Hans-Dieter Sill, 11.01.2023

Zitate und Gedanken zu Moulian (2003): Ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert. Der fünfte Weg

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Vorbemerkungen

Zur Zitierweise

Alle Texte mit linkem Einzug außer den Aufzählungen sind Zitate. Alle Seitenangaben bei den Zitaten ohne weiteren Quellennachweis beziehen sich auf Moulian (2003).

Generelles zur Publikation

Tomás Moulian, geb. 1939, ist ein chilenischer Politikwissenschaftler und Soziologe. Er studierte Soziologie an der Päpstlichen Katholischen Universität von Chile. Er ist als Kritiker der sozioökonomischen Struktur seines Landes bekannt. Er war stellvertretender Direktor des Lateinamerikanischen Instituts für Sozialwissenschaften.

Nach der Rückkehr der Demokratie identifizierte er sich als unabhängiger Anhänger der Kommunistischen Partei Chiles (PCCh).

Bezüge zu anderen Publikationen

Es gibt kein Literaturverzeichnis. In den 126 Anmerkungen des Übersetzers sind Verweise auf Publikationen von folgenden Autoren enthalten: Alain Touraine, Franz Hinkelammert, Norbert Lechnet, Carlos Altamirano, Karl Marx, Friedrich Engels, Rosa Luxemburg, Georges Friedmann, Anthony Giddens (engl. Soziologe), Martin Buber (Religionsphilosoph), Michael Löwy, Maurice Godelier, Lenin, Althusser, Marcuse, Ernesto Che Guevara, Isaac Deutscher, Trotzki, Rene Zavaleta, Anibal Pinto, Jacques Lambert, Jürgen Habermas, Charles Bettelheim, Ernesto Laclau, Otto Bauer, Georges Bataille, Daniel Bell, Gabriel Salazar (chilenischer Historiker), Adolfo Sánchez Vázquez, Bolívar Echeverría und Anton Pannekoek.

Moulian setzt sich mit Auffassungen der Mehrzahl der genannten Autoren kritisch auseinander.

Rezeption der Arbeit

Google-Scholar: Zitiert von 4: (Meyer 2008), (Baek 2010), (Rösler 2014), (Hertzfeldt 2004) Es wird die Arbeit nur jeweils einmal zitiert. Es erfolgt keine weitere Auseinandersetzung mit der gesamten Publikation.

Zitate und Gedanken

Der Untertitel zu diesem Buch entstammt einer Festtagslaune. … Von der Festtagslaune inspiriert habe ich diesem Buch den Untertitel „Der fünfte Weg“ gegeben. Etwas freien Raum gegenüber dem „dritten Weg“ zu lassen schien mir eine Frage der Höflichkeit zu sein, und zwar sowohl gegenüber den Sozialdemokraten, für den Fall, dass sie von ihrem derzeitigen Platz abrücken müssen, als auch gegenüber den verstockt orthodoxen Standpunkten, die immer wieder gerne auf alte Symbole zurückgreifen (S. 19, 20).

Ich möchte eine Diskussion über den Sozialismus eröffnen, die nicht in der Gegenüberstellung von Reform und Revolution stecken bleiben soll. … Ich meine, dass es sich um einen Streit zwischen verwandten Strategien handelt, die durch ihre gemeinsame Fixierung auf den Staat miteinander verschwägert sind (S. 20).

Das Besondere an der im 20. Jahrhundert vorherrschenden revolutionären Ideologie ist der bewusste Versuch, aus dem Nichts heraus eine neue Gesellschaft zu schaffen, welche die bisherige Produktionsweise ausgehend von einer politischen Revolution, die den alten Staat zerstört, überwindet. Diese Theorie bedeutete einen absoluten Bruch, nämlich dass der Kapitalismus den Sozialismus nicht in seinem Schoß in Form von „Experimenten“ oder Mikropraktiken schaffen kann. Er kann auch nicht durch ungeplante Formen geschaffen werden, so wie sich der Markt durch die Erweiterung des Handels in der feudalen Ordnung herausgebildet und entwickelt hat (S. 33).

Eine Revolution dieser Art ist das ehrgeizigste Vorhaben eines geplanten bzw. überlegten historischen Aufbaus, dem sich die Menschheit bisher gestellt hat. … Die Überzeugung, dass die Revolution „Erlösung“ bedeutet, hält sich, in vielen Ländern zu einem Massenglauben geworden, bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Sie bewegt die Energien von Massen, Völkern, Intellektuellen. Ihre Anziehungskraft und Fähigkeit, Engagement und Hingabe zu erzeugen, machen sie zur säkularen Religion des 20. Jahrhunderts. Es genügt, wenn man sich fragt, wie viele Menschen in Lateinamerika an den letzten 30 Jahren des 20. Jahrhunderts für diese emanzipatorischen Ideale ihr Leben gelassen oder Gefängnis und Folter erlitten haben. Es waren Tausende (S. 34).

Gegen die Auffassung, dass es keinen Sinn mehr macht, von etwas zu träumen, was gescheitert ist und was Tausende von Toten gekostet hat, stellt er zum einen fest, dass es nicht um die Anzahl von Toten geht, sondern allein um die Tatsache, dass überhaupt Menschen aufgrund „vorsätzlicher staatlicher Ungerechtigkeit in den sozialistischen Gesellschaften“ umgekommen sind. Zum anderen gibt er als „makabre Kostenrechnung“ eine Zusammenstellung der Verbrechen der kapitalistischen Gesellschaft seit dem 15. Jahrhundert an. Er beginnt mit der Kolonialisierung Amerikas, die entgegen der offiziellen Geschichtsschreibung nicht als beispielhafter Kampf für die Bekehrung zum Christentum angesehen werden kann, sondern, es ging um die Ausweitung des Handels, die Aneignung von Gebieten und die Gewinnung von Reichtümern. Auch hinter dem Ersten und Zweiten Weltkrieg standen eindeutig wirtschaftliche Interessen. Er verweist auch auf die jüngsten Verbrechen von Staatsführern in Lateinamerika, bei denen es nur um die Stärkung der Herrschaft von Fraktionen der Bourgeoisie ging (S. 39-40).

Er setzt sich dann mit der folgenden Aussage von Carlos Altamirano[1] auseinander: „… Heute wieder die Fahne des Antikapitalismus erheben zu wollen, wäre nicht nur in einer globalisierten Welt absolut realitätsfern, sondern auch weil es sich um einen Kapitalismus handelt, der sich radikal von dem unterscheidet, den Marx analysiert und verteufelt hat.“

Die Entwicklung, die der Kapitalismus heute durchmacht, wird von manchen als Übergang von der fordistischen Periode zum Postfordismus bezeichnet (S. 45).
Die Organisation der fordistischen Fabrik war auf maximale Autarkie ausgerichtet. Hingegen gliedert die postfordistische Fabrik eine Reihe von Tätigkeiten, die als Hilfsfunktionen angesehen werden, aus und manchmal lagert sie auch die Herstellung von wesentlichen Teilen des Endproduktes aus … Dieses neue Modell der Arbeitsorganisation und des Managements erleichtert die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und führt zu einer Schwächung der Verhandlungskraft der Gewerkschaften. … Hinzu kommt, dass in den Ländern, in denen sich das neoliberale Modell durchgesetzt hat, Gesetzesänderungen durchgeführt wurden, die mit der Flexibilisierung zu vereinbaren sind. Diese bestehen darin, die Voraussetzungen für die Bildung von Gewerkschaften zu erschweren, das Nebeneinanderbestehen mehrerer Gewerkschaften im Namen einer angeblichen Freiheit zu begünstigen und Tarifverhandlungen auf der Betriebsebene zu beschränken (46-47).
Früher hing der Lohn der Arbeitskraft in hohem Maße von der Größe der sogenannten „Reservearmee“ einerseits und andererseits von der Organisationsfähigkeit der Arbeitnehmer selbst ab. Heute verringert sich die Bedeutung der letzteren Variable, weil das Kapital von den arbeitsrechtlichen Bestimmungen immer stärker begünstigt wird. Man kann also sagen, dass sich im heutigen Kapitalismus die Unterwerfung der Arbeitskraft extrem verstärkt hat und sich somit die Akkumulationsbedingung des Kapitals verbessert haben. … Man kann also sagen, dass der Kapitalismus heute „kapitalistischer“ ist als in der Phase des schützenden Staates (S. 47).

