Zitate und Gedanken zu einem Buch von Brady Bowman

Brady Bowman hat sich in seiner Dissertation ausführlich mit dem Kapitel zur sinnlichen Gewissheit in Hegels Phänomenologie des Geistes beschäftigt. Viele historische und theoretische Ansätze, die er untersucht hat, haben zu dem Ergebnis geführt, dass sie nicht anwendbar sind. Dies betrifft insbesondere die sprachanalytischen Zugänge, speziell die Referenztheorie. In dem Exzerpt wird nachgewiesen, dass der Autor grundlegende Intentionen von Hegel nicht oder nicht vollständig erfasst hat.

Bowman, Brady (2003): Sinnliche Gewißheit. Zur systematischen Vorgeschichte eines Problems des deutschen Idealismus. Berlin: Akademie Verlag (Hegel-Forschungen)

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Zitate und Gedanken zu Bowman (2003)

Hans-Dieter Sill, 09.01.2023

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Zitate und Gedanken zu Bowman (2003): Sinnliche Gewißheit. Zur systematischen Vorgeschichte eines Problems des deutschen Idealismus

Zur Zitierweise

Alle Texte mit linkem Einzug außer den Aufzählungen sind Zitate. Alle Seitenangaben bei den Zitaten ohne weiteren Quellennachweis beziehen sich auf Bowman (2003).

Phänomenologie steht für „Phänomenologie des Geistes“, Hegel (1970). Bei Zitaten aus der Phänomenologie wird das Kürzel PhG verwendet. Die rekursiven Kapitelüberschriften stehen für die entsprechenden Kapitel in der Phänomenologie.

Generelles zur Publikation

Das Buch mit einem Umfang von 248 Seiten beruht auf der 2001 an der FU Berlin eingereichten Dissertation des Autors, die von Andreas Arndt betreut wurde.

Bowman setzt sich ausführlich mit den bisherigen Interpretationen des Abschnitts zur sinnlichen Gewissheit auseinander und entwickelt einen eigenen Zugang. Umso erstaunlicher ist es, dass seine Arbeit in den darauf folgenden Publikationen zur Interpretation des Abschnitts zur sinnlichen Gewissheit so gut wie keine Berücksichtigung findet. Von den 10 gesichteten Büchern und Publikationen wird das Buch von Bowman in 8 nicht erwähnt. In (Jaeschke 2016) wird es einmal als Quelle angegeben und (Ohashi 2008) geht zweimal darauf ein. Von den drei Interpreten Gottlob Ernst Schulze, Wilhelm Traugott Krug und Thomas Reid, die Bowman ausführlich diskutiert, wird Krug einmal und Schulze zweimal in Siep (2000) zitiert und Schulze in (Jaeschke 2016) mehrfach genannt. Nach Google Scholar wurde das Buch von Bowman bisher 15-mal zitiert.

Ausgewählte Inhalte mit Kommentaren

Eine metatheoretische Kennzeichnung ihrer voraussetzungslosen Anfänglichkeit markiert auch den Beginn der Darstellung der sinnlichen Gewissheit: „Das Wissen, welches zuerst oder unmittelbar unser Gegenstand ist, kann kein anderes sein als dasjenige, welches selbst unmittelbares Wissen, Wissen des Unmittelbaren oder Seienden ist. Wir haben uns ebenso unmittelbar oder aufnehmend zu verhalten, also nichts an ihm, wie es sich darbietet, zu verändern und von dem Auffassen das Begreifen abzuhalten“ (PhG, S. 63). Die Auslegung dieser Statusbestimmungen der Anfänglichkeit und Voraussetzungslosigkeit sowie ihrer inhaltlichen Spezifizierung durch den Gegenstand selbst verspricht besonderen Aufschluss über die Natur der hegelschen Darstellung insgesamt. Gerade die methodische Anweisung, sich rein aufnehmend zu verhalten und „von dem Auffassen das Begreifen abzuhalten“, bleibt ohne vorhergehende Anleitung und metatheoretische Verständigung über die verschiedenen Betrachtungsebenen und die Mehrfachperspektivierung der Darstellung leer. Wer sich daher mit der sinnlichen Gewissheit beschäftigt, beschäftigt sich zugleich mit der Anlage der Phänomenologie im Ganzen, mit deren Gegenstand, methodologischen Voraussetzungen und systematischen Zielen. Hierin liegt ein gewichtiger Grund für die Vielzahl verschiedener Interpretationen des Anfangskapitels, die bisher vorgelegt wurden (S. 14).

