Analysen zum Begriff „Dasein“

Das Wort „Dasein“ wird in philosophischen Lexika häufig verwendet. Eine Ursache ist seine Rolle, die es bei der Diskussion ontologischer Grundbegriffe in der Geschichte der Philosophie gespielt hat. Die Analyse von philosophischen und theologischen Lexika zeigt, dass sich die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs als Bezeichnung für Gesamtheiten von nichtmentalen und mentalen Existierenden, die noch Hegel verwendete, in der Existentialontologie Heideggers als auch in der Existenzphilosophie Jaspers’ und dem Existentialismus Sartres auf die umgangssprachliche Verwendung für menschliches Leben eingeengt hat. Daneben gibt es noch weitere Bedeutungen in der Theologie und im logischen Positivismus, sodass der Begriff insgesamt als philosophischer Terminus nicht geeignet ist.

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Analysen zum Begriff „Dasein“

Hans-Dieter Sill, 06.04.2024

Analysen zum Begriff „Dasein“

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Vorbemerkungen

Zu Ermittlung der Bedeutungen der Wörter im Alltag wird das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (www.dwds.de/) verwendet (DWDS). Um einen Eindruck von der Häufigkeit der Verwendung des Wortes im Alltag zu bekommen wird für die Jahre 2015-2019 bzw. 2016-2020 die Häufigkeit pro 1 Million Token (Frequenz) im DWDS- Zeitungskorpus sowie Kollokationen mit anderen Wörtern angegeben. Als Assoziationsmaß wird logDice verwendet. Es werden die Kollokationen mit den 5 höchsten logDice-Werten und ihre Frequenzen (in Klammern) angeführt.

Um die Bedeutungen der Wörter in der Philosophie genauer zu analysieren, werden die folgenden Wörterbücher und Enzyklopädien verwendet. Sie liegen auch in elektronischer Form vor, wodurch eine Suche nach den Wörtern im gesamten Text möglich ist.

  • Ritter u. a. (2007): Historisches Wörterbuch der Philosophie (HWPh)
  • Prechtl und Burkard (2008): Metzler Lexikon Philosophie (MLPh)
  • Sandkühler (2010): Enzyklopädie Philosophie (EPh)

Weiterhin werden folgende theologische Wörterbücher verwendet, um die Bedeutungen der Wörter in der Theologie zu ermitteln.

  • Kasper (1993-2001): Lexikon für Theologie und Kirche (LTK)
  • Betz u. a. (2007): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, (RGG4)

Auswertungen

Häufigkeiten

Wort

DWDS

HWPh

MLPh

EPh

Dasein

3,9

20,3

26,7

10,9

In der Alltagssprache wird das Wort „Dasein“ selten verwendet. Es hat nach dem DWDS folgende Bedeutungen:

  1. Leben: ein glückliches, menschenunwürdiges, trauriges Dasein

        Lebensbedingungen: nach einem besseren Dasein streben

  1. das Bestehen, die Existenz: das Dasein Gottes leugnen; der Kampf ums Dasein
  2. [selten] Anwesenheit, Vorhandensein: sein bloßes Dasein genügte

Die Kollokationen sprechen dafür, dass vorrangig die erste Bedeutung verwendet wird:

fristen (11.7, 4219), kümmerlich (9.7, 376), menschenwürdig (9.7, 451), da (9.6, 8), irdisch (9.4, 529).

Im HWPh und in MLPh kommt das Wort häufig und in der EPh seltener vor.

Zur Analyse der Begriffsgeschichte und der Begriffsverwendungen werden folgende Artikel aus philosophischen und theologischen Lexika herangezogen.