Gedanken:

  • Das ist eine gute Argumentation gegen die verbreitete, von Altamirano vertretene Ansicht.

Eines der brennendsten Probleme, mit denen der Kapitalismus jetzt zu kämpfen hat und mit dem er in Zukunft noch mehr zu kämpfen haben wird, ist die soziale Desintegration (S. 47).
Irgendwer hat die kluge Bemerkung gemacht, man werde den Klassenkampf in Zukunft noch einmal vermissen. Dies ist etwas Rationales im Vergleich zu dem allgemeinen Zerfall, der sich in Gesellschaften einstellen kann, wo die Kriminalität als Form des Lebensunterhalts, Korruption, Drogensucht, Alkoholismus und Drogenmafias herrschen. Wo eine überfütterte Masse konformistischer Konsumenten und eine Masse Armer und Mittelloser, deren Leben keinen Sinn kennt und keine Pläne zulässt, ohne Berührungspunkte nebeneinander her leben (S. 48). …
Der Kapitalismus, der seinen technologischen Höhepunkt erreicht hat, fördert diese Art kulturelle Regressionen in dem Maße, wie er Gesellschaften schafft, in denen die sozialen Bande rein instrumentellen Charakter bekommen und nur auf Nutzen und Gewinn ausgerichtet sind. Unter diesen Umständen kann leicht der Sinn für Soziabilität im Sinne von Beziehung zu den anderen, was der profundeste Wert des Lebens in der Gesellschaft ist, abhanden kommen. … Trotz seiner wirtschaftlichen Dynamik, der Globalisierung und der erfolgreichen Verbindung mit großen technologischen Revolutionen, die … das Leben tatsächlich revolutioniert haben, entfaltet der Kapitalismus seine unmenschlichen Tendenzen. Die Notwendigkeit der Transformation des Kapitalismus ergibt sich nicht daraus, dass er unfähig wäre, die Entwicklung der Produktivkräfte weiter zu fördern, sondern daraus, dass er nicht fähig ist, das Problem der Armut und Ungleichheit zu lösen und seine Tendenz zur Desintegration, zur Schaffung von Soziabilitätsvakuen zu stoppen. … 
Gleichzeitig aber bewegt sich die Massenkultur auf halbem Weg zwischen Apathie und Konformismus. Trotz der Verhärtung der sozialen Bedingungen gibt es kaum Mobilisierungen, kaum Rebellionen. Wenn es sie gibt, wie in Peru, zielt der Kampf mehr auf die Verteidigung der von Fujimori verletzten bürgerlichen Freiheiten als auf eine Richtungsänderung in der sozialen Wirtschaftspolitik.
Zu einem Gutteil erklärt sich dieses Abebben aus den historischen Erfahrungen der letzten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. In dieser Periode sind die zu Überwindung oder Deformierung des Kapitalismus aufgebauten Alternativen zu Grunde gegangen, wurden geschwächt oder untergraben, und die Theorien von der Geschichte als Praxis, zu denen der Marxismus gehörte, wurden matt gesetzt (S. 48-49).
Die Hoffnungen, welche in die Lösungen der revolutionären Linken gesetzt wurden, schwanden auf der Stelle, als die technologischen Voraussetzungen für die wirtschaftliche Globalisierung geschaffen waren. Folglich erscheint der Kapitalismus glorifiziert, und zwar sowohl weil er aus seinem Kampf gegen den Sozialismus siegreich hervorgegangen ist, als auch, weil er eine sehr entscheidende Etappe seines langen Globalisierungsprozesses erfolgreich abgeschlossen hat (S. 50).

 Gedanken:

  • Der Autor charakterisiert hier in guter Weise eine wesentliche aktuelle Entwicklungstendenz des Kapitalismus aus seiner Sicht als Sozialwissenschaftler. Er erkennt nicht, dass auch bei der Entwicklung der Produktivkräfte der Kapitalismus an seine Grenzen gekommen ist.
  • Die These von der Notwendigkeit des Klassenkampfes, gemeint ist sicher die Notwendigkeit sozialer Kämpfe, zum Erhalt des Kapitalismus, ist eine Anwendung der hegelschen spekulativen Denkweise. Bezogen auf die Situation der Linken in Deutschland heißt dies, dass ihre Schwäche die Stabilität des Kapitalismus untergräbt. Mit einer schwachen Linken gibt es kein Gegengewicht zur neoliberalen Politik. Dies beweist die Entwicklung in den letzten zehn Jahren, in denen die Forderung der Linken, zum Beispiel zu Mindestlohn, die Politik der Regierung beeinflusst haben.
  • Mit Blick auf die soziale Desintegration entsteht die Frage, welche revolutionären Kräfte zum Ende des Kapitalismus beitragen können.
  • Der Autor zeichnet ein pessimistisches Bild von möglichen grundlegenden Veränderungen der Gesellschaft.

Die Vorgänge zur Stärkung der Herrschaft brauchen Glaubenssätze, die von Symbolmanipulation erzeugt werden. Eines ihrer wichtigsten Ziele ist es, das Bestehende als Norm und nicht nur als Faktum zu werten.
Die wichtigsten Elemente des den zeitgenössischen Kapitalismus legitimierenden Systems von Glaubenssätzen sind die folgenden:

    • die Überzeugung, dass der Zusammenbruch des Sozialismus ein ebenso abgeschlossenes wie in seiner Richtung universelles Phänomen ist (überlebende Versuche wären demnach Überbleibsel),
    • die Notwendigkeit des Kapitalismus als wesentliche Form oder einzige Form der Entwicklung,
    • die Vorstellung, dass die Märkte nach der Regel der vollkommenen Konkurrenz funktionieren und ihre Einhaltung die ersehnte Frucht des Warenwohlstandes mit sich bringt (S. 50-51).

Fast alle Intellektuellen haben verbal Fukuyamas Gedanke vom Ende der Geschichte zurückgewiesen, aber viele stimmten der allgemeinen Bedeutung als Liquidation des Sozialismus zu. … Sehr wenige betrachten das Geschehen als das Scheitern eines Modells, einer der möglichen Formen (S. 60-61).

Gedanken:

  • Die von dem Autor so bezeichneten Glaubenssätze entsprechend meiner Theorie von den Grenzen des Denkens (vgl. https://philosophie-neu.de/grenzen-des-denkens/).
  • Daraus folgt allerdings auch, dass es sehr schwer ist, diese verfestigten Auffassungen mit Argumenten zu erschüttern. Die Hauptmethode wären eigene Erfahrungen sowohl in negativer Hinsicht mit dem aktuellen Kapitalismus als auch in positiver Hinsicht durch Popularisierung von Erfahrungen etwa mit Commons.

Es ist sehr wichtig, dass man zu verstehen versucht, warum die sozialistischen Revolutionen untergegangen sind, welche zentralen Faktoren ihre Niederlage erklären. Dazu muss man versuchen, die Theorien zu verstehen, die herangezogen wurden, um die Revolution als Möglichkeit zu rechtfertigen und auch um ihre wichtigsten Entscheidungen zu erklären (S. 59).

Gedanken:

  • Dieser Herangehensweise ist grundsätzlich zuzustimmen. Zur Analyse der gescheiterten Gesellschaftsexperimente reicht es nicht aus, nur die Erscheinungen zu beschreiben. Es müssen die theoretischen, insbesondere philosophischen Hintergründe untersucht werden.

