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Hegels Begriffe begreifen – Texte Hegels verständlicher gemacht

 Philosophie in meinen Forschungen zum Mathematikunterricht

Ich bin von Hause aus ein Vertreter der Wissenschaft Didaktik des Mathematikunterrichts, einer interdisziplinären Wissenschaft, die oft unzutreffend als Didaktik der Mathematik bezeichnet wird. Ich habe auf dem Gebiet der Mathematik promoviert und in der Methodik des Mathematikunterrichts, wie es in der DDR hieß, habilitiert.

Mein Interesse an philosophischen Problemen ist bereits in den siebziger Jahren entstanden, eine Initialzündung war das Buch von Karl Friedrich Wessel „Pädagogik in Philosophie und Praxis“.  Das darin enthaltene prozessorientierte und dialektische Herangehen an die ontogenetische Entwicklung psychischer Eigenschaften hat mich letztlich zur Lösung von Grundfragen der Aneignung von mathematischem Wissen und Können geführt. So kann ich jetzt etwa philosophisch fundiert erklären, warum so viele Lernende insbesondere im Hochschulstudium Probleme mit der mathematischen Ausbildung haben. Das habe ich in meinem Vortrag vor der Leibniz Sozietät im Dezember 2021 dargelegt, der ja auch in der Einladung angegeben ist.

Anliegen des Vortrages

Ich hoffe, dass sie nicht in der Erwartung gekommen sind, heute die ultimative Erklärung der Hegelschen Begriffe zu erhalten. Ich kann lediglich den Nebel, der über seiner Begriffswelt liegt etwas lüften, vieles bleibt weiterhin im Nebel verborgen. Ich habe außerdem den Eindruck gewonnen, dass Hegel vielleicht nicht immer selbst so genau wusste, was er eigentlich meinte. Belege sind die unterschiedliche Verwendung solcher bei ihm zentralen Begriffe wie Substanz, Subjekt oder Selbstbewusstsein. Viele exegetische Versuche halte ich deshalb für ein Stochern im Nebel.

Bemerkungen zu Hegel

Hegel spaltet die philosophische Community wie kein zweiter. Die einen halten ihn für einen der größten deutschen Philosophen, für Sebastian Ostritsch ist er der Weltphilosoph (Ostritsch 2020) und für Klaus Vieweg der Philosoph der Freiheit (Vieweg 2020). Für Arthur Schopenhauer war Hegel ein geistloser Scharlatan (nach Weischedel 1997, S. 109) und Herbert Schnädelbach kommt als ausgewiesener Kenner der Hegelschen Werke zu dem Schluss, dass Hegel ein „philosophisches Unglück“ wäre, sein Fazit lautet: „Vergesst Hegel!“ (Stekeler-Weithofer 2000).

Nach meinem bisherigen Studium der Texte von Hegel enthalten insbesondere Teile der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik fundamentale Ideen. Ich sehe drei grundlegende Ergebnisse von Hegel, die für alle Wissenschaften von Bedeutung sind. Es handelt sich um das prozessorientierte Herangehen, das Prinzip der bestimmten Negation und die spekulative Methode. Sie kann man alle drei zu dem Grundsatz der prozessualen Einheit von Gegensätzen zusammenfassen, dem Inhalt von Hegels Diktum: „Das Wahre ist das Ganze.“

Ich bin also ein Fan von Hegel, aber nur zu einem Teil von ihm. Ein Grund ist, dass ich für eine begriffliche Trennung von Philosophie und Theologie eintrete und das heißt, keine tieferen Betrachtungen zu den Teilen der Hegelschen Theorie anzustellen, die offenkundig durch seine theologischen Grundauffassungen beeinflusst sind. Das ist nicht immer so einfach möglich, da etwa zentrale Begriffe wie „Geist“ oder „Vernunft“ bei ihm einen theologischen Hintergrund haben. Man kann aber aus meiner Sicht die damit bei Hegel verbundenen Intensionen auch theologiefrei ausdrücken.

Funktionen meiner Beschäftigung mit Hegel

Die Beschäftigung mit Hegel ist für mich kein Selbstzweck. Ich sehe mich nicht als Konkurrent in der Hegelforschung oder als Philosoph im akademischen Sinne.