Gedanken:

  • Der Autor hat einen Grundgedanken des Kapitels zur sinnlichen Gewissheit nicht erfasst. Es geht darum, dass in der Phase der sinnlichen Gewissheit zunächst noch keine weitere gedankliche Verarbeitung der Wahrnehmung erfolgt. Dazu sind keine metatheoretischen Verständigungen erforderlich.

Das intendierte „Sagen“ des sinnlich einzelnen Stück Papier erläutert Hegel hier jedoch anhand eines aufschlussreichen Gedankenexperimentes: weil das sinnlich Einzelne der Sprache unerreichbar ist, wurde das Stück Papier „unter dem wirklichen Versuche, es zu sagen, […] vermodern“ (PhG, S. 92). Die Überlegung mutet dem Leser auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches zu. Wenn das sinnlich einzelne für die Sprache prinzipiell unerreichbar ist, dann bleibt es für die Sprache auch in jeder beliebig langen Zeitspanne unerreichbar; … Das einzelne Stück Papier wird also vermodern, bevor es von der Sprache erreicht werden kann. Dieser triviale Schluss verbirgt indes eine Argumentation aus Prämissen, die weitaus kontroverser sein dürften. Erstens präzisiert Hegel die Bedeutung von „Sagen“ als Beschreiben – eine sprachliche Tätigkeit, die speziellere Fähigkeiten in Anspruch nimmt als kognitive Bezugnahme allein und entsprechend enger umgrenzt ist als das, was wir normalerweise unter „Sagen“ verstehen würden. Zweitens führt die Erfahrung der unabsehbaren Beschreibung des sinnlich Einzelnen in Hegels Deutung zur Einsicht, man spreche „von einem Dinge, … das nicht ist“. Der emphatische Gebrauch von „Sein“ und die besondere Wendung, die Hegel dieser Erfahrung gibt (diejenigen, die das sinnlich einzelne beschreiben wollten, müssten „zuletzt selbst eingestehen“, dass sie von einem nichtseienden Dinge sprächen), deuten auf einen viel problematischeren Schluss als den eben rekonstruierten hin: Wenn etwas keine vollständige prädikative Bestimmung zulässt, dann ist es kein an sich Seiendes (es ist ein Nichtseiendes); das sinnlich Einzelne (zum Beispiel diese Stück Papier) lässt keine vollständige prädikative Bestimmung zu; das sinnlich Einzelne ist also ein Nichtseiendes, ein Nichtiges (S. 47-48).

Die bisherige Forschung tendiert mitunter dazu, solche prima facie und plausiblen Schlüsse wegzuerklären, indem sie sie als Konsequenzen der begrifflichen Naivität der Gestalt Sinnliche Gewissheit einstuft. Robert Pippins Auffassung teilen viele: „Hegel is very clear that this result, that the object turns out ‘truly’ to be an indeterminate universal, is an aspect of sense certainty’s failure, not an intimation of its partial success. […] It is because Hegel holds fast to the natural consciousness assumption that consciousness of determinate objects is possible, that such discrimination must be possible if there is to be experience at all, that he maintains that this position of sense certainty, as now revealed in its „experience,“ must be overcome. Or later, at the close of the chapter, when he notes that language „cannot reach“ the sensuous this, he means the sensuous this as defined by sense certainty, an atomic or simple unit directly apprehended. It is not that language or some conceptually determined experience cannot „reach“ a determinate object at all, but it cannot reach it if that reaching and that object are defined as sense certainty defines them” [vollständiges Zitat aus (Pippin 1989, S. 120)]. Gegen diese Auslegung spricht zweierlei. Zum einen werden die vielleicht drastisch anmutenden Folgerungen im Hegelschen Text eindeutig aus auktorialer Perspektive erwogen und ganz allgemein auf die „Wahrheit der sinnlichen Dinge“ (PhG, S. 69) angewendet, nicht etwa auf sinnliche Dinge, insofern sie unter den Kategorien der sinnlichen Gewissheit beschrieben würden. Zum anderen läuft die zitierte Auffassung darauf hinaus, dass man den Plausibilitätsgewinn, den man sich im Detail verspricht, im Ganzen wieder einbüßt, da sich eine Bewusstseinsgestalt, die auf die erforderliche Beschreibung passen würde, schwerlich auffinden lässt. Der Anfang der Phänomenologie erscheint dann so unwahrscheinlich und die Konsequenzen der sinnlichen Gewissheit erscheinen so absurd, dass sie allen Interesses entbehren müssten (S. 48).

