Buchstaben (a, p, x, y), große Buchstaben (A, P, X, Y), Buchstaben und Zahlen (x1, P1) oder mehrere Buchstaben (ha, Ag, masse).
  • Nicht jeder Buchstabe in mathematischen Ausdrücken ist eine Variable, z. B. g = 3 m; m = 3 g. Die Buchstaben g und m sind einmal Größen einmal Einheiten.
  • Es gibt Konventionen für die Verwendung von Variablen. So werden Koeffizienten in der Regel mit kleinen Buchstaben von a bis q bezeichnet, z. B. ax + by + c = 0
  • Derselbe Buchstabe kann aber auch unterschiedliche Dinge bezeichnen.
    So steht der Buchstabe p für:
    • eine natürliche Zahl bei der allgemeinen Angabe eines Bruches
    • eine reelle Zahl in der quadratischen Gleichung x2 + px + q = 0
    • einen Prozentsatz, z. B. p = 5 %
    • eine Wahrscheinlichkeit, z. B. p = 0,5
    • einen Hypotenusenabschnitt in einem rechtwinkligen Dreieck
    • als Symbol der physikalischen Größe Druck

Der Buchstabe X steht für die Menge der Argumente einer Funktion, einen Punkt in einer Ebene, eine Größe oder die römische Zahl 10.

  • Eine Variable dient zur Bezeichnung
    • einer festen Zahl oder Größe, z. B. gegebene Werte x = 1; a = 3 cm
    • einer festen aber unbekannten Zahl oder Größe, z. B. in den Gleichungen 3 × x = 12; 6 × a2 = 24 cm2; In diesen Fällen werden die Buchstaben als Unbekannte bezeichnet.
    • einer beliebigen Zahl oder Größe, z. B. y = f(x) = 2x; A = a × b; In diesen Fällen werden die Buchstaben als Veränderliche bezeichnet.
    • sowohl einer festen als auch einer beliebigen Zahl, z. B. die Variable m in der Gleichung einer linearen Funktion y = mx + n, die als Parameter bezeichnet wird.
  • Variable können mit Zahlen, Größen oder mit Termen belegt werden. Z.B. in dem Term a + 2·b kann für a der Wert 3 cm und für b der Term a + 1 eingesetzt werden.
  • Mit Variablen für Zahlen kann man nach bestimmten Regeln rechnen, z.B. 3a + 4a = 7a
  • Eine Variable kann sich ändern. Man kann untersuchen, wie sich die Änderung einer Variablen auf die Änderung einer anderen Variablen auswirkt. Bsp.: Bei direkt proportionalen Zusammenhängen zwischen den Größen X und Y gilt: wenn x wächst, wächst auch y.

Aus formaler Sicht kann man lediglich feststellen, dass es sich bei Variablen meist um Buchstaben mit bestimmten Bedeutungen handelt. Eine Variable ist allgemein weder ein Platzhalter, noch eine Lehrstelle noch ist sie immer variabel.

Gleichungen mit Unbekannten gibt es seit den Anfängen der Mathematik im alten Ägypten. Die Bezeichnung „Variable“ entstand erst im Zusammenhang mit der Untersuchung veränderlicher Größen und wurde von René Descartes im 17. Jahrhundert eingeführt.

Die Verinnerlichung der nichtformalen Momente des Variablenbegriffs ist eine wesentliche Voraussetzung für den verständnisvollen Umgang mit Variablen und damit auch mit Termen und Gleichungen und Funktionen. Leider ist es meiner Wissenschaft der Didaktik des Mathematikunterrichts bis heute nicht in befriedigender Weise gelungen, dieses grundlegende Problem zu lösen. Noch zu meiner Schulzeit wurde zwischen Unbekannten und Variablen im Unterricht unterschieden. In den siebziger Jahren wurde diese Unterscheidung sowohl in der damaligen BRD als auch in der DDR mit der Begründung aufgehoben, dass sie volkstümlich und unwissenschaftlich wäre.

In der Primarstufendidaktik ist es selbstverständlich, dass zur Aneignung etwa des Zahlbegriffs die nichtformalen Momente gehören. Aber bereits bei den Begriffen „Bruch“ und „Prozent“ ist die Gesamtheit der nichtformalen Momente oft unzureichend Gegenstand des Unterrichts, was zu den bekannten Problemen im Umgang mit Brüchen und Prozenten führt.