  • HWPh: Stichwort „Dasein“, Ulrich Wienbruch (2007)
  • MLPh: Stichwort „Dasein“, Franz-Peter Burkard (2008)
  • EPh: Stichwort „Dasein“, Bärbel Frischmann (2010)
  • LTK: Stichwort „Dasein“, Carl Friedrich Gethmann (1993-2001)
  • RGG4: Stichwort „Dasein/Daseinsanalyse“, Michael Großheim (2007)

Zur Begriffsgeschichte

Das Wort „Dasein“ wurde von Chr. Wolff (1679-1754) als Übersetzung des Lateinischen „existentia“ in die Philosophie eingeführt (Wienbruch 2007, S. 15). Danach haben sich viele bedeutsame Philosophen mit dem Begriff beschäftigt, darunter A. G. Baumgarten, J. H. Lambert, C. A. Crusius, M. Mendelssohn, F. H. Jacobi, I. Kant, G. F. W. Hegel, F. W. J. Schelling, J. G. Fichte, L. Feuerbach, S. Kierkegaard, A. Schopenhauer, Fr. Nietzsche, N. Hartmann, K. Jaspers und M. Heidegger. Dies ist eine Folge der Bedeutung des Begriffs bei der Behandlung grundlegender ontologischen Fragen.

Im Laufe der Begriffsgeschichte hat sich der Hauptinhalt des Begriffs verändert. Während zu Beginn mit dem Begriff Gesamtheiten von nichtmentalen und mentalen Existierenden erfasst werden sollten, hat sich die Bedeutung im Sinne der umgangssprachlichen Verwendung auf das Leben von Menschen verlagert. Die Neuorientierung setzt mit Kierkegaard ein, indem er in seiner Kritik an Hegel das spezifisch menschliche Dasein in den Blick nimmt. Die Kierkegaardsche Wendung des Blicks auf das Dasein des Menschen findet ihren Niederschlag sowohl in der Existentialontologie M. Heideggers als auch in der Existenzphilosophie K. Jaspers’ und dem Existentialismus J.-P. Sartres (Gethmann 1993-2001). Die wirkungsmächtigste und prägnanteste Bestimmung von Dasein hat Martin Heidegger in Sein und Zeit (1927) entwickelt. ›Dasein‹ wird hier von Heidegger gewählt, um die Spezifik des ­Menschen zu beschreiben, nämlich seine Fähigkeit, die Welt sinnhaft zu erschließen, zu den Geschehnissen, Gegebenheiten und sich selbst in ein Verhältnis zu treten, über sich selbst zu reflektieren, zu sich selbst Stellung zu beziehen (Frischmann 2010, 345). Nach Großheim (2007) bezeichnet Heidegger mit Dasein die Seinsart des Menschen. In der Theologie ist Dasein mit dem Gottesbegriff verbunden (Großheim 2007). Seit Frege und im logischen Positivismus ist die Deutung des Daseins als Nichtleerheit eines Begriffsumfangs üblich (Großheim 2007).

Probleme der Begriffsverwendung

Dasein als ontologischer Grundbegriff

In der ursprünglichen, auf Chr. Wolff zurückgehenden Bedeutung, ist Dasein (existentia) der Gegenbegriff zu Essenz (essentia), Dasein bezeichnet, „dass etwas ist“ und Essenz „was etwas ist“. Das Dasein ist als dem Denken gegenüberstehend konzipiert: Das Dasein eines Gegenstandes ist nicht aus seinem eigenen Begriff, sondern nur aus der Erfahrung erschließbar (Gethmann 1993-2001). Dasein bezeichnet nach I. Kant nicht das Denken der Merkmale eines Dinges im Verhältnis zu seinem Begriff, sondern die „absolute Position der Sache selbst“ mit ihren Bestimmungen nach Gesetzen des empirischen Zusammenhanges der Erscheinungen (Wienbruch 2007, S. 16).

Feuerbach versteht unter Dasein „‘Existenz‘ im Sinne des unmittelbaren Hierseins“ (Wienbruch 2007, S. 19). Nach N. Hartmann ist unter dem Moment des Daseins „das nackte ‚daß überhaupt es ist‘ zu verstehen“. Allerdings gibt es in der Welt dieses allgemeine Dasein nur als abstrakten Grenzfall, so daß das Dasein nur gewichtig ist in der Realsphäre (Wienbruch 2007, S. 20).