Gedanken:

  • Aus den Texten von Bowman und auch Pippin wird die Denkweise der Sprachphilosophie deutlich. Es ist eine Grundannahme dieser philosophischen Disziplin, dass sich alle Objekte vollständig sprachlich beschreiben lassen. Umgekehrt wird postuliert, dass etwas nicht existiert, wenn es „keine vollständige prädikative Beschreibung zulässt“. Dieser Ansatz steht dem Hegelschen Denken diametral gegenüber. Hegel stellt nicht nur an dieser, sondern auch an anderen Stellen deutlich heraus, dass man mit Sprache nicht alles vollständig erfasst werden kann, was im Denken oder in der Realität existiert.
  • Es ist nicht zutreffend, dass Hegel selber feststellt, dass das Stück Papier gar nicht existiert, weil es nicht beschreibbar ist. Er stellt lediglich metaphorisch fest, dass das Stück Papier längst „vermodert“ ist und damit nicht mehr existiert, bevor die Beschreibung beendet ist.
  • Ein Stück Papier ist allerdings als Beispiel wenig geeignet, da man sich durchaus vorstellen kann, es vollständig beschreiben zu können, bevor es vermodert ist. Geeigneter wären auf den Menschen bezogene Beispiele wie Gedanken, Theorien, Eigenschaften, Gefühle oder auch ein konkreter Mensch als Ganzes. Wenn man etwa den Autor Brady Bowman vollständig beschreiben wollte mit allen seinen psychischen und physischen Eigenschaften bis zur letzten Zelle seines Körpers, ist es leichter vorstellbar, dass diese Beschreibung nicht zu beenden ist, zumal sich der Mensch laufend ändert.

Der Autor setzt sich dann kritisch mit transzendentalen und referenztheoretischen Ansätzen zur systematischen Rekonstruktion der sinnlichen Gewissheit auseinander (z. B. (Pippin 2016) und andere angloamerikanische Autoren). Er ist der Meinung, dass „besonders referenztheoretische Ansätze sich in der letzten Zeit etablieren können und auch in Einführungstexten und Kommentaren als gesicherte Interpretationen angeboten“ (S. 73) werden. Dabei verweist er auf (Siep 2000).

Pippins Rekonstruktion der Hegelschen Eröffnungsargumente beruht auf mehreren miteinander zusammenhängenden Fehlannahmen. Die erste betrifft den Gegenstand der sinnlichen Gewissheit. Wie Kenneth Westphal, Charles Taylor, Matthias Kettner, Andreas Graeser und die überwiegende Mehrzahl aller Interpreten spezifiziert Pippin diesen Gegenstand als raumzeitliches Einzelding, exemplifiziert durch Bäume und Häuser, bzw. als Einzelereignis oder -zustand etwa wie Nacht-Sein, Mittag-Sein etc.  … Die Welt der sinnlichen Gewissheit ist, wenn man so will, eine ontologisch eindimensionale Wirklichkeit ohne allen Unterschied von Dingen und deren Eigenschaften, Erscheinungen und deren Grund, Wirkungen von Ursachen oder Äußerungen von Kräften. Was ist, das ist, und es gibt keine Relationalität, die in das Wesen hineingehörte. So gesehen sind jedoch Haus, Baum, Nacht, Mittag usw. nicht die Gegenstände der sinnlichen Gewissheit, sondern die Bestimmtheiten, die sie von ihrem einem Gegenstand dem Jetzt-und-Hier prädiziert (S. 79).