Mein Hauptziel ist die Bestimmung philosophischer Grundlagen für ein Gesellschaftsmodell, das wesentlich durch eine nichtkapitalistische Produktionsweise gekennzeichnet ist. Ich sehe eine Hauptursache für das Scheitern solcher Gesellschaftsmodelle nach 1918 in den unzureichenden und teilweise fehlerhaften philosophischen Grundlagen dieser Modelle. Es beginnt bei der falsch gestellten Grundfrage der Philosophie. Deshalb bedarf es eines neuen Ansatzes, einer Neuen Philosophie, deren wesentliche Quellen für mich Hegel und Marx sind. Vor einer gesellschaftlichen Umwälzung halte ich eine philosophische für erforderlich.

Ein Nebeneffekt meiner Forschungen zu Hegel ist die Aufdeckung von Mängeln in gegenwärtigen philosophischen Theorien und Methoden. So halte ich die aktuelle Hauptrichtung, die analytische Philosophie, im Wesentlichen für eine Fehlentwicklung. Weiterhin bemerke ich eine fehlende Kummulativität der philosophischen Forschung. Um ein Beispiel zu nennen, ich habe 25 Publikationen zum Kapitel sinnliche Gewissheit in der Phänomenologie des Geistes ausgewertet und dabei die Verwendung von Literatur analysiert. Von den 300 Möglichkeiten die bisherigen Arbeiten zu diesem Thema zu diskutieren wurden nur zehn genutzt und es wurden darüber hinaus nur 46 Verweise auf bisherige Quellen angegeben. Man kann also in diesem Fall feststellen, dass bei den wissenschaftlichen Publikationen zu diesem Thema die überwiegende Mehrzahl der bisherigen Arbeiten nicht erwähnt, geschweige denn kritisch diskutiert wird. Das halte ich für einen Mangel wissenschaftlicher Arbeit.

Auswahl von Wörtern für eine Neue Philosophie

Beim Lesen von Hegelschen Texten stößt man schnell auf das Problem, dass er oft Wörter in einer Bedeutung verwendet, die sich von ihrem Gebrauch in der Alltagssprache und auch in anderen Wissenschaften unterscheiden. Das war für mich der Anlass, mich zunächst mit Grundbegriffen der Philosophie, aber teilweise auch der Linguistik und der Psychologie zu beschäftigen. Mein Ziel ist die Bestimmung eines Systems von Begriffen, dass im Alltag und anderen Wissenschaften möglichst verständlich ist.

  • Zu den Auswahlkriterien

Bei der Auswahl geeigneter Wörter habe ich folgende Kriterien verwendet.

  1. Das Wort sollte nur eine Bedeutung haben.
  2. Bei mehreren Bedeutungen, sollten sich diese nicht erheblich unterscheiden oder es sollte eine Beschränkung auf eine oder wenige Bedeutungen erfolgen.
  3. Die Bedeutungen sollten sich möglichst wenig von den alltagssprachlichen Bedeutungen des Wortes unterscheiden.
  4. Das Wort sollte keine speziellen Bedeutungen in der Theologie haben.
  5. Die geringe Frequenz eines Wortes im Alltag oder in der Philosophie ist kein generelles Ausschlusskriterium. Das Wort sollte alltagssprachlich verständlich sein.

Zum Ausschluss von Wörtern mit speziellen Bedeutungen in der Theologie möchte ich folgendes feststellen. Die Wissenschaften Theologie und Philosophie sind heute in vielfacher Weise miteinander verflochten, insbesondere auch in den Köpfen vieler ihrer Wissenschaftler, wozu natürlich auch Hegel gehört. Das merkt man an bestimmten Betrachtungsweisen und Begriffsverwendungen, aber auch an institutionellen Gegebenheiten, wie etwa den sogenannten Konkordatslehrstühlen. Zur wissenschaftlichen Klarheit in beiden Disziplinen kann aus meiner Sicht eine begriffliche, inhaltliche und auch institutionelle Abgrenzung beitragen. Dies ist auch eine der Intensionen von Engels bei seiner Formulierung der Grundfrage der Philosophie.

Ein Merkmal der Neuen Philosophie ist ein terminologisches Minimalprinzip: Es sollten möglichst wenige Termini mit einem möglichst geringen Umfang verwendet werden. Dieses Prinzip war für mich eine der Grundlagen für mein Lehrbuch zur Didaktik des Mathematikunterrichts (Sill 2019).