In der schulischen Praxis wird die Vermittlung der Gesamtheit der formalen Momente des Variablenbegriffs in der Regel übergangen und sofort mit dem Rechnen mit Variablen, also den Termumformungen begonnen. Dies ist aus meiner Sicht eine wesentliche Ursache für die verbreitete Mathematikphobie in der Gesellschaft. Erfahrungen von Lehrkräften besagen, dass ein großer Teil der Schülerinnen und Schüler aus dem Mathematikunterricht aussteigt, wenn das Arbeiten mit Variablen beginnt.

Der österreichische Mathematikdidaktiker Günter Malle hat in seinen empirischen Untersuchungen zu Problemen der elementaren Algebra festgestellt, dass, „wenngleich keine statistisch abgesicherten Aussagen gemacht werden können, […] aufgrund der vorliegenden Daten […] vermutet werden [kann], dass zumindest die Hälfte aller Schulabgänger Schwierigkeiten im Umgang mit Variablen hat“ (Malle 1993, S. 3). Dies hat zur Folge, dass in vielen gesellschaftlichen Bereichen der eigentlich sinnvolle Umgang mit Termen und Gleichungen umgangen wird. Man denke an den Spruch: „Jede mathematische Formel in einem Buch halbiert die Verkaufszahl dieses Buches.“

Zum Begriff der Wahrscheinlichkeit

Die gesellschaftlichen Konsequenzen einer Missachtung der Einheit von formalen und nichtformalen Momenten sind beim Wahrscheinlichkeitsbegriff noch weit gravierender. In diesem Fall gibt es zwar wie bei den meisten mathematischen Begriffen eindeutig festgelegte formale Momente, aber innerhalb der nichtformalen Momente existieren gegensätzliche Merkmale, die sogar zu unterschiedlichen mathematischen Methoden bei der Lösung von Problemen in der Realität führen. Der Didaktiker Heinz Steinbring stellt im Ergebnis seiner Analyse der Momente des Wahrscheinlichkeitsbegriffs fest. „So zeigt ein erster flüchtiger Gesamtüberblick, dass es wohl kaum einen anderen mathematischen Begriff gibt, der eine ähnliche Vielfalt verschiedenartiger Definitionen und gegensätzlicher Interpretationen aufweist, wie der Begriff der Wahrscheinlichkeit. […] Dies macht den Wahrscheinlichkeitsbegriff zwar zu einem sehr interessanten, aber gleichzeitig wohl zu einem der problematischsten Begriffe für die Schule überhaupt“ (Steinbring 1980, S. 1), und man kann ergänzen, dies trifft nicht nur für die Schule, sondern für alle Wissenschaften zu, die Mittel und Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung und mathematischen Statistik verwenden.

Der Begriff der Wahrscheinlichkeit wird formal durch ein vom sowjetischen Mathematiker Kolmogorov im Jahre 1933 aufgestelltes Axiomensystem festgelegt. Für den Fall einer endlichen Ergebnismenge kann der Begriff „Wahrscheinlichkeit“ in folgender formaler Weise axiomatisch bestimmt werden (Kütting und Sauer 2011, S. 98):

Sei Ω eine nicht leere, endliche Ergebnismenge und sei P : P (W) ® R eine Abbildung P der Potenzmenge P (W) in die Menge der reellen Zahlen R. Dann heißt die Abbildung P ein Wahrscheinlichkeitsmaß genau dann, wenn gilt

  1. P(A) ³ 0 für alle A Î P (W)
  2. P(W) = 1
  3. P(A È B) = P(A) + P(B) für alle A, B Î P (W) mit A ∩ B = Æ

P(A) heißt die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses A.

Nur mit diesen drei Axiomen kann die gesamte Wahrscheinlichkeitsrechnung deduktiv aufgebaut werden. Über den Begriff „Wahrscheinlichkeit“ sagen diese Axiome sehr wenig aus. Es wird nicht gesagt, was Wahrscheinlichkeit ist, sondern nur, dass alles, was die drei Axiomen erfüllt, Wahrscheinlichkeit heißt. Für einen sinnvollen Umgang mit Wahrscheinlichkeiten im Alltag und auch in anderen Wissenschaften ist dies völlig unzureichend.

Zu den nichtformalen Momenten des Wahrscheinlichkeitsbegriffs gehören folgende Gedanken (vgl. Krüger et al. 2015, S. 233–247).

  • Wahrscheinlichkeiten geben den Grad der Möglichkeit des Eintretens von Ergebnissen von Vorgängen in der Natur und der Gesellschaft an.
  • Ergebnisse können mehr oder weniger wahrscheinlich sein.
  • Die Wahrscheinlichkeit eines Ergebnisses hängt von Bedingungen des Vorgangs ab.

