Mein Weg zur Philosophie

In meiner Studienzeit an der Pädagogischen Hochschule in Güstrow habe ich wie alle Studierenden in der DDR ein obligatorisches gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium über vier Studienjahre absolviert. Die Vorlesung „Dialektischer und Historischer Materialismus“ hielt der Philosoph Dr. Enno Dieckhoff, der von Studierenden sehr geschätzt wurde. Er hatte in den fünfziger Jahren an der Humboldt-Universität in Berlin studiert. Wie er mir später berichtete, hat ein Seminarleiter die nicht gewünschte eingehende Beschäftigung mit „bürgerlicher“ Literatur dadurch umgangen, dass er ein Seminar zum Band 38 der gesammelten Werke von Lenin durchgeführt hat. In dem Band ist ein Konspekt von Lenin zu Hegels „Wissenschaft der Logik“ enthalten, dass sie dann durchgearbeitet haben.

Mich haben an den Inhalten der Philosophieausbildung vor allem die darin enthaltenen Elemente einer Dialektik interessiert. Es wurde nicht verschwiegen, dass der Vater der so bezeichneten dialektischen Grundgesetze Hegel war, wobei seine Theorie allerdings von Marx vom Kopf auf die Füße gestellt werden musste. Heute weiß ich, dass, wie so vieles anderes, auch dieses Bild nichtzutreffend ist.

In meiner Promotionszeit verfasste ich wie alle Promovenden in der DDR eine Hausarbeit auf dem Gebiet des Marxismus-Leninismus, deren Note in das Promotionszeugnis einging. Ich wählte als Thema „Dialektik und Mathematik“ und versuchte nachzuweisen, dass die Mathematik undialektisch sei. Diese Meinung teilte man Betreuer, Herr Dr. Kasdorf, Dozent für philosophische Probleme der Naturwissenschaften, nicht und meine Promotionsnote verschlechterte sich um einen Grad. Heute weiß ich, dass er Recht hatte.

Nach meiner Promotion auf dem Gebiet der Mathematik und einer kurzen Tätigkeit als Mathematiklehrer an eine Schule begann meine Beschäftigung mit der Wissenschaft Didaktik des Mathematikunterrichts, die in der DDR „Methodik des Mathematikunterrichts“ genannt wurde. Einen wesentlichen Anstoß zu dialektischen Betrachtungen auf diesem Gebiet erhielt ich in den siebziger Jahren durch das Buch von Karl Friedrich Wessel „Pädagogik in Philosophie und Praxis“. Wessel handelte sich damit ein Auftrittsverbot bei den pädagogischen Wissenschaftlern der DDR ein, denn seine dialektischen Prozessbetrachtungen widersprachen den damals gängigen pädagogischen Theorien.

Ohne dass ich die konkreten Bezüge zur Hegelschen Philosophie kannte, habe ich dann diese Betrachtungsweise beginnend in den achtziger Jahren auf meinen wissenschaftlichen Gegenstand, die Ausbildung mathematischer Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten im Schulunterricht angewendet. Ich konnte solche Fragestellungen wie die Analyse stochastischer Erscheinungen, das Umgehen mit den Begriffen Zufall und Wahrscheinlichkeit oder die Entwicklung des algebraischen Könnens in für mich zufriedenstellender Weise bearbeiten. Das führte nicht nur zu neuen theoretischen Erkenntnissen sondern auch zu konkreten praktischen Schlussfolgerungen für den Unterricht, die ich dann beginnend in den neunziger Jahren in einer von mir neu herausgegebenen Unterrichtsreihe verwendet habe. Die Grundidee dieser Betrachtungen ist die Einheit von inhaltlichen und formalen Momenten. Dies führt zu einer neuen Sicht sowohl auf die Mathematik als auch auf den Prozess der mathematischen Bildung.

Erst nach Beendigung des Arbeitslebens habe ich Zeit und Ruhe zu einem umfangreichen Studium philosophischer Literatur gefunden, in deren Ergebnis ich meine bisherigen fachwissenschaftlichen Vorgehensweisen fundieren und neue Sichten auf philosophische, gesellschaftspolitische und auf Menschen bezogene Theorien und Erscheinungen entwickeln konnte. Schriften von Hegel haben mir dabei wesentliche Einsichten vermittelt. Seine konsequente Betrachtung von Prozessen, seine spekulative Methode, sein spekulativer Begriff und die Einheit gegensätzlicher Momente sind für mich Kernelemente der Philosophie. Überrascht war ich über den Umfang der Literatur zu den Ideen von Hegel. Auf zehntausenden von Seiten werden seine Schriften interpretiert. Allerdings fand ich nur wenige, die über den Rahmen der Interpretation hinausgehen und untersuchten, wie seine Ideen in anderen Wissenschaften anwendbar wären.

Mein Ansatz ist es, die Grundideen von Hegel auf die Philosophie als Ganzes anzuwenden und zu versuchen, möglichst viele philosophische Richtungen als Momente eines Ganzen zu interpretieren. Ich nenne das dabei entstehende theoretische Gebilde „Neue Philosophie“. Eine Einordnung in eine vorhandene philosophische Richtung wie etwa die Analytische Philosophie oder die materialistische Dialektik und auch eine Bezeichnung in Verbindung mit Bezeichnungen vorhandener Richtungen, wie etwa Materialismus, Idealismus oder Marxismus halte ich aus verschiedenen Gründen nicht für sinnvoll, was ich im Rahmen der Auseinandersetzung mit philosophischen Theorien noch begründen werde. Die Bezeichnung „Neue Philosophie“ gibt es nach meiner Kenntnis bisher lediglich für die Auffassungen einer Gruppe französischer Intellektueller (franz. Nouvelle Philosophie) und als Eigenbezeichnung des Autors Adolf Tscherner für seine Ansichten.

Eine notwendige Voraussetzung für einen solchen Ansatz ist die Bestimmung eines Systems von Grundbegriffen. Ausgehend von Kriterien zur Auswahl dieser Termini habe ich eine Vielzahl von Worten auf ihre Bedeutungen und Eignung untersucht.

Neben illustrierenden Beispielen in philosophiezentrierten Texten möchte ich meine Gedanken zu einer Reihe von Anwendungen der philosophischen Ideen darlegen. Dies betrifft insbesondere mein Fachgebiet, die Didaktik des Mathematikunterrichts, aber auch Probleme anderer Gebiete. Dabei geht es mir besonders um Fragen, die mit einer möglichen nachkapitalistischen Gesellschaft zusammenhängen. Viele Menschen, insbesondere linksorientierte, sehen, dass die gegenwärtige Gesellschaft an ihre Grenzen kommt. Zur Aufgabe der Philosophie gehört es, die theoretischen Grundlagen für gesellschaftliche Entwicklungen bereitzustellen.

Es ist die Idee zu einem großen Projekt, an dem ich kontinuierlich weiterarbeiten und die Ergebnisse auf dieser Seite publizieren werde und von dem ich hoffe, dass es aufgegriffen und weitergeführt wird.