Das Minimalprinzip knüpft an das Sparsamkeitsprinzip des englischen Philosophen Wilhelm von Ockham (1288-1347) an, das unter dem Namen „Ockhams Rasiermesser“ (Ockham’s razor) bekannt geworden ist und auch als Ökonomieprinzip bezeichnet wird.

  • Zu den verwendeten Methoden der Begriffsanalysen

Zu Ermittlung der Bedeutungen der Wörter im Alltag wird das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (www.dwds.de/) verwendet (DWDS). Den Angaben liegen Analysen in 27 Milliarden Belege aus historischen und gegenwartssprachlichen Textkorpora zugrunde. Weiterhin werden signifikante Kollokationen mit anderen Wörtern angeben.

Um die Bedeutungen der Wörter in der Philosophie genauer zu analysieren, werden die folgenden Wörterbücher und Enzyklopädien verwendet. Sie liegen auch in elektronischer Form vor, wodurch eine Suche nach den Wörtern im gesamten Text möglich ist.

  • Ritter u. a. (2007): Historisches Wörterbuch der Philosophie
  • Prechtl und Burkard (2008): Metzler Lexikon Philosophie
  • Sandkühler (2010): Enzyklopädie Philosophie

Es werden bei bestimmten Wörtern weiterhin Aussagen in der Linguistik untersucht. Dazu werden die folgenden Fachpublikationen herangezogen.

  • Glück und Rödel (2016): Metzler Lexikon Sprache
  • Meibauer u. a. (2015): Einführung in die germanistische Linguistik

Weiterhin werden bei einigen Wörtern Erkenntnisse der psychologischen und neurowissenschaftlichen Forschung zu den Momenten der Wörter zusammengestellt werden. Dazu werden folgende Fachbücher ausgewertet:

  • Becker-Carus und Wendt (2017): Allgemeine Psychologie
  • Müsseler und Rieger (2017): Allgemeine Psychologie
  • Kiesel und Spada (2018): Allgemeine Psychologie
  • Hoffmann und Engelkamp (2017): Lern- und Gedächtnispsychologie

Beispiele für Begriffsanalysen

Existierendes, Entität und Sein

Existierendes, existieren

Relative Häufigkeiten:

Wort

DWDS

HWPh

MLPh

EPh

Existierendes

0,0

1,5

2,7

0,3

existieren

31,0

15,0

21,8

18,9

Die Häufigkeiten beziehen sich beim  DWDS auf 1 Million Token im DWDS-Zeitungskorpus und bei den Lexika auf 100 Seiten.

Das Wort „existieren“ im Sinne von „da sein, vorhanden sein“ ist ein üblicher Bestandteil der Alltagssprache und wird auch mit der gleichen Bedeutung in der Philosophie verwendet. Es tritt zusammen mit seinen Verbformen (darunter auch „existierend“) in den philosophischen Wörterbüchern sehr häufig auf.

Im Alltag hat „existieren“ noch die Bedeutung von „auskommen, leben“, die in den philosophischen Wörterbüchern nicht identifiziert werden konnten und von der in meiner Verwendung abgesehen wird.

Das Wort „Existierendes“ wird zwar im Alltag äußerst selten verwendet, ist aber aufgrund seiner sprachlichen Bestandteile und seinem Bezug zu dem Verb „existieren“ im Alltag intuitiv verständlich. In den philosophischen Lexika wird es ebenfalls sehr selten verwendet, es ist keine Einschränkung auf bestimmte Arten des Existierenden erkennbar.

Bezüge der Wörter zu transzendenten bzw. theologischen Termini sind in der Literatur nicht erkennbar.

Der Wörter „Existierendes“ und „existieren“ erfüllen damit alle Anforderungen an die Auswahl von Termini.

Entität

Häufigkeiten:

Wort

DWDS

HWPh

MLPh

EPh

Entität

0,3

3,5

19,6

11,6

Insgesamt spricht folgendes gegen eine Verwendung des Wortes „Entität“ als Oberbegriff für alles Vorhandene. In der Alltagssprache wird dieser Terminus sehr selten verwendet und ist nicht intuitiv verständlich. In der Philosophie hat er mindestens zwei unterschiedliche Bedeutungen. Aus dem Umfang des Terminus werden mehr oder weniger offensichtlich Prozesse ausgeschlossen, die ein notwendiger Bestandteil des Existierenden sind.

