Hans-Dieter Sill, 21.11.2021

Vorschläge für eine langfristige Strategie der Partei DIE LINKE

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  1. Die Problemlage

Die Wahlergebnisse der Partei haben sich in den letzten Jahren kontinuierlich verschlechtert. Mit der Bundestagswahl 2021 wurde ein Tiefpunkt erreicht. Es gibt massive Forderungen, aus dieser Entwicklung Konsequenzen zu ziehen. So forderte unsere Co-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow am Wahlabend dazu auf, die Partei neu zu entwickeln. Gregor Gysi fragt: „Welchen Platz hat Die Linke im politischen System der Bundesrepublik, was ist das unverwechselbar Eigene …? (nd, 02.10.21). In zahlreichen weiteren Beiträgen wird eine Erneuerung der Partei, insbesondere eine neue Bestimmung ihrer Strategie gefordert. Darin sehen die meisten Autoren die Hauptursache für die Wahlniederlagen.

„Obgleich die unterschiedlichen Zusammenschlüsse in der Partei konstruktiv und lebhaft die Ursachen der Niederlage diskutieren, ist der Prozess der Tiefenanalyse im Parteivorstand nach meinem Eindruck noch nicht in Gang gekommen“ stellt Hans Modrow fest (jW, 12.10.21). Der Bundesausschuss fordert in seinem Beschluss vom 10.10.2021, „den 2020 abgebrochenen Prozess der innerparteilichen Strategiedebatte gemäß der eigenen Beschlusslage wieder anzustoßen.“ Auch aus dem Strategiepapier, das die wiedergewählten Fraktionschefs Dietmar Bartsch und Amira Mohamed Ali als Diskussionsgrundlage für eine zweitägige Klausur erstellt hatten, ist eine neue Strategie nicht erkennbar (Stemmler, jW, 29.10.21).

  1. Das Alleinstellungsmerkmal der Partei

Wir sind die einzige der gegenwärtig im Bundestag und den Landtagen vertretenen Parteien, deren originäres Anliegen nicht der Erhalt des ökonomischen Systems des Finanzkapitalismus ist. Unser Alleinstellungsmerkmal ist deshalb eine antikapitalistische Grundorientierung.

Gegen eine antikapitalistische Grundorientierung könnten folgende Argumente eingewandt werden.

  • Die Zeit ist noch nicht reif, die Linke ist viel zu schwach, um solche Ziele umzusetzen.
    Dagegen spricht: Wenn wir die Jugend begeistern wollen, muss sie Ziele haben, für die man kämpfen muss. Mit der Verschönerung unserer Heimat können wir keinen hinterm Ofen hervorlocken. Wenn wir uns das Ziel nicht setzen, werden wir es nie erreichen.
  • Das Ziel lenkt ab von dem gegenwärtigen, im Mittelpunkt stehenden Kampf um die Verbesserung der Lage der Bürger.
    Dagegen spricht: Beim Kampf um aktuelle Veränderungen ist der Blick auf das Grundsätzliche und künftig Mögliche oft hilfreich und sogar nötig, wie folgende Beispiele zeigen. Beim Kampf um soziale Gerechtigkeit, um gleiche Bildung für alle oder um mehr finanzielle Mittel des Staates für die Daseinsvorsorge lassen sich die durch das ökonomische System bedingten Grenzen dieses Kampfes aufzeigen. Es muss verdeutlicht werden, dass sich der Kampf um die Rettung der Welt vor den drohenden ökologischen Katastrophen unter den Bedingungen eines profitorientierten Systems des Finanzkapitalismus nicht gewinnen lässt. Damit gehen wir über die viel zu kurz greifenden Ansätze der aktuellen Klimadebatten hinaus. Es geht nicht nur um das Klima und um einen grünen Kapitalismus.
  • Ein erklärter Antikapitalismus als Hauptziel führt zu Problemen mit der Verfassung.
    Dagegen spricht: Antikapitalismus ist nicht verfassungsfeindlich. Das setzt voraus, dass zusammen mit der antikapitalistischen Grundorientierung ein klares Bekenntnis zur Verfassung und der damit verbundenen freiheitlich-demokratischen Grundordnung erfolgt. In der bundesdeutschen Verfassung ist das Wirtschaftssystem nicht vorgeschrieben.
  • Eine antikapitalistische Grundorientierung könnte mögliche Regierungspartner verprellen.
    Dagegen spricht: Eine solche Grundorientierung widerspricht nicht dem Engagement der Partei zu Verbesserung der aktuellen Situation, dass die Grundlage für Regierungskoalitionen ist. Mit dem klaren Bekenntnis zu demokratischen Grundwerten wird die Debatte auf die Auseinandersetzung um eine sinnvolle ökonomische Struktur der Gesellschaft verlagert.
  1. Zur Entwicklung einer neuen Strategie

Mit einer antikapitalistischen Grundorientierung ist sowohl alles als auch nichts gesagt. Es muss eine konkrete Strategie für den Kampf um eine Erneuerung der Gesellschaft vorhanden sein. Da diese nicht existiert, geht es zunächst um eine Strategie zur Entwicklung einer solchen Strategie. Dieser Entwicklungsprozess sollte die folgenden zwei Schwerpunkte haben.