Nun haben wir jedoch gesehen, dass die sinnliche Gewissheit sehr wohl über mehr als nur Demonstrativa verfügt, indem sie dieser (sortalen) Prädikate „Baum“, „Nacht“ usw. verwendet. Ja, sie verfügt genau genommen über gar keine deiktischen Ausdrücke, da sie „jetzt“, „hier“ und „dieses“ stets katachrestisch in substantivierte Form gebraucht: „das Hier“, „das Itzt“ „das Diese“ (S. 80).

Erst in einer Sprache, in der das Zutreffen und Nicht-Zutreffen verschiedener Prädikate auf verschiedene Einzelgegenstände konstatiert werden kann, darf von genuiner Prädikation die Rede sein (S. 80).

Wir müssen erkennen, dass die sinnliche Gewissheit schon zu Beginn des Kapitels prädiziert wird, indem von dem einen Gegenstand verschiedene Bestimmtheiten (Haus, Baum usw.) ausgesagt werden. Es entsteht allerdings eine prinzipielle und darum unaufhebbare Asymmetrie zwischen den Prädikaten und dem Satzsubjekt (etwa dem Jetzt), indem letzteres als schlechthin einziges (absolutes) Subjekt der Prädikation und nicht als ein Objekt unter anderen verstanden werden soll. […] Dieses Projekt bedingt unvermeidliche Abweichungen vom Standardmodell der Prädikation – weshalb Hegel bekanntlich eine Theorie des spekulativen Satzes entwickelte.

Mit den letzten Bemerkungen sind wir bereits zu einer besonderen Ausprägung des transzendentalen Deutungsansatzes, zur sprachanalytischen oder referenztheoretischen Rekonstruktion der sinnlichen Gewissheit übergegangen. Transzendental ausgerichtet im hier intendierten Sinne ist auch dieser Rekonstruktionsansatz, in dem der hegelsche Text als indirekten Aufweis der Bedingung der Möglichkeit einer stabilen, kognitiv signifikanten Bezugnahme auf raumzeitliche Einzeldinge verstanden werden soll (S. 81).

„Das Diese“ in seiner „gedoppelten Gestalt“ als „das Itzt“ und „das Hier“ bezeichnet dagegen das Satzsubjekt, auf welches das Prädikat wesentlich zutreffen soll; mit ihm wird zunächst der Gegenstand, dann dass Ich und schließlich die von beiden gebildete Einheit identifiziert. Darum fällt der Ausdruck „Ich“ als indexikalisch Ausdruck, so wie er für die Theorie kognitiver Referenz relevant ist, in Hegels Behandlung der sinnlichen Gewissheit weg, während die anderen in einer eigentümlich substantivierten Form als stimulierte Träger der Metabestimmung der Wesentlichkeit fungieren (S. 85).

Hegels System beruht dagegen auf der Grundannahme, dass es ein ausgezeichnetes Individuum „gibt“, nämlich das singuläre Absolute, welches durch eine endliche Anzahl von Begriffen (die reinen Denkbestimmungen) und ihre Relationen vollständig prädikativ bestimmt werden kann; Hegel nimmt überdies an, dass dieses Individuum nichts ist außer den für jene Denkbestimmungen konstitutiven Relationen, in ihnen also vollständig aufgeht (S. 88).

Diese Beobachtungen zeigen deutlich, dass die raumzeitliche Bestimmtheit von sinnlichen Einzeldingen nicht das maßgebliche Problem der sinnlichen Gewissheit ausmacht. Damit ist aber auch der Anspruch hinfällig, eine referenztheoretische Interpretation der Hegelschen Argumente geben zu können (S. 93).