Sein, Seiendes

Häufigkeiten:

Wort

DWDS

HWPh

MLPh

EPh

Sein

16942,0

56,2

82,7

38,6

Seiendes

0,1

33,4

38,3

13,3

In allen drei philosophischen Quellen werden zahlreiche Probleme benannt, die mit dem Terminus „Sein“ verbunden sind. So heißt es im Lexikon der Philosophie: Er sei „einer der grundlegenden, aber auch vieldeutigsten und bis in die Gegenwart umstrittenen Begriffe in der abendländischen Philosophie, dessen Bedeutung je nach Verwendung in einer bestimmten philosophischen Disziplin oder einem bestimmten Kontext erheblich variiert. … Innerhalb der modernen analytischen Philosophie fällt der Seinsbegriff einer z.T. vernichtenden Kritik anheim.“ (Prechtl und Burkard 2008, S. 544)

Zur Explikation des Begriffs „Existierendes“

Das Wort „Existierendes“ beschreibt die Gesamtheit dessen, was vorhanden ist, d.h. alle Zustände und Vorgänge außerhalb und innerhalb des Denkens.

Ein Merkmal des Existierenden ist sein ständiges Entstehen, Verändern und Vergehen.

Beim Gegenbegriff des Existierenden, dem Nichtexistierenden, können nichtexistierendes Objekt im Denken und nichtexistierende Objekte außerhalb des Denkens unterschieden werden. Zu den nichtexistierenden Objekten außerhalb des Denkens gehören alle die Objekte, die in Zukunft neu entstehen. Nichtexistierende Objekte im Denken umfasst alle Gedanken, Theorien und andere Objekte, die noch nicht vorhanden sind. Diese nichtexistierenden Objekte im Denken dürfen nicht mit dem Fiktiven verwechselt werden. Zum Fiktiven gehören Utopien und andere Zukunftsvorstellungen. Das Fiktive existiert.

Die Einheit des Existierenden und Nichtexistierenden ist die Welt als Ganzes, als Einheit von Zustand und Vorgang. Dies entspricht dem Verhältnis von Sein und Nichts bei Hegel. „Die Wahrheit des Seins sowie des Nichts ist daher die Einheit beider; diese Einheit ist das Werden“ (Hegel 1970, S. 188).

Gedankliches, Mentales, Kognitives, Psychisches, Geistiges und Ideelles

Auf die Einzelergebnisse kann aus Zeitgründen nicht eingegangen werden. Die Analysen haben ergeben, dass das Wort „Mentales“ die Kriterien zur Auswahl am ehesten erfüllt.

„Mentales“ und „Nichtmentales können in folgender Weise expliziert werden:

  • Mentales ist ein Zustand oder ein Vorgang der höheren Nerventätigkeit von Menschen.
  • Zu Erscheinungsformen des Mentalen gehören u. a. folgende Kategorien: Begriffe, Vorstellungen, Theorien, Einstellungen, Interessen und Fähigkeiten. Dabei handelt es sich jeweils um mentale Repräsentationen.
  • Mentales kann dem Menschen bewusst oder nicht bewusst sein.
  • Zum Nichtmentalen gehört alles, was außerhalb des Menschen existiert sowie die organischen Bestandteile und physischen Zustände und Vorgänge im Menschen
  • Mentale und nichtmentale Zustände und Vorgänge im Menschen bilden eine Einheit.

Entäußertes Mentales

Neben den Kategorien des Mentalen und Nichtmentalen halte ich es für sinnvoll, eine dritte Kategorie einzuführen. Das damit verbundene Anliegen soll am Beispiel des Begriffs „Wissen“ erläutert werden, der in zwei Bedeutungen verwendet werden kann.

„Wissen“ bezeichnet zum einen bestimmte Zustände bzw. Strukturen in einem menschlichen Gehirn, in denen alle Kenntnisse und Vorstellungen des jeweiligen Menschen zu einem bestimmten Wissensbereich gespeichert sind. Wenn ein Mensch sich zu seinem Wissen auf einem Gebiet äußert oder wenn in einem Fachbuch das Wissen zu einem Gebiet dargestellt ist, ändert sich der ontologische Charakter des Begriffs „Wissen“. Er ist in dieser Form nicht mehr Mentales, sondern Bestandteil der nichtmentalen Realität und kann Gegenstand von kommunikativen, unterrichtlichen oder wissenschaftlichen Prozessen sein.