Hegel unterscheidet das qualitätslose und vollkommen unbestimmte ›Sein‹ vom Dasein als dem qualitativ durch konkrete Eigenschaften bestimmten Sein (Frischmann 2010, 344u).

Dasein als Wirklichkeit in Abgrenzung zur Möglichkeit

  1. Wolff versteht unter Dasein die „Ergänzung der Möglichkeit“. Möglich ist das widerspruchsfrei Denkbare; wirklich das, was sowohl in der ununterbrochenen Reihe der aufeinanderfolgenden Dinge seinen zureichenden Grund hat als auch vollständig bestimmt ist (Wienbruch 2007, S. 15).

Bei Kant gehört Dasein bzw. negativ ›Nichtsein‹ neben ›Möglichkeit‹ und ›Notwendigkeit‹ zu den Kategorien der Modalität (Frischmann 2010, 344u).

Zufälliger Charakter des Daseins, Erkennbarkeit

Im Unterschied zu den Wesensmerkmalen eines Gegenstandes verdankt dieser sein Dasein ihm äußerlichen, zufälligen Ursachen. Dasein gilt daher dem Rationalismus nicht als Gegenstand der philosophischen Wissenschaft, weil diese sich auf die zeitlos bestimmbaren, wesensmäßigen Möglichkeiten eines Seienden bezieht. Durch sein Dasein werden dem Begriff eines Gegenstandes keine neuen Bestimmungen hinzugefügt, in ihm zeigt sich lediglich ein unvorhersehbarer Zusammenhang von Einzelbestimmungen (Burkard 2008).

Dasein und Sosein

Max Scheler grenzt in kritischer Anknüpfung an die ­Phänomenologie das Dasein vom Sosein der Dinge ab. Durch die perzeptiven Akte erhalten wir immer nur »das (zufällige) Sosein der Dinge, niemals ihr Dasein. Was uns das Dasein (= Wirklichsein) gibt, das ist vielmehr das Erleben des Widerstandes der schon erschlossenen Weltsphäre«. Schelers Konzept zufolge verbürgt der »erlebte Widerstandseindruck« die Existenz der Dinge, d.h. ihr Dasein überhaupt, wohingegen die konkreten Erkenntnisakte dann die Dinge in ihrer jeweiligen Beschaffenheit und ihrer Gegenständlichkeit für den Menschen, d.h. ihr bestimmtes Sosein, erschließen (Frischmann 2010, 344u).

Gegen eine Spaltung des Erkenntnisgegenstandes in Dasein und Sosein wendet sich N. Hartmann. Nach ihm hat jedes Seiende notwendig die Momente des Soseins und Dasein an sich, die sowohl aufeinander bezogen als auch in gewisser Weise unabhängig voneinander sind (Wienbruch 2007, S. 20).

Dasein eines Menschen

Jaspers verwendet den Begriff „Dasein“ schon in seiner Psychologie der Weltanschauungen (1919) zur Kennzeichnung der menschlichen Seinsweise (Frischmann 2010, 344u). Er bezeichnet Dasein das je meinige Leben in seiner Welt. Es ist der Erlebnisraum des Menschen, in den alles eintreten muss, was für ihn wirklich sein soll. Dasein wird bei ihm unterschieden von Existenz, die die im Dasein zur Erscheinung kommende Wirklichkeit meines eigentlichen Seinkönnens ist (Burkard 2008).

Heidegger bestimmt den Menschen selbst als Dasein. Dasjenige Sein, das ich als Dasein selbst bin und zu dem sich das Dasein als zu seinem eigenen verhält, nennt Heidegger Existenz (Burkard 2008).

Sartre hat die Vorrangigkeit des Daseins in die Formel gefasst, dass beim Menschen die Existenz seiner Essenz vorausgeht, er somit das ist, wozu er sich macht (Burkard 2008).