Gedanken:

  • Bowman versucht mit seinem sprachanalytischen Hintergrund die Ausführungen von Hegel zu beschreiben und zu bewerten. Er äußert sich mehrfach zur Bestimmtheit und Prädikation der von Hegel verwendeten Wörter. Er stellt dabei fest, dass man bei Hegel nicht von einem Zutreffen oder Nichtzutreffen verschiedener Prädikate für die angeführten Einzelgegenstände und damit von keiner Prädikation sprechen kann. Es ist nun aber gerade das wesentliche Merkmal der Phase der sinnlichen Gewissheit, dass die Eigenschaften der wahrgenommenen Gegenstände noch nicht erkannt und damit auch nicht angebbar sind. Der von ihm angelegte Maßstab der Bestimmtheit bzw. Definitheit der Wörter Baum, Haus, jetzt, hier u. a. ist an dieser Stelle nicht geeignet. Hegel versucht, die räumliche und zeitliche Unbestimmtheit mit seinen ungewöhnlichen aber durchaus nicht missbräuchlichen Formulierungen „Das Jetzt“ und „Das Hier“ auszudrücken.
  • Der Autor versucht eine Lösung dieses Problems zu finden, indem er davon spricht, dass Haus, Baum u. a die Prädikate „eines Gegenstandes“ der sinnlichen Gewissheit sind. Dieser Gedanke ist aber kaum nachvollziehbar, da Hegel in dem Text nicht generell von „einem Gegenstand“ spricht.
  • Der Autor stellt dann selbst fest: „Dieses Projekt bedingt unvermeidliche Abweichungen vom Standardmodell der Prädikation – weshalb Hegel bekanntlich eine Theorie des spekulativen Satzes entwickelte“.
  • Entgegen seiner anfänglichen Einschätzung, dass sich in letzter Zeit referenztheoretische Ansätze bei der Interpretation Hegelsche Texter etablieren konnten, kommt er nach Abschluss seiner Überlegungen zu der Einschätzung, dass dieser Anspruch hinfällig ist.
  • Die Referenztheorie ist eine sprachanalytische Bedeutungstheorie, die auf den Ansatz von Frege zurückgeht, der unter der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks den Referenten versteht, auf den sich der Ausdruck bezieht. John Lyons stellt zu dieser Theorie fest: „Was nun aber die Gleichsetzung von Referenz und Benennung betrifft (und folglich in einer Referenztheorie der Bedeutung auch die Gleichsetzung von Bedeutung und Benennung), so ist heute allgemein anerkannt, daß diese auf einem Trugschluß beruht, trotz ihres Alters und der hervorragenden Bedeutung, der vielen Philosophen, die sie verteidigt haben“ (Lyons 2019, S. 892). Er gibt mehrere voneinander unabhängige Gründe an, weshalb die Referenztheorie abgelehnt werden muss (Lyons 2019, 893 ff.)
  • Es ist durchaus denkbar, dass Interpretationsversuche auch zu dem negativen Ergebnis führen können, nicht geeignet zu sein. Allerdings war dies aus meiner Sicht in den beiden hier beschriebenen Fällen durchaus voraussehbar.

Hegels Argumentation in der sinnlichen Gewissheit hat einen klaren Grundriss. Nachdem die sinnliche Gewissheit als Bewusstseinsgestalt eingeführt und für unseren reflektierenden Standpunkt charakterisiert worden ist, wechselt die Darstellung in einem zu sehenden phänomenologischen Modus, in dem wir über den Gegenstand der sinnlichen Gewissheit „nicht zu reflectiren und nachzudenken, was er in Wahrheit seyn möchte, sondern ihn nur zu betrachten haben, wie ihn die sinnliche Gewissheit an ihr hat“ (PhG, S. 84) (S. 94).

Dass die vollständige Bestimmtheit hier Kriterium der Seiendheit ist, macht die eine Seite der Bedeutung von sinnlicher Gewissheit aus. Qualitative Bestimmtheit, Gegenwärtigkeit und raumzeitliche Bestimmtheit sind weitere sehr wichtige Facetten der Bedeutung von sinnlich, die Hegel selbst aber in der Enzyklopädie-Version der Darstellung fortgelassen hat (S. 95).