Für den Begriff „Theorie“ ergibt sich, dass „Theorie“ einmal ein System von Gedanken und Vorstellungen im Kopf eines Menschen bezeichnet, zum Beispiel die philosophischen Vorstellungen im Kopf von Hegel, und zum anderen die Theorie, die in seinen schriftlichen oder mündlichen Darstellungen in Büchern oder Vorlesungen enthalten ist.

Das mündliche, schriftliche oder handlungsmäßige Äußern von Gedanken, Überlegungen, Gefühlen oder anderen mentalen Zuständen kann als Entäußerung bezeichnet werden.

Eine Unterscheidung der verschiedenen Bedeutungen dieser Wörter, wie etwa Wissen, erfolgt bisher nicht durch verschiedene Bezeichnungen oder sprachliche Zusätze. Es gibt nach meinen Analysen lediglich zwei Ausnahmen. In der pädagogischen Psychologie in der DDR wurde zwischen „Wissen“ als den Aneignungsgegenständen und „Kenntnissen“ als den Resultaten der Aneignung in Form von mentalen Zuständen im Kopf der Lernenden unterschieden. Heute wird in der Psychologie unter dem Wort „Konzept“ ein Begriff mentalen Sinne verstanden.

Als Bezeichnung für die neue Kategorie schlage ich „entäußertes Mentales“ vor. Das entäußerte Mentale hat folgende charakterisierende Merkmale:

  • Es ist ein Ergebnis mentaler Vorgänge der Verarbeitung von Gedanken, Begriffen, Theorien, Vorstellungen, Emotionen, Episoden und anderer mentaler Zustände.
  • Es existiert außerhalb des Mentalen.
  • Es existiert nicht selbstständig, sondern ist immer an einen nichtmentalen Träger gebunden.

Mögliche nichtmentale Träger für das entäußerte Mentale sind z. B. Schallwellen, Papier, elektronische Medien, Leinwände und Farben oder Werkstoffe für die Produktion von Möbeln. Das entäußerte Mentale ist Bestandteil von Produkten des menschlichen Schaffens. Das entäußerte Mentalen bildet mit seinem Träger eine Einheit. Die gedruckten Buchstaben in einem Text sind Träger der mit diesen Buchstaben ausgedrückten Gedanken. Ein Kunstwerk wie ein Musikstück, ein Bild oder eine Skulptur sind Träger der Vorstellungen, Gedanken oder Gefühle des Künstlers, der sie produziert hat. Ohne die darin ausgedrückten Gefühle und Gedanken wäre Musik nur Schallwellen, ein Bild nur Papier und Farben und eine Skulptur nur ein Stück Bronze.

Auch Industrieprodukte wie Möbel, Häuser oder Autos sind Träger von entäußerten Gedanken, Vorstellungen, Ideen und Kenntnissen der Konstrukteure, Architekten, Designer und anderer an der Konzipierung der Produkte beteiligten Personen.

Zur Unterscheidung der verschiedenen Bedeutungen der Wörter schlage ich vor, die Zusätze „im mentalen Sinne“ (i. m. S.) und „im entäußerten Sinne“ (i. e. S.) zu verwenden.

Die Idee zur Einführung der Kategorie des entäußerten Mentalen ist mir bei meinen Analysen zu den Wörtern „Wort“, „Terminus“ und „Begriff“ in der philosophischen, linguistischen und psychologischen Literatur gekommen. Dabei zeigte sich, dass es sehr unterschiedliche Auffassungen in diesen Wissenschaften zu den drei genannten Worten gibt. So wird etwa im Lexikon der Sprache festgestellt, dass „über den ontologischen Status des Begriffs […] von der griechischen Antike bis zur Gegenwart keine Einigkeit“ herrscht (Glück und Rödel 2016, S. 94). In der psychologischen Literatur wird das Wort „Begriff“ im engen Zusammenhang mit „Konzept“ und „Kategorie“ verwendet. Insgesamt ergibt sich ein ziemlich chaotisches Bild der Verwendung der Wörter in allen Wissenschaften. In der Philosophie, als der eigentlich zuständigen Disziplin wird über die Bezeichnungen in der Psychologie nicht reflektiert.