Diese drei, bereits intuitiv erfassbaren Momente sind Grundlage eines in Rostock entwickelten und erprobten Konzeptes zur propädeutischen Behandlung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs in der Primarstufe (Sill und Kurtzmann 2019). Als Visualisierungsmittel verwendeten wir eine senkrechte Skala, auf der die geschätzte Wahrscheinlichkeit eines Ergebnisses markiert werden kann. Im Unterricht benutzten die Schülerinnen und Schüler ein Lineal, dass sie senkrecht hielten, und eine Wäscheklammer zum Markieren der Wahrscheinlichkeit.

Es wurden unter anderem folgende Wahrscheinlichkeiten von Schülerinnen und Schülern durch eine qualitative Schätzung bestimmt.

Wie wahrscheinlich ist es, dass

  1. morgen die Sonne scheint.
  2. es in einem Bäckerladen Eis gibt,
  3. man bei Regen und Sonne einen Regenbogen sieht,
  4. es zum Geburtstag einen Geburtstagskuchen gibt?

Zu Aufgabe d. entspann sich in einer Klasse eine interessante Diskussion, als ein Schüler seine Ansicht verteidigte, dass dies unwahrscheinlich sei. Als Begründung führte er an, dass dies bei uns zwar häufig vorkommt, aber in vielen Teilen der Welt eher selten ist und hatte damit den Einfluss von Bedingungen auf die Wahrscheinlichkeit eines Ergebnisses erfasst.

Zu den weiteren nichtformalen bzw. halbformalen Momenten gehören:

  • Wenn bei einem Vorgang alle Ergebnisse gleichwahrscheinlich sind, ist die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses der Quotient aus den für dieses Ereignis günstigen zu den insgesamt möglichen Ergebnissen, z. B. idealer Würfel: p = für eine Sechs.
  • Wahrscheinlichkeiten können interpretiert werden als Vorhersage der zu erwartenden Häufigkeit des Ereignisses bei mehrmaligem Ablauf des Vorgangs, z. B. bei 600 Würfen etwa 100 Sechsen.
  • Wenn ein Vorgang unter gleichen Bedingungen sehr oft wiederholt werden kann, so schwankt die relative Häufigkeit eines Ergebnisses immer weniger um seine Wahrscheinlichkeit.

Während diese Momente in der Literatur relativ unstrittig sind, entzünden sich an den folgenden Momenten und den sich daraus ergebenden Folgerungen oft kontroverse Diskussionen.

  • Das mathematische Modell der Wahrscheinlichkeit kann auf zwei unterschiedliche Arten von Vorgängen angewendet werden:
  • Vorgänge, die unabhängig vom Denken eines Menschen ablaufen
  • Vorgänge im Denken eines Menschen
  • Bei Vorgängen vom Typ (1) wird die Wahrscheinlichkeit der Ergebnisse durch das Denken eines Menschen, der den Vorgang untersucht, nicht beeinflusst, d.h. sie existiert unabhängig („objektiv“). Ein Mensch kann sie nur möglichst genau schätzen oder bestimmen.
  • Bei Vorgängen von Typ (2) können zwei verschiedene Arten unterschieden werden:

(2.1) Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit künftiger Ergebnisse

Diese Überlegungen führen zu einer subjektiven Schätzung der Wahrscheinlichkeit von Ergebnissen. Bei genauer Kenntnis der Bedingungen des Vorgangs können diese Schätzungen der tatsächlichen Wahrscheinlichkeit sehr nahekommen.

Die Überlegungen der Kinder bei den oben angegeben Aufgaben führen zu einer subjektiven Schätzung objektiver Wahrscheinlichkeiten.

(2.2) Überlegungen einer Person zur Wahrscheinlichkeit eingetretener aber der Person unbekannter Ergebnisse

Ein typisches Beispiel für einen Vorgang dieser Art sind die Überlegungen eines Arztes zur Diagnose einer Krankheit. Aufgrund seiner Erfahrungen und der vorliegenden Informationen über den Patienten schätzt der Arzt zunächst a-priori die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer bestimmten Krankheit ein. Nach weiteren Untersuchungen kann sich seine Wahrscheinlichkeitsschätzung ändern und er ist sich am Ende (hoffentlich) sehr sicher über das Vorliegen einer bestimmten Krankheit.