Nun ist das Kriterium deshalb eines der Wesentlichkeit, weil die sinnliche Gewissheit wie alle Folgegestalten auf das Wesen, das wahrhaft Reale, das Ansichseiende oder eben das Absolute bezogen ist. „Erkenntnis“ heißt im Rahmen der Phänomenologie Erkenntnis dessen, was in Wahrheit IST – des „Absoluten“. Sinnliche Gewissheit des Absoluten zu sein, besagt, das Absolute als eine absolute Einheit des Seins und der mir unmittelbar vorliegenden unendlichen Bestimmtheit aufzufassen. Diese absolute Einheit des Seins und der Bestimmtheit, welche das Ansichsein für die sinnliche Gewissheit ist, ist also hier Kriterium dafür, ob etwas wesentlich ist oder nicht (S. 95).

Gedanken:

  • Der Bezug zum Absoluten, den der Autor hier herstellt, bleibt unverständlich, es gibt keine sinnliche Gewissheit des Absoluten im Hegelschen Sinne. Das Absolute kann nicht als absolute Einheit des Seins und der vorliegenden unendlichen Bestimmtheit aufgefasst werden. Diese Einheit kann auch nicht als das Ansichsein der sinnlichen Gewissheit bezeichnet werden.
  • In der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I geht Hegel nur kurz in einem Absatz auf die Phänomenologie ein, in dem er die Frage der Bedeutung von „sinnlich“ wie vieles andere gar nicht ausführlich diskutieren konnte.

Hegels kritische Darstellung der sinnlichen Gewissheit beruht auf der Prämisse, dass das sinnliche Bewusstsein im Kontext der Phänomenologie nicht in erster Linie ein psychologisches Phänomen darstellt, sondern einen Modus des Geistes, in dem Wahrheitsansprüche erhoben werden. Wissen, folgen wir der seit Platon tradierten Definition, ist wahre gerechtfertigte Überzeugung. Die drei Bestimmungen Wahrheit, Rechtfertigung und Überzeugung sind gleich wesentlich und nicht aufeinander reduzibel. Überzeugungen sind Einstellungen zu propositionalen Gehalten und sie können auf verschiedenem, bei weitem nicht immer rationalem Wege zustande kommen (S. 116).

Gedanken:

  • Der Autor verkennt offensichtlich grundlegenden Gedanken von Hegel, die Bewegungen des Wissens im mentalen Sinne zu betrachten. Damit handelt es sich durchaus um ein „psychologisches“ Problem und nicht um abstrakte Betrachtungen zum „Geist“.
  • Die angeführte Definition des Begriffs „Wissen“ ist eine Grundlage der analytischen Erkenntnistheorie aber durchaus nicht eine allgemein anerkannte Begriffserklärung. In den Kognitionswissenschaften und anderen erkenntnistheoretischen Ansätzen wird der Begriff ganz anders verstanden. Er erlaubt zudem keine Unterscheidung von Wissen im mentalen Sinne und im Sinne des entäußerten Mentalen, die gerade für das Verständnis des Hegelschen Textes von grundlegender Bedeutung ist.

Doch unbeschadet dieser Ähnlichkeiten erkennt man hierin zugleich tief greifende Unterschiede im programmatischen Interesse an der ausgearbeiteten Struktur bei Reid einerseits und Hegel und Fichte andererseits. Gegenüber Reids Ausrichtung auf die kognitiven Prinzipien, die zunächst einmal je bestimmte „conceptual responsens“ auf einzelne sensorische Episoden ermöglichen und steuern, erblickt Hegel in der sinnlichen Gewissheit vor allem nur die Exemplifizierung einer strukturellen Differenz zwischen Allgemeinem und Einzelnen, dem Sein und dessen differentem Dasein.

Hegel nimmt die Sinnlichkeit der sinnlichen Gewissheit dagegen ganz in der Perspektive eines Erkennens des Absoluten auf. Für diese Perspektive sind Streitfragen zwischen Außenweltrealisten und skeptischen Idealisten tatsächlich von sehr nachgeordneter Bedeutung; erst recht die Erkundung der einzelnen Sinne im Interesse einer Theorie der sinnlichen Wahrnehmung liegt Hegel an dieser Stelle denkbar fern. Die Richtigkeit von Heideggers Bemerkung kann in der Tat nicht oft genug betont werden: „Hegel gibt eine kurze Abhandlung über die sinnliche Gewissheit, ohne das geringste von den Sinnen oder gar den Sinnesorganen anzuführen. Zwar spricht er vom Sehen und Hören aber nicht von den Augen oder gar der Netzhaut und den Nervenbahnen nichts von Ohr und Ohrlabyrinth – all das gar nicht da. Ja, wir erfahren nicht einmal etwas über die Gesichts- und Gehörsempfindungen, die Geruchs- und Tastdaten. … Das Unerhörte der Hegelschen Interpretation der Sinnlichkeit liegt darin, dass er sie – das liegt im ganzen Ansatz des Problems – ganz aus dem Geiste und im Geiste versteht“ (Heidegger 1997, S. 76) (S. 145-146).