Vor die Aufgabe gestellt, eine lebendige Bewegung führen zu müssen und nicht nur eine nachträglich zu sezieren, geriet die politische Praxis Lenins und später die der sowjetischen Führer oft in Widerspruch zu bestimmten Originalthesen von Marx und Engels und zu bestimmten theoretischen Thesen, die Lenin selbst in anderen politischen Situationen entwickelt hatte. Lenin entfernt sich in bestimmten entscheidenden Momenten seiner politischen Praxis von der (nach geltender Auffassung) angemessenen Interpretationsweise des entscheidenden Aphorismus, mit dem Marx die Beziehung zwischen Struktur und Praxis festgelegt: „Die Menschen machen ihre Geschichte, aber unter gegebenen Verhältnissen.“ (S. 63)

Der Marxismus ist eine historisch-strukturelle Sichtweise, weil er den Klassenkampf nicht leugnet, zugleich aber postuliert, dass mit dem subjektiven Faktor alleine die Geschichte nicht geändert und der Sozialismus nicht möglich gemacht werden kann. Diese Chance ist nur dann gegeben, wenn sich das Vorhaben mit einem entfalteten Widerspruch verbindet, der von den Akteuren weder vorsätzlich geschaffen noch bewusst gelenkt wird, in den sie aber intervenieren können (S. 67).

Gedanken:

  • Die Formulierung „historisch-strukturell“ ist nicht sehr günstig, wie sich dann auch im weiteren Verlauf zeigen wird. Der aus dem Text zu erkennende Grundgedanke, die Einheit von subjektiven und objektiven Faktoren, ist aber ein entscheidendes theoretisches Prinzip, von dem aus man die Entwicklungen in der Sowjetunion mit den anderen Ländern beurteilen kann.
  • Den Klassenkampf rechnet er offensichtlich zu den subjektiven Faktoren, die einer historischen Sichtweise entsprechen. Für diese Einordnung wäre es notwendig, zu klären, was man unter Klassenkampf zu verstehen hat. Es mutet etwas seltsam an, den Klassenkampf als historische Sichtweise zu bezeichnen.

Lenin vollzog, als er 1903 Kautskys Idee vom „Importieren“ übernahm, einen Schwenk mit fatalen Konsequenzen für die Zukunft. Diese Idee, die sich im Theoriegebäude festsetzt und vorherrschend wird, setzt voraus, dass es eine bereits zuvor bestehende Theorie gibt, welche die Klasse aufnehmen und verinnerlichen muss, um zum revolutionären Subjekt zu werden, um ihren Prozess der Subjektivierung bzw. der Bewusstseinsbildung zu vollziehen. … Diese Sichtweise wurde vom Marxismus-Leninismus kanonisiert. Es gibt aber eine andere. Sie besteht darin, die Lebenserfahrung im Kapitalismus als möglichen Ursprung des revolutionären Subjekts zu werten. Nach dieser Lesart stammt die Klasse als Subjekt nicht aus der politischen Werkstatt der Avantgardepartei. Ihr Entstehen wird von einer erziehenden Partei unterstützt, die den Kapitalismus als Erfahrung der Entfremdung und der Ausbeutung im Rahmen des bereits reifen Widerspruches erlebt, und zwar gemeinsam mit den Massen erlebt. … Was erlebt wird, ist die konkrete Erfahrung eines reifen Kapitalismus, der volles Leben nur für einige schafft. Die „determinierte Produktion“ der strukturellen Bedingungen macht die Klasse für ihre Selbstbefreiung bereit. Es ist nicht ganz richtig, dass sich die These von der Selbstbefreiung nur auf die Frühschriften von Marx stützen kann. Tatsächlich stellt Marx in einem 1864 verfassten Text die kategorische Behauptung auf, dass „die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muss“ (allgemeine Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation) (S. 68,69).

Die glücklose der These von der Selbstbefreiung kommt daher, dass sie suspekt wurde, nachdem die von Lenin in Was tun? aufgestellte Behauptung von den Machthabern kanonisiert worden war (S. 70).

Gedanken:

  • Moulian spricht hier zahlreiche Probleme an, die er in nicht sehr strukturierter Weise darlegt. Es geht zum einen um das Verhältnis einer an die Arbeiterklasse herangetragenen Theorie und ihre eigenen Erfahrungen im alltäglichen Leben.
  • Damit zusammen hängt die Rolle einer Partei, die einerseits theoretische Elemente in die Arbeiterklasse als Ideen hineinträgt und andererseits sie bei ihrer Selbstbefreiung begleitet.
  • Mit der von Lenin entwickelten Theorie und der daraus resultierenden Praxis ist nach Auffassung von Moulian dieses Verhältnis in einseitiger Weise gestaltet worden.

Ein relevantes Beispiel dafür, wie eine strukturalistische Sichtweise zu einer mechanistischen Theorie verkommt, bei welcher der Klassenkampf eine sekundäre Rolle spielt, ist der Beitrag von Maurice Godelier[2] mit dem Titel System, Struktur und Widerspruch im Kapital (Godelier 1970). In diesem Text stellt der Autor das Bestehen von zwei Widersprüchen im Kapitalismus fest. Der eine davon ist der Widerspruch zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse, der andere ist der Widerspruch zwischen dem sozialen Charakter, den die Produktivkräfte erworben haben, und dem privaten Charakter der Produktionsverhältnisse. … Godelier fragt sich, ob dieser Widerspruch zwischen den Klassen der Grundwiderspruch sei. Und er verneint dies. …
Bei einer oberflächlichen Betrachtung scheinen die Gedanken von Godelier perfekt in eine historisch-strukturelle Sichtweise zu passen. Der Schein trügt jedoch. Da er die beiden Widersprüche trennt, erscheinen die Kämpfe zwischen den beiden wichtigsten Klassen des Kapitalismus nicht als Momente des Grundwiderspruchs, sondern als ein getrennter und in seiner Auswirkung auf die Dynamik des historischen Wandels auch untergeordneter Antagonismus. Wie es im Text heißt: „Die Klassengegensätze … können ‚kochen‘, aber es folgt aus ihnen nicht notwendigerweise eine Lösung (es kann im Gegenteil zu einer zyklischen Wiederholung von sozialen Konflikten, zur Stagnation usw. kommen).“ Diese Analyse zeigt eine ausgeprägte mechanistische Denkweise. Sie stellt die Dinge so dar, als ob das „Kochen“ der Kämpfe ein von der Entfaltung des Grundwiderspruchs getrenntes Phänomen wäre und nicht ein Ausdruck davon und gleichzeitig ein Beschleunigungsfaktor (S. 72-73).

Gedanken:

  • Hier zeigt sich deutlich die Anwendung der spekulativen Methode nach Hegel, also des Denkens in Gegensätzen. (vgl. https://philosophie-neu.de/zum-spekulativen-denken-bei-hegel/). Die Einschätzung einer mechanistischen Denkweise bei Godelier ist zutreffend.
  • Die Klassenwidersprüche und die Widersprüche in den Produktionsverhältnissen sind untrennbar verbunden.

Keine der sozialistischen Revolutionen, die es gegeben hat, auch nicht die Gründerrevolution 1917, hat die von der historisch-strukturellen Theorie verkündeten Möglichkeitsprinzipien „erfüllt“. Man kann sagen, dass im Augenblick der Entscheidung die These von der notwendigen strukturellen Reife aufgegeben wird, da sich die politischen Gelegenheiten für die Durchführung einer Revolution in Ausnahmeländern wie Russland, China oder Kuba ergaben, wo der Kapitalismus nicht entwickelt war, sondern definitiv erst am Anfang stand. Die Theorie wurde durch eine politische Praxis ersetzt, die von anderen realen Grundsätzen bestimmt war (S. 76).

Wie hat Lenin die revolutionären Bedingungen im entscheidenden Augenblick begründet? In seinen zahlreichen im Jahr 1917 veröffentlichten Artikeln verwendet er eine Menge verschiedener Argumente. Der Text, in dem die Verschiebung von einer historisch-strukturellen Theorie, die in Wer sind die Volksfreunde? oder in den Zwei Taktiken deutlich präsent ist, hin zu einer historischen Theorie der Konjunktur am deutlichsten zum Ausdruck kommt, ist Marxismus und Aufstand. In diesem Text spricht Lenin vom „Aufstand als Kunst“ ein Gedanke, den er Marx zuschreibt (S. 77).

Gedanken:

  • Die Formulierung „historische Theorie“ ist erneut missverständlich.