Allgemein spricht man bei diesem Forschungsparadigma davon, dass Wahrscheinlichkeiten eines „unbekannten Zustandes der Welt“ bestimmt werden. Je mehr Informationen über den unbekannten Zustand vorhanden sind, umso sicherer kann man sein, welcher Zustand vorliegt.

Weitere Beispiele sind das Schätzen der Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Note nach dem Schreiben einer Klassenarbeit, der Wahrscheinlichkeit der Wirksamkeit eines Medikamentes oder der Wahrscheinlichkeit für die gute Arbeit einer Regierung.

Die Vorgänge vom Typ (1) sind Gegenstand der sogenannten klassischen Inferenzstatistik. Die Vorgänge werden dabei als unter gleichen Bedingungen beliebig oft wiederholbar angesehen, Wahrscheinlichkeiten werden als Häufigkeitsmaße verstanden. Ein Hauptmittel der Anwendung in anderen Wissenschaften sind das Testen von Hypothesen mit Signifikanztests. Dies sind die gegenwärtig dominierenden Methoden in den Sozialwissenschaften, der Psychologie und Medizin. Vertreter dieser Herangehensweise werden auch als Objektivisten bezeichnet. Sie dominieren gegenwärtig die wissenschaftliche Szene, an meiner Universität in Rostock habe ich keinen Stochastiker getroffen, der nicht Objektivist war.

Die Vorgänge vom Typ (2.2) sind Gegenstand der sogenannten Bayes-Statistik. Die Bezeichnung bezieht sich auf englischen Pfarrer und Mathematiker Thomas Bayes (1701-1761), den Namensgeber des Satzes von Bayes, der eine zentrale Rolle in dieser Wahrscheinlichkeitsauffassung spielt. Die Anhänger dieser Auffassung werden deshalb auch als Bayesianer oder Subjektivisten bezeichnet. Sie verwenden andere mathematische Verfahren zum Schätzen von Parametern und Wahrscheinlichkeiten. Von Objektivisten wird diese Auffassung und Herangehensweise prinzipiell abgelehnt.

Beide Richtungen der Interpretation der Wahrscheinlichkeit basieren formal auf den gleichen Axiomen der Wahrscheinlichkeit, führen aber zu unterschiedlichen, teilweise entgegengesetzten Betrachtungsweisen. Dies soll am Beispiel des in beiden Richtungen unterschiedlichen Begriffs einer Hypothese verdeutlicht werden. In der objektivistischen Sicht ist eine Hypothese entweder wahr oder falsch, man kann nicht von der Wahrscheinlichkeit eine Hypothese sprechen. Wenn zum Beispiel bei der Erprobung eines Medikamentes mit einem Signifikanztestes entschieden wird, dass das Medikament bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5 % zu einer Heilung führt, dann besagt das nicht, dass das Medikament mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % eine Heilung herbeiführt. Man kann nur folgendes sagen: Wenn man die Erprobung an der Patientengruppe z. B. 100-mal wiederholen würde, so ist zu erwarten, dass das Medikament in etwa 95 der Erprobungen zu einer Heilung führt. Es ist leicht erkennbar, dass ein solches Szenarium völlig unrealistisch ist, weil die Bedingungen in den Patientengruppen jedes Mal unterschiedlich sind.

In der Bayes-Statistik gibt es die Wahrscheinlichkeit von Hypothesen, die mit den entsprechenden Verfahren auch ermittelt werden kann. Am angeführten Beispiel der Diagnose eines Arztes ist leicht erkennbar, dass dieser Herangehensweise dem Anwendungskontext viel eher entspricht. Die Vermutungen des Arztes sind Hypothesen, deren Wahrscheinlichkeiten sich im Laufe der Untersuchungen des Arztes verändern. Mit der Bayes-Statistik kann ein solches Lernen aus Erfahrungen mathematisch modelliert werden.

Es ergibt sich die Frage, weshalb sich die Bayes-Statistik in den betreffenden Anwendungskontexten bisher nicht gegenüber der klassischen Statistik durchgesetzt hat. Dafür gibt es aus meiner Sicht zwei Ursachen.

  • Die Einheit der formalen und aller nichtformalen Momente des Wahrscheinlichkeitsbegriffs wird in den betreffenden mathematischen Disziplinen unzureichend beachtet. Die Objektivisten können die Grenzen ihres Gedankengebäudes nicht überschreiten.
  • Die eingefahrene Art der Verwendung der statistischen Methoden lässt sich kaum ändern, wenn nicht starke Impulse aus der Mathematik vorhanden sind.