Zusammenstellung von ausgewählten Wörtern

Ich habe bisher 63 Wörter und teilweise auch Wortkombinationen in der beschriebenen Art und Weise analysiert und in drei Klassen eingeteilt: Wörter, die ich für geeignet, bedingt geeignet und nicht geeignet halte. Bedingt geeignet sind für mich Wörter, die nur in bestimmter Bedeutung verwendet werden sollten. In den umfangreichen Analysen, etwa zu den Wörtern „bewusst“, „Bewusstsein“ und „unbewusst“ (https://philosophie-neu.de/zu-den-termini-bewusst-bewusstsein-und-unbewusst/) habe ich die unterschiedlichen Bedeutungen der Wörter zusammengestellt und vorgeschlagen, in welcher Bedeutung die Wörter nur verwendet werden sollten.

Die Tabelle enthält eine Auswahl von Ergebnissen der Begriffsanalysen.

Geeignet

Bedingt geeignet

Nicht geeignet

Existierendes

 

Sein, Materie

Mentales

Bewusstsein

Geist, Psyche, Seele, Ideelles

Objekt

Gegenstand

Entität

Gegensatz

Widerspruch

Negatives

Vorgang

Prozess

 

Es ist ersichtlich, dass zentrale Begriffe wie Sein, Bewusstsein oder Geist, die in vielen philosophischen Arbeiten auftreten aus meiner Sicht in einer neu zu erschaffenden philosophischen Theorie nicht mehr oder nur eingeschränkt verwendet werden sollten. In Schriften zur Auseinandersetzung und Weiterentwicklung bisheriger Theorien müssen natürlich diese Wörter weiterhin verwendet werden. Dabei sollten dann die unterschiedlichen Bedeutungen der Wörter bzw. die Momente der betreffenden Begriffe berücksichtigt werden.

Texte aus der Phänomenologie in verständlicher Sprache

Nach den begrifflichen Vorbereitungen möchte ich ihn nun verdeutlichen, wie auf dieser Grundlage Texte von Hegel verständlicher gemacht werden können. Es sind, denke ich, zwei Ansätze erkennbar, zum einen umschreibe ich bestimmt Begriffe mit anderen Worten, zum anderen, und das ist der Hauptansatz, unterscheide ich zwischen Mentalem und entäußerten Mentalem.

Ich habe bisher das Kapitel zur sinnlichen Gewissheit und die Vorrede der Phänomenologie in dieser Weise neu formuliert. Neben dieser Übertragung der Texte in verständlicher Sprache untersuche ich auch bisherige Publikationen zu diesen Teilen der Phänomenologie. Für das Kapitel zur sinnlichen Gewissheit sind dies wie schon erwähnt 25 Texte und zur Vorrede sind es 8 Texte. Ich versuche, die für mich interessanten Gedanken aus diesen Texten herauszustellen und zusammenzufassen sowie eine Bewertung der Interpretationen vorzunehmen. Ich gehe bei der Übertragung der Hegelschen Texte absatzweise vor. Dadurch ist ein Vergleich mit den Originaltexten ohne die Probleme der Seitenkonkordanz der verschiedenen Ausgaben möglich. Die Vorrede besteht aus 72 Absätzen und die sinnliche Gewissheit aus 21 Absätzen.

Als Beispiel verwende ich die Überschrift und den ersten Absatz aus dem Kapitel zur sinnlichen Gewissheit. Der Originaltext lautet:

Die sinnliche Gewißheit oder das Diese und das Meinen Das Wissen, welches zuerst oder unmittelbar unser Gegenstand ist, kann kein anderes sein als dasjenige, welches selbst unmittelbares Wissen, Wissen des Unmittelbaren oder Seienden ist. Wir haben uns ebenso unmittelbar oder aufnehmend zu verhalten, also nichts an ihm, wie es sich darbietet, zu verändern und von dem Auffassen das Begreifen abzuhalten.“

Diesen Text habe ich in folgender Weise neu formuliert:

Bei der „sinnliche Gewissheit“ geht es um einen mentalen Zustand, um Wissen i. m. S., bei einem Menschen. Dieses Wissen i. m. S. ist Ergebnis eines Vorgangs der Verinnerlichung unmittelbar vorliegender Objekte. In dieser Phase der Erkenntnisgewinnung erfolgt noch keine weitere mentale Verarbeitung.