3.1 Erneuerung der philosophischen Grundlagen linker Politik

Ich halte die philosophischen und gesellschaftspolitischen Grundlagen, wie sie insbesondere vom Institut für Gesellschaftsanalyse (IfG) der Rosa-Luxemburg-Stiftung entwickelt wurden, für nicht ausreichend. Das Forschungsparadigma des Instituts ist die Transformationsforschung. Das entwickelte Konzept einer großen Transformation ist ein Mittelding zwischen Reform und Revolution. „Als erste Seite einer doppelten Transformation in Deutschland und in großen Teilen Europas ist für eine lange Zeitspanne im besten Falle eine progressive demokratische Transformation zu erwarten, die stärker sozial und ökologisch orientiert ist als bisher – unter der notwendigen Voraussetzung einer Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nach links“ (Dieter Klein & Mario Candeias, ABC der Transformation: Doppelte Transformation, Heft 01/2017, S. 124-129).

Dass diese Herangehensweise nicht zu Lösung der aktuellen Probleme beigetragen hat, zeigt unter anderem der Beitrag von Horst Kahrs, einem verantwortlichen Mitarbeiter des IfG, am 28.09. im nd, in dem er beklagt, dass die Partei kein strategisches Ziel hat und eine Reihe von Fragen aufwirft, für deren Beantwortung er eigentlich mit zuständig ist. Ursachen für die theoretischen Auffassungen sind die Ausrichtung an der „kritischen Theorie“, die insbesondere von Theodor W. Adorno geprägt wurde, der mit seiner „negativen Dialektik“ viele wesentliche Kerngedanken der Hegelschen Dialektik ablehnt, sowie an den Auffassungen des Politikwissenschaftlers Nicos Poulantzas (1936-1979), der das Hauptfeld des Kampfes für einen demokratischen Sozialismus in der Eroberung der politischen Macht sieht bei Beibehaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse in einer ersten Phase. Das IfG hat es bisher versäumt, eine fundierte Auseinandersetzung mit vielen anderen Ansätzen wie etwa dem dialektischen und historischen Materialismus, den Auffassungen von Meinhard Creydt, Dietmar Dath oder Sahra Wagenknecht vorzunehmen.

Ich halte eine grundlegende Erneuerung der philosophischen Grundlagen linker Politik für erforderlich. Dabei kommt dem IfG aufgrund seiner finanziellen und personellen Ressourcen mit gegenwärtig 26 fest angestellten und 14 assoziierten Mitarbeitern sowie sechs langfristigen Fellows eine besondere Verantwortung zu. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat weiterhin etwa 120 Vertrauensdozenten, von denen viele in den Prozess der philosophischen Erneuerung einbezogen werden können. Die politischen Stiftungen in Deutschland haben das Ziel „durch Wissenschaftsförderung, politische Forschung und Beratung Grundlagen politischen Handelns zu erarbeiten …“ (Gemeinsame Erklärung zur staatlichen Finanzierung der politischen Stiftungen).

Ein Prozess der Erneuerung besteht im Anschluss an die Theorie der dialektischen Aufhebung von Hegel aus folgenden drei Momenten.

  • Erhalten des zu Bewahrenden,
  • Beseitigen wesentlicher Elemente des Gegenwärtigen,
  • Schaffung wesentlicher Momente einer neuen Entwicklungsstufe

Im Ergebnis dieses Gesamtprozesses entsteht dann eine neue linke Philosophie, die Orientierungen für das Ziel und den Verlauf der politischen Kämpfe liefert. Dabei kommt der Entwicklung eines klaren und verständlichen Begriffssystems eine besondere Bedeutung zu.

3.2 Entwicklung eines Konzeptes zur Erneuerung der Gesellschaft

Während die Erneuerung linker Philosophie schon jetzt in Angriff genommen werden kann und muss, geht es bei der Erneuerung der Gesellschaft zunächst um die Entwicklung eines Konzeptes.