Lenin selbst berichtet von den bestehenden Meinungsverschiedenheiten unter den Marxisten und ruft dazu auf, diejenigen zu besiegen, die den sofortigen Aufstand ablehnen. Er behauptet mit seinem gewohnten Nachdruck und seiner Entschlossenheit, dass er kein Zaudern duldet: „… dass bei uns im ZK und in den Parteispitzen eine Strömung und Meinung existiert, die für das Abwarten des Sowjetkongresses, gegen die sofortige Machtergreifung gegen den sofortigen Aufstand ist. Diese Strömung oder Meinung muss niedergekämpft werden.“ (S. 79)

In diesem Sinne ist es bezeichnend, wie Althusser Ende der 1960er Jahre, … Lenin interpretiert. Diese einflussreiche tragische Gestalt der französischen Kultur versucht zu zeigen, dass Lenin die theoretische Grundlinie der Klassiker mit nur einigen notwendigen Anpassungen beibehält. … Diese Interpretation versucht zu zeigen, dass Lenin die klassische Analyse der objektiven Bedingungen nicht änderte, sondern sie als treuer Schüler nur an die Bedingungen der imperialistischen Etappe anpasste. Aber Althusser weiß bei seiner Rekonstruktion bereits das, was Lenin aufgrund seines historischen Horizonts nicht wissen konnte: die koloniale Phase des Imperialismus war eine Vorstufe und keine Phase des Zerfalls. Der erste Weltkrieg war eine Abrechnung, die zeigte, dass der Kapitalismus seine Berufung zur weltweiten Herrschaft und Globalisierung noch nicht verwirklichen konnte. … Deshalb richtet Althusser bei seiner Rekonstruktion das Hauptaugenmerk auf die Theorie vom „schwächsten Glied“. Mit dieser Theorie der kapitalistischen Unterentwicklung in Russland wird aus der Not bzw. dem Hindernis eine Tugend gemacht (S. 81).

Tatsächlich wird Kautsky, der seit 1914 zum Renegaten geworden war, zu einem erbitterten Gegner der Revolution von 1917, indem er die These von der Unreife der in Russland vorhandenen objektiven Bedingungen postuliert. Zusammen mit den russischen Menschewiki und den österreichisch-ungarischen Marxisten (unter denen Otto Bauer einen sehr interessanten Standpunkt einnimmt) kritisiert er die russische Revolution und behauptete, dass die Regeln des Marxismus und seine Geschichtslehren nicht respektiert worden seien (S. 82).

Im Allgemeinen wurde die Tatsache verschwiegen, dass Kritiker an der russischen Revolution nicht nur von der rechten Seite des Marxismus kamen. Diese tendenziöse Darstellung zeigt, dass der Aufbau einer Orthodoxie begonnen hatte, d. h. eines kulturellen Systems, in dem die Theorie offiziellen Charakter bekam und sich auf eine politische Macht stützte, die ihr Monopol Charakter verlieh, was nicht das gleiche ist wie ein hegemonialer Charakter. Ein wichtiges Symptom für die kulturellen Bedingungen, unter denen sich der Marxismus nach der Oktoberrevolution entwickelte, ist die Tatsache, dass die Diskrepanzen um diese und andere Fragen dem „breiten Publikum“ von Parteimitgliedern und Sympathisanten nicht bekannt waren. Lenin war zur heiligen Figur verklärt worden und man begann, die theoretischen Auseinandersetzungen nach dem Kriterium der Staatsräson zu lösen. Es setzte sich die gefährliche Vorstellung durch, dass man nur dann ein wahrer Marxist sein konnte, wenn man mit den Parteichefs, zuerst Lenin, dann Stalin oder Breschnew, einer Meinung war. … Verschwiegen wurde … die Tatsache, dass die Entscheidung der Bolschewiki, den Aufstand durchzuführen, sofort eine Polemik unter den Marxisten ausgelöst hatte, von denen einige eindeutig linke Standpunkte vertraten wie Luxemburg und Pannekoek. Diejenigen, die behaupteten, die Entscheidung zur Durchführung der Revolution in Russland sei eine marxistische gewesen, waren vor allem nach der Verkündung der These vom „Sozialismus in einem Land“ bestrebt die Kritiker zu isolieren, welche die Entscheidung von 1917 infrage stellten. Deshalb verschwiegen sie insbesondere die linken Kritiken und hier wiederum vergaßen sie völlig die wichtigen Probleme, auf die Rosa Luxemburg hingewiesen hatte, obwohl man sie gleichzeitig als tragische Heldin verklärte (S. 83-84).

Er stellt dann die Auffassungen von Rosa Luxemburg zur Oktoberrevolution dar, zitiert aus ihrer Schrift „Die russische Revolution“ (Luxemburg und Levi 2022) und hebt ihren zentralen Gedanken hervor, „dass die Energie für den Aufbau des Sozialismus, der damals eine erstmalige Erfahrung ohne Rezept war, nur aus einem reichen öffentlichen Leben, dessen Entwicklung durch die Massendemokratie ermöglicht wird, hervorgehen kann“ (S. 85).

Das Stillschweigen, das Marcuses Buch über den sowjetischen Marxismus umgab, gehörte zu derselben Strategie des Cordon sanitaire [französisch für „Isolationsgebiet“, „Sperrgürtel“]. In seinem Buch Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus aus dem Jahre 1958 schrieb dieser bedeutende Philosoph, aufgrund der in Russland zum Zeitpunkt der Machtübernahme bestehenden Bedingungen hätten nur schwer das „objektive historische Bewusstsein“ entstehen, ein revolutionäres Proletariat bestehen können, das imstande gewesen wäre, „den Fortschritt der Zivilisation“ zu betreiben. Diese „Unreife“ so bezeichnet das Marcuse, habe verhindert, dass der Sozialismus als „absolute Negation“ der vorherigen Etappe wirken konnte, dass er zum Beispiel die in der vorherigen Etappe erfolgte ungeheure technologische Entwicklung für die neue Gesellschaft nutzbar machen konnte (Marcuse 1989, S. 33–38).(S. 86)
Marcuse verbindet in seiner Kritik den objektiven und den subjektiven Faktor. Tatsächlich können beide Begriffe zwar unterschieden, aber nicht getrennt werden. Trotzdem trennen Lenin oder Che Guevara oft die objektiven von den subjektiven Bedingungen und zählen zu den letzteren den revolutionären Willen der Guerilla oder den Lernprozess der russischen Revolutionäre von 1905-1907. … Tatsächlich waren im Oktober 1917 die Arbeiter, Bauern und Soldaten von Moskau und Petersburg zum Aufstand bereit. … Dieser subjektive Faktor, der für den Aufstand oder den bewaffneten Kampf eingesetzt werden kann, ist aber nicht derselbe, der gebraucht wird, um zu führenden Klasse beim Aufbau des Sozialismus beim Übergang zur kommunistischen Gesellschaft zu werden (S. 87).

Den entgegengesetzten Standpunkt nimmt Antonio Gramsci in seinem Artikel über die russische Revolution von 1917 ein, indem er diese vehement verteidigt. Dabei kritisiert er nicht nur die Theorie von der Unreife, sondern nebenbei auch die Bedeutung, die den strukturellen Bedingungen in der marxistischen Literatur beigemessen wird. Diese Schrift trägt den Titel Die Revolution gegen Das Kapital. Der Titel spricht für sich selbst, denn offensichtlich meint er nicht das Kapital als Faktor der kapitalistischen Produktionsweise, sondern das Buch von Marx. Nach Ansicht von Gramsci stellt die russische Revolution ein Dementi des gebräuchlichen Marxismus dar … Revolution, so sagt Gramsci, wurde dort nicht mithilfe von Marx‘ Kapital gemacht, sondern trotz des Kapitals (S. 88).