Gerd Gigerenzer, Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und seit 2020 Direktor des Harding-Zentrum für Risikokompetenz an der Universität Potsdam, hat in einem Vortrag vor dem Arbeitskreis Stochastik der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik erzählt, dass Psychologen durchaus wissen, dass Signifikanztests keine adäquaten Methoden für ihren Forschungsgegenstand sind, doch ist es nicht möglich, in einem renommierten Journal einen Artikel mit empirischen Daten einzureichen, wenn zu den Daten kein Signifikanztest durchgeführt wurde.

Arten nichtformaler Momente mathematischer Begriffe

Betrachtungen zum Verhältnis von formalen und nichtformalen Momenten sind bei allen mathematischen Begriffen möglich. Metaphorisch könnte man sagen, dass die formale Mathematik das Gerüst der Mathematik ist. Formale Mathematik zu studieren ist damit Knochenarbeit. Der arme Lernende muss aus den dargebotenen Knochen ein Skelett der Mathematik formen und hat am Ende doch kein Bild des Ganzen. Erst alles, was die Knochen umgibt, macht den ganzen Menschen wie die ganze Mathematik aus. Ein Lernender muss sich ein Bild von der ganzen Mathematik allerdings selber schaffen, es kann dabei durchaus ein recht unförmiges Produkt entstehen.

Die Betrachtungen zur Einheit der Momente sind nicht rein deskriptiv, sondern geben konstruktive Anregungen für ein Forschungsprogramm. So ergeben sich etwa folgende Forschungsfragen:

  • Welche nichtformalen Vorstellungen haben Mathematiker von den Fachtermini? Ich behaupte, dass Mathematiker nicht in formalen Kategorien denken, sondern immer auch Beispiele, Analogiebezüge und andere nichtformale Gedanken verwenden.
  • Wie wirkt sich die Ausbildung nichtformaler Vorstellungen zu den einzelnen Fachtermini auf die formalen Kenntnisse und die Beherrschung der Verfahren aus?
  • Wie können nichtformale Vorstellungen zu den einzelnen Fachtermini vermittelt werden?

Es können folgende Arten nichtformaler Momente unterschieden werden:

  • Beim Schließen können das formale Schließen und das nichtformale Schließen unterschieden werden.
  • Zu den nichtformalen Momenten gehören die Ergebnisse sprachlicher Analysen der Wörter, die als Fachterminus verwendet werden. Dadurch werden diese Wörter im semantischen Netz verankert. Es gibt viele Beziehungen von mathematischen Termini zur Bedeutung dieser Wörter in der Alltagssprache. Dies trifft für die Mehrzahl der Fachtermini in der Schulmathematik bis Klasse 10 zu. Beispiele sind die Termini Menge, Bruch, Funktion, Körper, Ähnlichkeit, aber auch bei der Mathematik in der Oberstufe und der Universität scheitert das Verständnis grundlegender Begriffe oft an diesem Problem. Beispiele sind die Termini Monotonie, Stetigkeit, Grenzwert. Diese Wörter sind also Polyseme, sie haben in ihrer mathematischen Fassung eine Bedeutung in der Mathematik und eine oder auch mehrere Bedeutungen in der Alltagssprache.
  • Zu den nichtformalen Momenten gehören weiterhin Analogiebetrachtungen zwischen mathematischen Themengebieten. Das Verständnis für den Terminus Zufallsgröße in der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird wesentlich erleichtert, wenn erkannt wird, dass er das Analogon zum Terminus Merkmal in der Beschreiben Statistik ist. Das gleiche trifft für die Termini Erwartungswert eine Zufallsgröße und arithmetisches Mittel einer Häufigkeitsverteilung zu.
  • Neben den Bezügen zur Alltagssprache gehören zu den nichtformalen Momenten weitere semantische Betrachtungen, wie etwa zur Metonymie von Termini. Ein Beispiel aus der Primarstufe ist das Wort Summe. Mit Summe wird sowohl ein Prozess als auch ein Ergebnis bezeichnet. In der Gleichung 3 + 4 = 7 wird sowohl 3 + 4 als auch 7 Summe genannt.
  • Beziehungen zwischen mathematischen Termini gehören eigentlich zu den formalen Momenten der betreffenden Termini. Dabei geht es vor allem um die Hyponymie, Hyperonymie, Homonymie und Polysemie, also um Unter- und Oberbegriffe, verschiedene Wörter mit gleicher Bedeutung und Wörter mit verschiedenen Bedeutungen. Das Aufweisen dieser semantischen Beziehungen ist aber oft kein Bestandteil der formalen Darstellung der Mathematik, als einer klar strukturierten und deduktiv aufgebauten Wissenschaft. Als ein nicht formales Moment mathematischer Begriffsbildung kann deshalb das Aufsuchen nach solchen Beziehungen angesehen werden. Sie sind notwendiger Bestandteil des semantischen Netzes eines Lernenden. So lassen sich viele Probleme, die mit dem Wort Logarithmus und mit dem Umgang mit Logarithmen zusammenhängen, auf die fehlende Assoziation zwischen Logarithmus und Exponent zurückführen.
  • Es gibt vielfältige Möglichkeiten auf nichtformale Weise Gleichungen zu lösen. Die Möglichkeiten dazu knüpfen an die Bedeutungen von Rechenoperationen an, die in den formalen Definitionen nicht enthalten sind.
  • Zu den nichtformalen Momenten gehören weiterhin die Konventionen zu Bezeichnungs- und Schreibweisen, zur Form der Darstellung von Ergebnissen, zur Art und Weise der Angabe von Begründungen und andere.
  • Zum Nichtformalen gehören weiterhin anschauliche Vorstellungen zu mathematischen Termini und Verfahren. So kann ein zentrales Verfahren der Algebra, das Belegen von Variablen durch Zahlen oder Terme mit Gegenständen veranschaulicht werden. Ein nichtformales Moment der Stetigkeit einer Funktion ist die Handlung des Zeichnens des Grafen ohne Abzusetzen. Beim Aufbau solcher anschaulichen Vorstellungen ist natürlich zu beachten, dass diese auch ihre Grenzen haben. Wenn etwa das Addieren und Subtrahieren von Variablen durch Handlungen mit Strecken veranschaulicht werden, setzt dies voraus, dass die Variablen keine negativen Werte annehmen können.
  • Mit operationalem Moment kann die Eigenschaft eines mathematischen Objekts bezeichnet werden, dass mit ihm Operationen durchgeführt werden können, wobei dann dieser Operationen formal definiert sind. So gehört zu den nichtformalen Momenten von Zahlen und Variablen die Eigenschaft, dass man mit ihnen rechnen kann.
  • Ein weiteres nichtformales Moment ist das Verhältnis von statischen und dynamischen Betrachtungen. So kann zum Beispiel die Variable x zum einen für eine unbekannte Zahl und damit für etwas Unbekanntes aber Festes stehen, sie kann aber auch für eine beliebige reelle Zahl stehen.
  • Ein grundlegendes nichtformales Moment, das in vielen Bereichen der Mathematik eine Rolle spielt, ist der Modellcharakter mathematischer Begriffe und Verfahren. So müssen Zahlen als Modelle quantitativer Zustände und Verhältnisse erfasst werden. Die direkte und umgekehrte Proportionalität gilt bei realen Zusammenhängen nur unter bestimmten Modellannahmen. Die Gleichverteilung als Modell beim realen Vorgang des Würfels setzt bestimmte Bedingung des Vorgangs voraus. Der Modellierungscharakter von Funktionen ist für das Verständnis des Funktionsbegriffs und des Umgangs mit Funktionen von zentraler Bedeutung.
  • Im Zusammenhang mit der Modellierung realer Zustände und Prozesse, aber auch darüber hinaus, spielt als nichtformales Moment die Interpretation von Ergebnissen, die auf formale Weise ermittelt wurden, eine Rolle.

Wie am Beispiel der Begriffe „Variable“ und „Wahrscheinlichkeit“ deutlich wurde, betrifft das Problem der Einheit formaler und nichtformaler Momente mathematischer Begriffe nicht nur den Erfolg von mathematischem Unterricht und mathematischer Lehre, sondern hat teilweise enorme Auswirkungen auf große Bereiche der Gesellschaft.

Der Vortrag zeigt, dass Grundideen der Hegelschen Philosophie durchaus fruchtbringend zur Lösung von Problemen in einer Fachwissenschaft angewendet werden können. Dazu ist eine Zusammenarbeit von Philosophen, Fachwissenschaftlern, Fachdidaktikern und Lernpsychologen erforderlich.

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[1] Erweiterte Fassung eines Vortrages im Plenum der Leibniz-Sozietät am 09.12.2021

[2] Die Verwendung der männlichen Form ist bewusst erfolgt, sie entspricht meiner Erfahrungsgrundlage.