Das bedeutet, dass zunächst das zu Bewahrende, das zu Beseitigende und das zu Schaffende bestimmt werden müssen. Dies kann nur in einem gemeinschaftlichen Vorhaben mit Vertretern aus allen gesellschaftlichen Bereichen erfolgen. Es gibt in allen Schichten der Gesellschaft eine breite, mehr oder weniger klar artikulierte Unzufriedenheit mit vielen aktuellen Zuständen. Diese Unzufriedenheit aufzugreifen, zu bündeln sowie in konstruktive und ergebnisorientierte Bahnen zu lenken, ist die Aufgabe der Linken. Ich schlage vor, bundesweite Arbeitsgruppen zu bilden mit linken Parlamentariern, Wissenschaftlern, Finanzökonomen, Medizinern, Künstlern, Militärs, Umweltschützern, Richtern, Händlern, Stadtplanern, Arbeitern, Bauern und anderen. Das Vorauszusetzende und Verbindende aller Mitglieder der Arbeitsgruppen sollte die antikapitalistische Grundorientierung sein, d. h. das Streben nach Überwindung des finanzkapitalistischen Wirtschaftssystems.

Die Fragen der Organisation und inhaltlichen Verantwortung für die Arbeit der Projektgruppen sollte in einem erneuerten IfG der RLS liegen.

In diesen Projektgruppen sollten die gegenwärtigen Zustände in den jeweiligen Bereichen kritisch analysiert, die Befindlichkeiten der gesellschaftlichen Gruppen zusammengetragen, die Funktionsweisen dargestellt sowie die Hintergründe offengelegt werden. Beispiele sind:

  • Wie funktionieren Parlamente wirklich?
  • Welche Strukturen behindern die Entwicklung von Wissenschaft?
  • Welche Rolle spielen Börsen im Finanzkapitalismus?
  • Wie beeinflussen private Krankenkassen das Gesundheitswesen?
  • Welche Filme oder andere Produkte der Kunstindustrie sind inhuman?
  • Wie hoch sind die Gewinne in der Rüstungsindustrie?
  • Warum bekommt man vor Gericht nicht recht, wenn man recht hat?
  • Warum werden Handelsketten so reich? Warum wird so viel produziert, was man nicht braucht? Auf welche Produkte kann verzichtet werden?

Im Ergebnis der Analysen sollte auch dargestellt werden, was es an erhaltenswerten Elementen im gegenwärtigen System gibt. Und es wird sich mit Sicherheit herausstellen, worin die wesentlichen Gründe für die Probleme liegen und was demzufolge beseitigt werden muss.

Eine weitere Aufgabe der Projektgruppen ist die Entwicklung neuer Modelle in den jeweiligen Bereichen unter den Bedingungen einer künftigen Gesellschaftsordnung. Dabei müssen dann auch alle international vorliegenden Entwürfe diskutiert werden.

Aus der Summe der Vorstellungen kann dann ein Gesamtmodell als Ziel gesellschaftlicher Veränderungen entwickelt werden. Ein zentrales Problem sind Vorstellungen zum Funktionieren eines wirtschaftlichen Systems auf der Grundlage des Gemeineigentums an Produktionsmitteln in wesentlichen Bereichen der Wirtschaft.

Aus der Sicht dieses Modells können dann Überlegungen über mögliche Aktivitäten zu partiellen Veränderungen im gegenwärtigen System angestellt werden. Es können Prozess unterstützt werden, die dann unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen weitergeführt werden können. Beispiele sind:

  • Aktivitäten zu neuen Formen der partizipativen Demokratie,
  • eine Revision des Systems Krankenkassen nach dem Modell in Dänemark,
  • Aktivitäten zu Unterstützung humanistischer Kunst,
  • Aktivitäten zu Unterstützung der Entwicklungsländer, zum Beispiel durch Einführung einer Solidaritätsabgabe auf alle baulichen Investitionen staatlicher oder privater Träger über einem Wert von 1 Million € in Höhe von 2 % der Bausumme an die jeweilige Kommune, wie diese in eigener Verantwortung für Projekte in Entwicklungsländern einsetzt.

Ein weiteres Ziel der Arbeit in Projektgruppen sind Überlegungen zum Prozess des Übergangs zu neuen Strukturen in den betreffenden Bereichen. Beispiele sind:

  • Durch welche konkreten Maßnahmen kann das System der Börsen abgeschafft werden?
  • Welche Möglichkeiten zur Konversion in der Rüstungsindustrie sind realistisch?
  • Wie können die freiwerdenden Mittel aus der Rüstung sinnvoll in den Entwicklungsländern eingesetzt werden?
  • Was passiert mit den Betrieben, die ihre Produktion aufgrund der radikalen Reduzierung der Anzahl der Produktion von bestimmten Waren einstellen müssen?

Die entwickelten Materialien Konzepte müssen in geeigneter Weise öffentlichkeitswirksam gemacht werden. Dazu sollte an einen eigenen TV-Kanal oder zumindest YouTube-Kanal gedacht werden.