Hegel bestimmt die sinnliche Gewissheit ganz und gar kategorial. Sie ist Erkenntnis eines einzelnen, realen, selbstständig und an sich wesentlich Seienden, welches in der gegenwärtigen Anschauung für das Bewusstsein gegeben und durchgängig bestimmt ist (S. 146).

Die genannten Unterschiede gründen in der fundamental verschiedenen Programmatik der Phänomenologie des Geistes gegenüber Reids Inquiry. Die Erkenntnis- und Darstellungsziele beide Autoren könnten verschiedener kaum sein (S. 146).

Bei Reid finden wir den genau umgekehrten Fall: Die qualitative Bestimmtheit der Sensationen [Sensation, bezeichnet in der empiristischen Erkenntnistheorie Lockes und seiner Anhänger die durch die äußeren Sinne vermittelte Wahrnehmung der Außenwelt. Sie bildet nach Ansicht Lockes die eine Quelle der Erfahrung (Prechtl und Burkard 2008, S. 554)], welche die Konzeption des von ihnen jeweils bezeichneten Gegenstandes veranlassen, spielt eine rein kausale Rolle für die Wahrnehmung. Anders als bei Hegel geht die sinnliche Bestimmtheit des sinnlich Gegenwärtigen nicht als semantische Komponente in die Gegenstandskonzeption ein. Sie darf darum auch nicht als Eigenschaft oder Erscheinung des Gegenstandes verstanden werden. Hegel dagegen muss die sinnliche Bestimmtheit des Einzelnen als dessen eigene Bestimmtheit begreifen, insofern das Einzelne als Einheit verschiedener solcher Bestimmtheiten und in diesem terminologischen Sinne als „Allgemeines“ begriffen wird (S. 146/147).

Gedanken:

  • Ein Anliegen von Bowman ist es „historischer Referenzpositionen, auf die sich Hegels Darstellung beziehen könnte“ zu identifizieren, wozu auch die Auffassungen von Thomas Reid gehören. Es ist deshalb erstaunlich, dass er nun feststellt, dass es fundamentale Unterschiede zwischen der Phänomenologie und den Auffassungen von Reid gibt.
  • Es geht im Kapitel zur sinnlichen Gewissheit nicht um die Rolle der Sinnlichkeit und der Sinnesorgane, obwohl dies natürlich naheliegend ist. Der Zustand der sinnlichen Gewissheit ist ohne die Tätigkeit von Sinnesorganen nicht zu erreichen. Die damit verbundenen Probleme werden aber von Hegel im Kapitel zur Wahrnehmung diskutiert. Der Auffassung von Heidegger, dass Hegel die sinnliche Gewissheit als eine rein geistige Erscheinung ansieht, kann nicht zugestimmt werden.

Hier rücken am Anfang der Phänomenologie die Privilegierung sinnlicher Gegenwart, das leitende Interesse an einer Bestimmung des Wesens, Hegels eigentümliche Diktion und Wahl der Beispiele, seine berüchtigte Leugnung der Geltung des Satzes vom Widerspruch, die Notwendigkeit des Geistes, in der Zeit zu erscheinen und die systematische Kontiguität von absolutem Wissen und „geistlosem“ sinnlichen Bewusstsein in einer diskursiven Nähe zusammen, die rational wohl nicht bis ins Letzte durchsichtig zu machen sein wird (S. 233-234).