Diese Argumente werden später, … von denen wiederholt, die in der kubanischen Revolution die reguläre und normale Form des Übergangs zum Sozialismus in Lateinamerika sehen. Guevara zum Beispiel erklärte, dass in Lateinamerika die objektiven Bedingungen bereits gegeben seien, also nur noch die subjektiven fehlten. Mit der kubanischen Revolution meint man das Allheilmittel gefunden zu haben, um diesen Mangel zu beheben: Diese Bedingungen „werden durch den bewaffneten Kampf geschaffen“ (Guevara 2003). Das interessante an der Argumentation Guevaras ist, dass er die Unterentwicklung als den Faktor identifiziert, der die revolutionären Möglichkeiten begünstigt. … Mit Recht kann man von einer paradoxen Analyse sprechen, denn demnach wäre gerade die Schwäche des Kapitalismus das, was dem Sozialismus den Weg bahnt (S. 89).

Gedanken:

  • Moulian analysiert in erstaunlich sachkundiger, theoretisch fundierter und treffender Weise grundlegende Probleme der Oktoberrevolution und die dabei zentrale Rolle Lenins. Er geht auch konkret auf die Auffassungen bekannter marxistischer Philosophen ein.
  • Dies zeigt erneut die Tragik der Entwicklung der Anfänge des Sozialismus und deren tiefere Hintergründe, die Abweichung vom Marxismus durch Lenin.
  • Obwohl es schwer fällt, muss man sich von dem glorifizierten Ideal der Sozialistischen Oktoberrevolution verabschieden.
  • Der Gedanke einer paradoxen Entwicklung des Sozialismus wird von Ulrich Knappe (2019) in seinen Analysen zur Entwicklung nach 1917 weitergeführt.

Aus dieser Unreife der Bedingungen, zu der als ein Element die unvollständige Entwicklung der Klasse gehörte, welche die Führung der Revolution übernehmen sollte, ergibt sich eine Konsequenz: die große Gefahr eines „Entartens“ der Revolution. … Die Entartung bestand darin, dass der Prozess seine eigenen Zielsetzungen und Versprechungen nicht erfüllte. Diese Bewertungsmethode scheint mir angemessen, weil der Marxismus … damit konfrontiert werden sollte, was Marcuse als „immanente Kritik“ bezeichnete. Sie vergleicht die historische Praxis der Revolutionen mit denen in ihrer Theorie vom Übergang enthaltenen Versprechen. … Das deutlichste Versprechen aber machte Lenin in Staat und Revolution, einem Text, der größtenteils kurz vor dem Aufstand geschrieben und kurz danach veröffentlicht wurde. Dort heißt es, der Staat der Diktatur des Proletariats wäre ein halber Staat, ein absterbender Staat. Der Übergang zum Sozialismus wird als ein Prozess des Abbaus des Staates gesehen. Bei dieser Aussage stützt sich Lenin auf Schriften von Marx und Engels, die er selbst als „reife“ Werke einstuft (S. 90).

Der Autor beschreibt dann den Entwicklungsprozess insbesondere in Bezug auf die Rolle des Staates nach der Revolution 1917. Lenin hatte nach seiner Auffassung das Bestreben, in Russland den Staatskapitalismus einzuführen.

Während dieser ganzen Zeit verfolgt Lenin einen Gedanken, den er in dem Text Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll entwickelt. Darin erklärt er unumwunden, in seinem nichts beschönigenden Stil, dass „… der staatsmonopolistische Kapitalismus … die vollständige materielle Vorbereitung des Sozialismus, seine unmittelbare Vorstufe ist, denn auf der historischen Stufenleiter gibt es zwischen dieser Stufe und derjenigen, die Sozialismus heißt, keinerlei Zwischenstufen mehr“. Diese nachträgliche Anerkennung der „Unreife“ hat eine dramatische Facette. … Ob sich die Revolutionäre nun geirrt hatten oder nicht, die einzige Möglichkeit bestand darin, die sozialistische Macht zu stützen und die Hoffnung auf ihre emanzipatorische Kraft aufrechtzuerhalten.
Die schlimmste Falle, in welche der Prozess des Abbaus des Staates tappte, war vielleicht eine 1921, also zu Lebzeiten Lenins, getroffene Entscheidung des X. Parteitages. Vom historischen Standpunkt aus ist der Umstand, dass hier eine zweite entscheidende Wende – die erste war die Illegalisierung der anderen revolutionären Kräfte – anzusetzen ist, sehr bedeutend, weil üblicherweise die ganze Verantwortung für die Entartung des Sozialismus … Stalin angelastet wird. Aber es war der X. Parteitag, der beschloss, alle in der Partei bestehenden Fraktionen auszuschalten, die systematisch andere Auffassungen über die Entwicklung des Übergangs vertraten (S. 96-97).

Gedanken:

  • Der Autor verdeutlicht die verheerende Rolle, die Lenin bei der russischen Revolution spielte. Unklar bleibt allerdings, als welchen, auch theoretischen Gründen Lenin zu diesen Auffassungen und Entscheidungen kann.

Der Autor beschreibt dann die politischen Entwicklungen in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern. Er stellt dann die Frage: „Was machte Stalin und seine Politik möglich?“ (S. 110)

Wie ich zu zeigen versuchte, ist der eigentliche Grund der, dass die Revolution in einem Land begann, wo es noch keinen Kapitalismus gegeben hatte und wo das Gewicht der Akkumulation, zu deren Durchführung der Kapitalismus keine Gelegenheit gehabt hatte, den proletarisierten oder zu kollektiven Werktätigen gewordenen Bauern aufgebürdet werden musste. Diese Bedingungen machten die Kollektivierung und die Zwangsmaßnahmen gegenüber der Arbeitskraft zu einer objektiven Notwendigkeit, … ohne die die Umwandlung Russlands und seines Imperiums unmöglich gewesen wäre (S. 110).

Gedanken:

  • Mit dieser Einschätzung stimmte der Autor mit den Auffassungen von Knappe überein.

Im nächsten Kapitel beschäftigt sich Moulian mit dem Einfluss der Sozialdemokratie auf die Entwicklung, insbesondere in den lateinamerikanischen Ländern. Abschließend stellt er fest:

Selbstverständlich hat die ideologische Schwächung der sozialdemokratischen Parteien eine lange Geschichte. Nach und nach haben sie die alternative Energie und die Begeisterung für einen Wandel, die im ursprünglichen Projekt eines Sozialstaates steckten, eingebüßt. Der instrumentale Charakter untergrub allmählich die Absicht, die Politik zu verbessern und die Qualität der Demokratie zu heben. Losgelöst von dieser Energie, welche die Staatsbürger in Subjekte verwandeln könnte, reduziert sich Wohlstandspolitik auf Beschwichtigungsstrategien für die eigene Klientel.

Im nächsten Kapitel stellt er dann seine Vorstellungen für einen „neuen Sozialismus“ für das 21. Jahrhundert dar.

Die Strategie der politischen Revolution und die der sozialdemokratischen Reformen sind in vieler Hinsicht grundverschieden, ja sogar konträr. … Tatsächlich bestehen zwischen den beiden Systemen entscheidende Unterschiede. In anderer Hinsicht aber folgen sie demselben Schema. Die revolutionäre Politik und die reformistische Politik zielen auf ein und denselben privilegierten „locus“ ab, nämlich den Staat, betrachtet als zentrale Ebene der Entscheidung und Durchsetzung. (S. 137)
Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts muss dem Irrtum des 20. Jahrhunderts, der Etatolatrie, dem Staatskult, abschwören. In einem Fall forderte dieser Kult Todesopfer und führte zur Verinnerlichung einer atavistischen Angst, im anderen wurde die soziale Energie verstümmelt (S. 139).
Eine sozialistische Politik muss die ursprüngliche Idee vom Abbau des Staates in neuer Form aufgreifen. Der beste Staat ist der, von dem aus man den Staat selbst bekämpfen kann, indem man die Assoziierung von Bürgern, Arbeitnehmerproduzenten fördert (S. 139-140).
Die politische Strategie des Kampfes gegen den Kapitalismus, die sich sowohl von der revolutionären als auch von der reformistischen Form unterscheidet, könnte man als Transformationsstrategie bezeichnen. … Der zentrale Unterschied zur revolutionären Politik besteht darin, dass keine Machtübernahme versucht wird, um den vorhandenen Staat zu zerstören und eine neue politische Diktatur errichten zu können. … Die Transformationspolitik versucht, mit allen Mitteln den „Krieg auf Leben und Tod“ zu vermeiden. Den „Krieg auf Leben und Tod“ zu vermeiden, bedeutet zwei Dinge: zu vermeiden, dass man verliert, was angesichts des weltweiten Kräfteverhältnisses sehr wahrscheinlich wäre aber auch (und das ist das wichtigste) zu vermeiden, dass man gewinnt, weil der Sieg zum Pakt mit dem Leviathan führen und bedeuten würde, dass man für immer zum Gefangenen der Kultur des „Krieges auf Leben und Tod“ wird. Das ist hier kein Wortspiel, sondern ein Hinweis auf die Tragödie der Gewalt, die sich durch die Geschichte zieht und auch auf die Grausamkeit der Gewalt der Bourgeoisie. Die historische Erfahrung hat nicht nur gezeigt, dass es im Sozialismus nie eine wirkliche Vergesellschaftung der Produktionsmittel gegeben hat, sondern auch, dass die sozialistischen Revolutionen nie den Makel ihres Ursprungs loswerden konnten und sich stets durch Zwang behaupten mussten. Nie konnten sie eine partizipative Demokratie errichten, weil der „Krieg auf Leben und Tod“ nie nachlässt, sondern immer weitergeht (S. 140-141).