Ausgehend von Phänomenologie und ­Existenzphilosophie sind Konzepte von Dasein auch in der Psychologie und Psychiatrie verankert worden. Ludwig Binswanger veröffentlicht 1942 ein umfassendes Werk mit dem Titel Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, das den Anspruch hat, die anthropologischen Grundlagen der Psychologie und Psychiatrie herauszuarbeiten; es ist entscheidend beeinflusst von Heideggers Daseinsanalyse in Sein und Zeit (Frischmann 2010, 344b).

Gesamteinschätzung

Die Begriffsanalysen zeigen, dass sich die Bedeutung des Begriffs „Dasein“ bis in die Neuzeit hinein verändert hat. Es gibt in der Philosophie keine übereinstimmende Auffassung zu dem Begriff. In der Enzyklopädie Philosophie heißt es: „Für den philosophischen Begriffsgebrauch hat sich keine eindeutige inhaltliche Bestimmung herauskristallisiert“ (Frischmann 2010).

In der ursprünglichen Bedeutung war Dasein für viele Philosophen ein ontologischer Grundbegriff. So verstand etwa Hegel unter Dasein bestimmtes Sein, wobei Sein ein bestimmungsloser Grundbegriff ist. Dasein ist „das einfache Einssein des Seins und Nichts“, als „ein Erstes, von dem ausgegangen werde“ (WL I, S. 116). Eine solche sprachliche Unterscheidung zwischen einem axiomatisch festgelegten Grundbegriff und seiner Interpretation halte ich nicht für erforderlich.

Die Verwendung von „Dasein“ im Sinne des Lebens eines Menschen entspricht der alltagssprachlichen Bedeutung und rechtfertigt nicht die Definition eines entsprechenden philosophischen Terminus. Insgesamt ist also der Begriff „Dasein“ als philosophischer Terminus wenig geeignet, zumal er in der Theologie mit dem Gottesbegriff verbunden ist.

Literaturverzeichnis

Betz, Hans Dieter; Browning, Don S.; Janowski, Bernd; Jüngel, Eberhard (Hg.) (2007): Religion in Geschichte und Gegenwart [RGG]. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 4., völlig neu bearb. Aufl. 8 Bände. Tübingen: Mohr Siebeck.

Burkard, Franz-Peter (2008): Dasein. In: Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard (Hg.): Metzler Lexikon Philosophie. Begriffe und Definitionen. 3., erw. und aktualisierte Aufl. Stuttgart: Metzler, S. 96.

Frischmann, Bärbel (2010): Dasein. In: Hans Jörg Sandkühler, Dagmar Borchers, Arnim Regenbogen, Volker Schürmann und Pirmin Stekeler-Weithofer (Hg.): Enzyklopädie Philosophie. In drei Bänden mit einer CD-ROM. Hamburg: Meiner, 344u-346.

Gethmann, Carl Friedrich (1993-2001): Dasein. In: Walter Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 3. 12 Bände. Freiburg: Herder, S. 30.

Großheim, Michael (2007): Daein/Daseinsanalyse. In: Hans Dieter Betz, Don S. Browning, Bernd Janowski und Eberhard Jüngel (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart [RGG]. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 2. 4., völlig neu bearb. Aufl. 8 Bände. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 587–588.

Kasper, Walter (Hg.) (1993-2001): Lexikon für Theologie und Kirche. 12 Bände. Freiburg: Herder.

Prechtl, Peter; Burkard, Franz-Peter (Hg.) (2008): Metzler Lexikon Philosophie. Begriffe und Definitionen. 3., erw. und aktualisierte Aufl. Stuttgart: Metzler.

Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried; Gabriel, Gottfried (Hg.) (2007): Historisches Wörterbuch der Philosophie. 13 Bände. Basel: Schwabe.

Sandkühler, Hans Jörg; Borchers, Dagmar; Regenbogen, Arnim; Schürmann, Volker; Stekeler-Weithofer, Pirmin (Hg.) (2010): Enzyklopädie Philosophie. In drei Bänden mit einer CD-ROM. Hamburg: Meiner.

Wienbruch, Ulrich (2007): Dasein. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2. 13 Bände. Basel: Schwabe, 15-21.