Gedanken:

  • In diesen zusammenfassenden Bemerkungen von Bowman zeigen sich erneut Missverständnisse und fehlerhafte Aussagen zur Phänomenologie und Elementen von Hegels Theorie. Hegel geht es nicht um die Privilegierung der sinnlichen Gewissheit und eine systematische Kontinuität von absolutem Wissen und sinnlichen Bewusstsein ist in dem Kapitel zur sinnlichen Gewissheit nicht zu erkennen.
  • Wie auch anderer Autoren kolportiert der Autor die fehlerhafte Aussage, dass Hegel den Satz vom Widerspruch geleugnet hat.

Zusammenfassende Einschätzung

Aus der Arbeit von Bowman habe ich keine neuen Erkenntnisse in Bezug auf die Interpretation der sinnlichen Gewissheit gewinnen können. Viele historische und theoretische Ansätze, die er untersucht hat, haben zu dem Ergebnis geführt, dass sie in andere Richtung gehen oder nicht anwendbar sind. Dies betrifft insbesondere die sprachanalytischen Zugänge, speziell die Referenztheorie. Dies zeigt, dass man mit diesen Analysemitteln dem Hegelschen Text nicht beikommen kann. Im Gegenteil, es lassen sich mit diesen formalen sprachlichen Betrachtungen angebliche Widersprüche konstruieren.

An mehreren Stellen ist deutlich geworden, dass der Autor die grundlegenden Intentionen von Hegel in dem Kapitel zur sinnlichen Gewissheit nicht oder nicht vollständig erfasst hat. Teilweise gibt es auch nichtzutreffende Aussagen zu theoretischen Elementen von Hegel.

Die geringe Resonanz der Arbeit von Bowman in der Literatur zu Interpretation der Phänomenologie könnte ein Ausdruck dieser Feststellungen sein.

Literaturverzeichnis

Bowman, Brady (2003): Sinnliche Gewißheit. Zur systematischen Vorgeschichte eines Problems des deutschen Idealismus. Berlin: Akademie Verlag (Hegel-Forschungen).

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Phänomenologie des Geistes. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3. 1. bis 10. Tausend. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Theorie Werkausgabe).

Heidegger, Martin (1997): Gesamtausgabe Abt. 2 Vorlesungen 1919-1944. Hegels Phänomenologie des Geistes : Freiburger Vorlesung Wintersemester 1930/31. 3. Aufl. Frankfurt am Main: Klostermann (Gesamtausgabe / Martin Heidegger : Abt. 2, Vorlesungen, 32).

Jaeschke, Walter (2016): Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule. 3. Aufl. Stuttgart: J.B. Metzler. Online verfügbar unter https://ebookcentral.proquest.com/lib/gbv/detail.action?docID=4696248.

Lyons, John (2019): Bedeutungstheorien: • Die Referenztheorie • Die Ideationstheorie • Verhaltenstheorie der Bedeutung und behavioristische Semantik • Strukturelle Semantik • Bedeutung und Gebrauch • Wahrheitsbedingungen-Theorien der Bedeutung. In: Ludger Hoffmann (Hg.): Sprachwissenschaft. Ein Reader. 4., aktualisierte und erweiterte Auflage. Berlin, Boston: DE GRUYTER (De Gruyter Studium), S. 890–908.

Ohashi, Ryosuke (2008): Die Tragweite des Sinnlichen. In: Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch (Hg.): Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1876), S. 115–134.

Pippin, Robert B. (1989): Hegel’s idealism. The satisfactions of self-consciousness. Reprinted. Cambridge: Cambridge University Press.

Pippin, Robert B. (2016): Die Aktualität des Deutschen Idealismus. Erste Auflage, Originalausgabe. Berlin: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 2184).

Prechtl, Peter; Burkard, Franz-Peter (Hg.) (2008): Metzler Lexikon Philosophie. Begriffe und Definitionen. 3., erw. und aktualisierte Aufl. Stuttgart: Metzler. Online verfügbar unter https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/.

Siep, Ludwig (2000): Der Weg der „Phänomenologie des Geistes“. Ein einführender Kommentar zu Hegels „Differenzschrift“ und zur „Phänomenologie des Geistes“. 1. Aufl., Orig.-Ausg. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Hegels Philosophie, 1475).