Gedanken:

  • Die absolute Ablehnung eines „Krieges auf Leben und Tod“ ist eine verständliche Konsequenz aus den desaströsen Entwicklungen in den ehemaligen sozialistischen Ländern.
  • Der Unterschied zwischen der proklamierten Transformationsstrategie und einer revolutionären Strategie wird deutlich herausgestellt. Der Unterschied zur reformistischen Strategie bleibt unklar.

Der „neue Sozialismus“ sieht in der maximalen Demokratisierung die Verwirklichung seines Projektes, auch wenn das bedeutet, dass die Illusion vom Ende des Staates durch die maximale Vergesellschaftung der Macht ersetzt wird und das Ende der Ausbeutung durch eine Wirtschaft, die distributiv ist und den „Wirtschaftssubjekten“ gehört. Gleichzeitig besteht der entscheidende Unterschied zur reformistischen Politik darin, dass er Änderungen vorschlägt, die sich gegen den Kapitalismus, seine Institutionen, seine Kultur und seine Logik richten. Er versucht eine Politik des kreativen Widerstandes aufzubauen und leitet nicht nur Änderungen ein, die ihn „humanisieren“ sollen, um ihn erträglicher zu machen. Ja eine transformierende Politik hält es sogar für unmöglich, den Kapitalismus zu humanisieren, sofern dieser nicht auf die Mehrarbeit als Quelle der Kapitalakkumulation verzichten kann (S. 141).
Die Transformationsstrategie muss als schrittweise und langfristig angesehen werden. Sie lehnt es nicht ab, politische Macht im Staat zu akkumulieren, um gesetzliche Reformen einleiten zu können, aber sie hält dies nicht für die Kernfrage, sondern nur für eine der wichtigen Fragen. Das wichtigste Arbeitsgebiet ist die Gesellschaft, da versucht wird, sowohl in der Politik und in der Kultur als auch in der Wirtschaft Institutionen oder Erfahrungen zu schaffen, die dem Geist des Kapitalismus widersprechen, und zahlreiche Auseinandersetzungen und Kämpfe zu führen, insbesondere auf ideologischem Gebiet, um essenzielle Werte wie Solidarität und Brüderlichkeit zu stärken. Eine solche Politik fördert das Entstehen sozialer Subjekte (S 142).

Gedanken:

  • Der Unterschied zur reformistischen Strategie ist die utopische Hoffnung, unter den Bedingungen des Kapitalismus, der nicht „humanisierbar“ ist, Änderungen vorzuschlagen und dann wohl auch umsetzen zu wollen, die gegen den Kapitalismus gerichtet sind.
  • Moulian verabschiedet sich von seiner vorher erfolgreich praktizierten Methode des Denkens in Gegensätzen und verfällt in die übliche einseitige Betrachtungsweise. Dies führt unweigerlich zu den weitgehend utopischen Vorstellungen.
  • Bei seinen Ausführungen geht es um das Denken und Handeln in folgenden Gegensätzen: Entfaltung und Einschränkung, Demokratie und Nichtdemokratie, Freiheit und Zwang.

Er beschäftigt sich dann ausführlich mit der Rolle des Staates und den Formen der Demokratie. Er tritt dafür ein, von einer nur repräsentativen zu einer partizipativen Demokratie überzugehen (S. 151).

Die vorgeschlagene partizipative Demokratie verzichtet nicht auf die Repräsentation, denn das hieße in der Illusion der Agora zu verfallen. Es ist notwendig, Repräsentanten zu wählen, doch muss die Illusion der Überidentifizierung vermieden werden, der Glaube, dass wir unser „politisches Ich“ wählen. Im Gegensatz dazu zeichnet sich ein partizipatives System dadurch aus, dass jemand gewählt wird, den man im Auge behält, dem man ein kritisches Vertrauen entgegenbringt. Die politische Körperschaft verliert nie die Möglichkeit, direkt auf die Vertreter einzuwirken, und bleibt somit ständig aktiv (S. 152).

Eine partizipative Demokratie verlangt nicht nur eine Dezentralisierung der politischen Macht, sondern ihre Fragmentierung und ihre „Streuung“. Fragmentierung heißt, dass die mittleren und lokalen Gewalten so viel Autonomie haben, wie mit dem Bestehen eines Nationalstaates vereinbar ist, und dass sie über umfassende Handlungsfähigkeit in möglichst vielen Sphären verfügen. Die Fragmentierung ist nicht nur ein Mittel, um das Problem regionaler Unterschiede zu lösen. Ihre Bedeutung ergibt sich nicht nur aus Identitätsdisputen ethnischer oder religiöser Art. … Aber die Fragmentierung ist auch dann unerlässlich, wenn es sich um relativ homogene Nationen handelt. Sie ist eine Hauptachse des sozialistischen Projekts. … Bei dieser Logik geht es um die Schaffung von Räumen, wo die aktive Staatsbürgerschaft am effizientesten ausgeübt werden kann. Es geht darum, politische Bezirke zu schaffen und die Deliberation und permanente Souveränität der politischen Körperschaft durch angemessene Größenordnungen und Distanzen erleichtert wird. Es gibt kein partizipatives demokratisches System ohne geeignete politische Bezirke. Die Fragmentierung der zentralisierten politischen Macht findet ihre Umsetzung in föderativen Strukturen, bei denen die Gemeinden und Regionen große Autonomie genießen. Auf diese Weise werden Gegengewichte zu Gefräßigkeit der zentralisierten Spitzen errichtet (S. 154-155).

Gedanken:

  • Er versteht es erneut nicht, das dialektische Wechselverhältnis von Fragmentierung und Zentralisierung zu charakterisieren.

Die direkte Beteiligung der Bürger an der Ausarbeitung der Gesetze ist eine weitere Hauptachse eines Systems mit Primat der Partizipation gegenüber der Repräsentation. Diese Partizipation an der Gesetzgebung kann grob gesprochen die folgenden vier Formen annehmen: die der verfassungsgebenden politischen Körperschaft, die des Volksbegehrens als Form der Gesetzesinitiative, die des Volksbegehrens zur Anfechtung von Gesetzen, die des partizipativen Budgets (S. 158-159).

Gedanken:

  • In diesen Ausführungen geht es um das Verhältnis von Partizipation und Repräsentation.