Es ist zu erkennen, dass ich einige Wörter von Hegel verwende bzw. darauf Hinweise, die ich für verständlich halte. Die Einordnung des Begriffs „sinnliche Gewissheit“ und die Verwendung von „Wissen“ an dieser Stelle als mentale Zustände eines Menschen sind für mich der entscheidende Gedanke zum Verständnis des Textes.

Das Wort „Objekt“ verwende ich für alles, was existiert, also auch für Begriffe oder Theorien. Dies beinhaltet eine gewisse Erweiterung der Hegelschen Sicht, der im weiteren Text als Beispiele für die Erkenntnisobjekte nur Objekte der Realität wie ein Baum, ein Haus oder ein Blatt Papier verwendet.

Man muss aus meiner Sicht nicht auf Formulierungen von Hegel eingehen, die für den Inhalt seiner Aussagen nicht wesentlich sind. So verwendet Hegel hier das Wort „Gegenstand“ für das Objekt der Betrachtungen, also das Wissen i. m. S.

Die Interpretation der sinnlichen Gewissheit als mentaler Zustand wird von den von mir analysierten 25 Interpreten durchaus nicht bei allen so gesehen. Auf die verschiedenen Auffassungen ihre Diskussion kann ich aus Zeitgründen nicht eingehen.

Zur Anwendung von Hegels Überlegungen im Alltag und in der Wissenschaft

In dem Kapitel zur sinnlichen Gewissheit weist Hegel an einfachen Beispielen nach, dass dieser mentale Zustand den Anforderungen an eine wissenschaftliche Erkenntnis nicht genügt. Dies wird von vielen Interpreten ausschließlich negativ gedeutet, die sinnliche Gewissheit wurde falsifiziert, ist zu Grunde gegangen oder hat sich überholt. Keiner beschäftigt sich mit der Frage, ob und wie man die Überlegungen von Hegel auf wissenschaftliche oder persönliche Erkenntnisprozesse anwenden kann. Ich sehe durchaus einige Möglichkeiten.

Aus Sicht der Gewinnung wissenschaftlicher Kenntnisse, das sein eigentliche Anliege von Hegel, ist dieses Niveau der Erkenntnis natürlich zu überwinden. Es ist aber für einen Wissenschaftler durchaus eine notwendige Phase sein Erkenntnisgewinnung, wenn man die infrage kommenden Objekte auf ungelöste Fragen in Theorie und Praxis reduziert. Die Erfassung eines Problems ist immer der erste Schritt eines wissenschaftlichen Erkenntnisvorgangs. Ich muss mir sicher sein, dass ein Problem existiert, das einer wissenschaftlichen Bearbeitung bedarf. Diese Sicherheit gewinne ich vor allem durch meine Sinneseindrücke von realen Zuständen und Vorgängen.

Das Defizitäre dieses Zustandes ist eigentlich für jeden Wissenschaftler eine triviale Angelegenheit und hätte aus dieser Sicht nicht eines solchen argumentativen Aufwandes, wie Hegel in vornimmt, bedurft. Ich halte die Gegenargumente von Hegel, auch in ihrer Einfachheit, vor allem im Hinblick auf nichtwissenschaftliche Erkenntnisprozesse für bedeutsam. Der Zustand der sinnlichen Gewissheit ist in diesen Fällen oft kein Zwischenstadium, sondern Endresultat der individuellen Erkenntnisgewinnung. Die Kenntnisse und ersten Eindrücke, die man von den Eigenschaften eines anderen Menschen, einer Partei, der politischen Lage in einem Land oder auch von Theorien bekommt, werden als gewiss angesehen. Man muss auch davon ausgehen, dass die Menschen, man denke etwa an die sogenannten Querdenker, fest davon überzeugt sind, dass ihre Ansichten stimmen, da sie ja auf eigenen Wahrnehmungen beruhen und damit die die „reichste“ und „wahrhafteste“ Erkenntnis sind. Eine Problematisierung dieser Ansichten ist also schwierig, nach Hegel könnten folgende Ansätze versucht werden. Auf seine Beispiele und Argumente, die den folgenden Ansätzen zugrunde legen, gehe ich aus Zeitgründen nicht ein.