Damit aber die Parteien ihre verlorene Legitimität zurückgewinnen können, müssen sie sich in Organisationen verwandeln, die eine deliberative Demokratie stimulieren (S. 160).
Das wichtigste für ein demokratisches Parteileben ist also, dass die Parteien aktive und offene politische Diskussionsforen sind und dass die interne Diskussion von den Standpunkten zu entscheidenden politischen Fragen bestimmt wird, nicht von Beziehungen zwischen Interessengruppen (S. 161).
Häufig neigen die Führungsspitzen dazu, Prinzipiendiskussionen für müßig zu erklären. Sie berufen sich dabei auf konjunkturelle Erfordernisse oder den technischen Charakter der Themen. Solche Gesten drücken Haltungen aus, die der innerparteilichen Demokratie abträglich sind. Die Weigerung, über den Hintergrund, über die Grundlagen der Optionen, zu diskutieren, ist Ausdruck eines konservativen Reflexes. Es handelt sich um eine Sakralisierung dessen, was in der Praxis gemacht wird, der politischen Gewohnheiten. Wenn das zentrale Merkmal der partizipativen Demokratie Deliberation ist, muss die Partei ein ausstrahlendes Zentrum, ein lebhaftes Forum sein, wo eine konstante politische Kritik der eigenen Praxis stattfindet (S. 162).

Gedanken:

  • Diese Betrachtungen lassen sich voll und ganz auf die aktuelle Situation in der Partei DIE LINKE anwenden. Aber auch hier ist das Problem nicht darauf zu reduzieren, dass es offene Diskussionsforen geben muss, die gibt es in der LINKEN durchaus und sogar in weit größerem Maße, als es sinnvoll ist. Die Führungsspitzen haben die Aufgabe, diese Diskussion zu fokussieren und auf einer theoretischen Grundlage zu strukturieren.

Eine deliberative Gesellschaft muss eine informierte Gesellschaft sein. Deshalb ist es essenziell, dass für Personen, Parteien und soziale Organisationen ein pluralistischer Zugang zum Eigentum und zur Verwaltung der Kommunikationsmedien besteht. Hier kommt einer öffentlich-rechtlichen, aber nichtstaatlichen Körperschaft, welche die soziale und kulturelle Vielfalt widerspiegelt, eine regulierende Rolle zu. … Es ist ein unvermeidlicher Gemeinplatz, auf die entscheidende Rolle der Massenmedien bei der Festlegung der Themen der öffentlichen Diskussion, sowohl was den Inhalt als auch was die Form betrifft, hinzuweisen. Sie haben in der Massengesellschaft die Möglichkeit, Ereignisse sichtbar zu machen. Durch sie wird ein Sachverhalt, der auch unbeachtet hätte bleiben können, zu einer öffentlichen Angelegenheit, über die man sprechen muss (S. 164).

Für eine partizipative Demokratie ist es wichtig, dass sich Bürgerorganisationen entwickeln, die Marginalisierung und Verfolgte verteidigen, selbst wenn diese Marginalisierung und Verfolgung formaljuristisch korrekt ist. Die Verteidigung der Rechte von Immigranten, von nicht in die Arbeitswelt eingegliederten Personen, auch von Strafgefangenen muss ein aktives Anliegen von Bürgerassoziationen sein. Bei diesem Anliegen zeigt sich, welche Bedeutung ein politisches System den Menschenrechten beimisst. … Hier geht es im Grunde darum, dass der Sozialismus, verstanden als partizipative Demokratie, das Wort politisches Dissidententum aus seinem Vokabular streichen sollte (S. 167).

Niemand darf von der politischen Freiheit ausgeschlossen werden, mit anderen Worten: von der Möglichkeit, seinen Diskurs vorzubringen und Mittel einzusetzen, um gehört zu werden. Der Ausschluss eines Einzelnen annulliert den Gesamteffekt der Freiheit. Das gilt mit einer einzigen Ausnahme: jenen, die das Grundprinzip des Systems verletzen. Das sind diejenigen, welche die Politik als die Ausrottung des anderen, als Krieg auf Leben und Tod definieren. Das ist der einzige unversöhnliche Unterschied. Die Ausrottung ist etwas ganz anderes als der Klassenkampf oder der Konflikt zwischen kollektiven Subjekten mit verschiedenen Projekten. Die Politik als Krieg auf Leben und Tod, das sind Hitler, Mussolini, Stalin, Franco, Pinochet, das ist die Herrschaft des Polizeiterrors (S. 168).

Gedanken:

  • Das ist alles ziemlich unkonkret, vereinfacht und einseitig. Es werden nicht die unversöhnlichen Klassenverhältnisse betrachtet, sondern an einem zwar richtigen, aber letztlich einseitigen Prinzip festgehalten. Neben diesem Prinzip gibt es noch etliche andere Dinge, wie Rassismus, Homophobie oder Misogynie, die aus dem freien Diskurs ausgeschlossen werden sollten.

Eine partizipative demokratische Gesellschaft, in der Deliberationsmöglichkeiten geschaffen werden, ist keine Konsens- sondern eine Diskussionsgesellschaft. Es gibt in ihr also keine gemeinsame Wahl, sondern moralische Diskussionen, die bei der Entscheidungsfindung helfen sollen. Aber die Entscheidung liegt in der Verantwortung des Staatsbürgers. Weder der Staat noch folglich die aus den legislativen Organen hervorgegangenen Rechtsnormen dürfen bei gewissen Fragen versuchen, die freie moralische Gewissensentscheidung der Individuen zu determinieren. Diese müssen das Recht haben, in bestimmten moralischen Fragen wie Scheidung, Abtreibung, Sterbehilfe im Falle natürlicher Erkrankung oder Kriegsdienst zu entscheiden, ohne einem öffentlichen Zwang zu unterliegen (S. 169).

Gedanken:

  • Die Rolle von Moral und Ethik ist sicher ein wichtiges Thema, aber viel komplexer als es hier von Moulian dargestellt wird.

Eine partizipative Demokratie ist per Definition pluralistisch, und zwar weil sie den Wettbewerb der unterschiedlichsten Standpunkte zulässt und weil sie die Vielfalt von Subjekten akzeptiert, von verschiedenen Parteien über Vereinigungen von Homosexuellen und Abtreibungsbefürwortern bis zu Befürwortern von Kollektivierungsmaßnahmen (S. 170).

Der einzig nachhaltige und politisch erfolgreiche Versuch, eine Formel zu entwerfen, bei dem die friedlichen Aspekte gegenüber den gewaltsamen vorherrschten, war der „chilenische Weg zum Sozialismus“, ein Versuch der später mit viel stärkerer theoretischer Untermauerung vom Eurokommunismus fortgesetzt wurde. Leider begünstigte im Fall der Unidad Popular das Fehlen einer solideren theoretischen Grundlage im Sinne des eigentlichen marxistischen Paradigmas die Offensive der linksradikalen Sektoren gegen dieses Modell. Diese Sektoren behaupteten unter Berufung auf denselben konjunkturellen Historizismus, den Lenin 1917 durchsetzte, dass es notwendig sei, „kompromisslos voranzuschreiten“. Die Pressionen gegen Allendes Bündnisstrategie verstärkten sich und die Ausweitung der unterstützenden Basis wurde immer schwieriger. Mit diesem Scheitern, das zu einer blutigen Diktatur führte, wurden die Hoffnungen der 1960er Jahre auf einen nicht gewaltsamen Weg aufgegeben (S. 172).

Gedanken:

  • Dies scheint mir eine Überhöhung der progressiven Entwicklung in Chile, den der Autor auch beteiligt war, zu sein. Auch das Scheitern der Entwicklung halte ich für zu einfach dargestellt.

Der neue Sozialismus muss sich einer Herausforderung stellen, die der alte nicht akzeptieren konnte: sich als Macht zu reproduzieren, indem er zeigt, dass er das Projekt der Mehrheit ist. Für ihn wird es die bequeme Position nicht geben, die sich aus der Selbstdefinition und dem Selbstverständnis ergab, der Vertreter der wahren Interessen dermaßen zu sein. … Der lange Konformismus, der das politische Leben in den alten sozialistischen Ländern prägte, beruht auf Zwangselementen, welche die Ausübung der Politik einschränkten und eine direkte Meinungsäußerung des Volkes verhinderten (S. 174).