  • Man könnte darstellen, dass das konkrete Objekt, von dem ausgehend die Gewissheit gewonnen wurde, genauso gut auch ein anderes sein könnte. Wenn etwa von konkreten Handlungen eines Menschen auf seinen Charakter geschlossen wird, so könnte man andere Handlung dieses Menschen präsentieren, aus denen sich ganz andere Schlussfolgerungen für den Charakter geben.
  • Man könnte darstellen, dass andere Menschen zu ganz anderen Einschätzungen über das Objekt gekommen sind. Wenn jemand etwa die Politik einer Partei negativ einschätzt, könnte man ihm Einschätzungen anderer Person präsentieren, die die Partei ganz anders einschätzen.
  • Man könnte herausstellen, dass sich die gewonnenen Einsichten auf etwas Vergangenes beziehen, dass in dieser Form nicht mehr existiert. So sind die Handlungen eines Menschen, aus denen man auf seinen Charakter geschlossen hat, bereits Geschichte. Der Mensch kann sich in der Zeit von diesen Handlungen bis zum heutigen Zeitpunkt durchaus verändert haben. Dies betrifft auch Einschätzungen zur Situation in gesellschaftlichen Bereichen, wie der Umwelt- oder Energiepolitik.
  • Man könnte herausstellen, dass die in den Einschätzungen über das jeweilige Objekt verwendeten Begriffe einen allgemeinen Charakter haben, obwohl sich die „Gewissheiten“ nur auf Einzelfälle beziehen. Wenn z. B. eine erfahrene Mathematiklehrkraft feststellt, dass ihre Schülerinnen und Schüler immer Schwierigkeiten haben, die Prozentrechnung zu verstehen, so können folgende Fragen aufgeworfen werden:
    • Was heißt „Schülerinnen und Schüler“?
    • Was heißt „Prozentrechnung“? Um welches formale und inhaltliche Verständnis des Prozentbegriffs geht es?
    • Was heißt „verstehen“? Was sollen die Schüler über ihre Vorstellungen zum Prozentbegriff sagen können?

Sie sehen, dass mein eigenes Metier, der Mathematikunterricht, mir immer wieder als Beispiel der philosophischen Überlegungen dient. Weitere Beispiele, die ich immer gerne verwende sind die Liebe und das Licht. Dieter Henrich hat nachgewiesen, dass Hegels Grundeinsicht von der Einheit der Gegensätze durch die Überlegungen seines Freundes Hölderlin zum Wesen der Liebe ausgelöst wurde.

Literaturverzeichnis

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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 8. 1. bis 10. Tausend. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Theorie Werkausgabe).

Hoffmann, Joachim; Engelkamp, Johannes (2017): Lern- und Gedächtnispsychologie. 2., überarbeitete Auflage. Berlin, Heidelberg: Springer (Springer-Lehrbuch).

Kiesel, Andrea; Spada, Hans (Hg.) (2018): Lehrbuch Allgemeine Psychologie. Unter Mitarbeit von Karl-Heinz T. Bäuml. Hogrefe-Verlag. 4., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Bern: Hogrefe. Online verfügbar unter https://elibrary.hogrefe.de/9783456956060/.

Meibauer, Jörg; Demske, Ulrike; Geilfuß-Wolfgang, Jochen; Pafel, Jürgen; Ramers, Karl Heinz; Rothweiler, Monika; Steinbach, Markus (2015): Einführung in die germanistische Linguistik. 3., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler.

Müsseler, Jochen; Rieger, Martina (Hg.) (2017): Allgemeine Psychologie. 3. Auflage. Berlin, Heidelberg: Springer.

Ostritsch, Sebastian (2020): Hegel. Der Weltphilosoph. 2. Aufl. Berlin: Propyläen (Ullstein Buchverlage).

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Sandkühler, Hans Jörg; Borchers, Dagmar; Regenbogen, Arnim; Schürmann, Volker; Stekeler-Weithofer, Pirmin (Hg.) (2010): Enzyklopädie Philosophie. In drei Bänden mit einer CD-ROM. Hamburg: Meiner.

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Stekeler-Weithofer, Pirmin (2000): Vergesst Hegel? Replika auf Schnädelbach. In: Information Philosophie 28 (5), S. 70–75.

Vieweg, Klaus (2020): Hegel. Der Philosoph der Freiheit : Biographie. München: C.H. Beck.

Weischedel, Wilhelm (1997): Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen in Alltag und Denken. Ungekürzte Ausg., 27. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch-Verl. (DTV, 30020).