Gedanken:

  • Bei den bisher dargestellten Vorschlägen für einen neuen Sozialismus wird nicht klar, ob sie auf der Basis einer kapitalistischen oder einer nachkapitalistischen Wirtschaftsordnung realisiert werden sollen. Wenn dies im Rahmen der bestehenden finanzkapitalistischen Verhältnisse realisiert werden soll, kann man es nur als Utopie bezeichnen. Wenn es aber um Vorschläge für eine nachkapitalistische Gesellschaft geht, so sind es durchaus interessante Ideen für den gesellschaftlichen Überbau.

Die Ökonomen bemühen sich sehr uns vergessen zu lassen, dass der Zweck des Wirtschaftens die Reproduktion des Lebens ist, und zwar in dem Sinne, dass die Güter für das Überleben und die Entwicklung der Menschen notwendig und kein Selbstzweck sind. … Da die Wirtschaft mit dem Erhalt und der Entwicklung des Lebens in seiner Doppelbedeutung zu tun hat, sind für ihre Ziele sowohl Hunger als auch Verschwendung etwas Irrationales. … Aber eine große Zahl weiser Ökonomen hat es geschafft, dieses entscheidende Prinzip zu vergessen und die Priorität der Zielsetzung zu ändern. Die Absicht dieser Ökonomen ist es, glauben zu machen, dass die Befriedigung der Bedürfnisse durch die Ausrichtung der wirtschaftlichen Tätigkeit auf die Gewinnlogik besser gewährleistet wird. Diese Umorientierung trennt in der Praxis die Wirtschaft von der Reproduktion des Lebens, weil sie diesen Prozess dem Geld unterordnet (S. 176-177).

Im klassischen Sozialismus wurde das Problem [ein Korrektiv gegen die exzessive Gier zu haben] durch die Beseitigung des Privateigentums und des privaten Gewinns gelöst. Das ist tatsächlich eine Lösung, doch der Preis ist die Schaffung eines anderen wirtschaftlichen Problems: die Frage wie die Akteure zur Schaffung von Reichtum motiviert werden sollen. Das Privatinteresse und die soziale Rationalität sind zwei sehr verschiedene Quellen wirtschaftlicher Motivation, aber nur wenn Eigentum und direktes Management zusammenfallen, funktioniert dem Schutz des Privatinteresses zu leben, die intensivste Form der Sorgfalt … Das Problem beginnt, wenn Eigentum und direktes Management auseinanderfallen. In der Praxis sind die Staatsbetriebe nur ein Sonderfall dieses Problems, das in Unternehmen auftritt, wo eine solche Trennung erfolgt. Aber bei den kapitalistischen Unternehmen, wo dies der Fall ist – und das sind die meisten –, gibt es am Ende der Befehlskette so etwas wie professionelle Kapitalisten, deren Beruf und Fertigkeit darin besteht, sich auf die Kontrolle der vom direkten Management durchgeführten Extraktion von Mehrarbeit zu verstehen. Da aber auch die Informationen, die Eigentümer zur Verfügung stehen, die nicht direkt Anweisungen erteilen, Signale und Indikatoren sind, die gedeutet werden müssen, können auch sie eigene Analysefehler begehen und dem Korpsgeist der direkten Manager zum Opfer fallen und sich von ihnen zu tendenziösen Interpretationen verleiten lassen. In diesem Fall aber gestattet die durchschnittlich größere Flexibilität der Privatunternehmen eine rasche Korrektur. Außerdem wirkt das Gewinnstreben nicht nur wie ein sechster Sinn, sondern auch als Anstoß für Kontrollen und Überwachung (S. 181).
Im Staatsbetrieb liegt das Management in den Händen öffentlicher Bürokraten, die sich anderen, rankhöheren Bürokraten gegenüber verantworten müssen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich gegenseitig decken, ist größer als bei den Privatunternehmen, wo es eine Trennung Eigentum/Management gibt. Teilweise geschieht das, weil es sich um stärkere rekursive Systeme handelt und weil der Ansporn, sich das Gewünschte nicht entgehen zu lassen, der den Kapitalisten zu einem höheren Maß an Wachsamkeit und Kontrolle veranlasst, fehlt.

 

Gedanken:

  • Damit verlässt Moulian den Boden des Marxismus. Er hält offensichtlich die privatkapitalistische Wirtschaftsweise für effektiver als die nichtkapitalistische und begründet dies mit fragwürdigen Argumenten zur Motivation der Akteure und zur Rolle des Managements. Er verfällt damit selbst in die von ihm vorher so vehement kritisierten Glaubenssätze von dem Kapitalismus als dem Ende der Geschichte.
  • Ohne eine, wie Marx es formulierte Expropriation der Expropriateure, also Enteignung der Enteigner und das entschädigungslos, wird es keinen neuen Sozialismus geben. Die Frage ist nur, auf welche Weise das geschieht. Es wird auf jeden Fall nicht ohne Zwang gehen, denn keiner und schon gar nicht die Besitzenden werden sich ihr Eigentum so einfach wegnehmen lassen. Dies kann aber durchaus unblutig geschehen, wie die friedliche Revolution 1989 in der DDR beweist.

Nur in selbstverwalteten Betrieben, die es in den historischen sozialistischen Ländern nur in Jugoslawien und Algerien in stabiler Form gegeben hat, ist das Motivationsspektrum komplexer und umfassender. Hier verbindet sich das Interesse der Arbeitergemeinschaft daran, dass die Geschäftsführung gut ausgeübt wird, mit dem Interesse an der kollektiven Verteilung jenes Teils des Gewinns, der auf Beschluss nicht rückinvestiert werden soll (S. 182).

Gedanken:

  • Das ist eine sehr vereinfachte Auffassung von der Funktionsweise einer nichtkapitalistischen Wirtschaftsordnung. Es kann nicht jeder Betrieb nur an sich denken und so wirtschaften, dass möglichst viel Gewinn entsteht. Der Autor hat sich selbst dafür ausgesprochen, dass die Wirtschaft in erster Linie dem Erhalt und der Entwicklung des Lebens dient. Dies schließt die monetäre Gewinnorientierung einzelner Betriebe aus. Es geht um das Verhältnis von betrieblichen und gesamtgesellschaftlichen Interessen.

Das hat Konsequenzen dafür, wie der neue Sozialismus im wirtschaftlichen Bereich definiert wird. Der neue Sozialismus verwendet ein Großteil seiner Energie darauf, ein humanes Verteilungsniveau zu erzielen, d. h. darauf, dass alle die Möglichkeit erhalten, ihr Leben auf einem Niveau der durchschnittlichen Bedürfnisse der Zeit zu reproduzieren. Hingegen setzt man nicht auf die Abschaffung des Wertgesetzes, sowie dieses im Kapitalismus funktioniert. Ebenso wie das Absterben des Staates, hat sich das Ende der Ausbeutung als Utopie erwiesen, und zwar nicht im positiven Sinne wie bei Bloch, sondern in pejorativem und ironischem Sinne, wie Marx den Begriff verwendet. In der historischen Praxis der sozialistischen Gesellschaft war die Vergesellschaftung der Produktionsmittel eine Ausnahme. Was sich durchsetzte, war Verstaatlichung, was nicht dasselbe ist, sondern genau das Gegenteil. Bei der Verstaatlichung wird das Management der Betriebe, die Entscheidung über die Investitionen über die Gewinne, in die Hände einer Bürokratie gelegt, die einer anderen ranghöheren Bürokratie rechenschaftspflichtig ist. Es wird nicht in die Hände der Produzenten gelegt, sodass zwar die private Aneignung der Gewinne abgeschafft wird, dies jedoch nur geschieht, um an ihre Stelle die Aneignung durch die Kaste treten zu lassen, welche die Staatsmacht kontrolliert. Sie wird nicht wie das politische Versprechen lautet, durch eine soziale Aneignung ersetzt, die von den Produzenten selbst im Rahmen einer demokratischen Planung beschlossen wird. In den Ländern des Realsozialismus gab es also keine Beseitigung der Ausbeutung und somit auch keine Aufhebung des Wertgesetzes. Geändert wurde die Form, in der dieses Gesetz wirkt. Es war der Staat, der sich über die Bürokratie die Mehrarbeit aneignete … Auf diese Weise wurde ein mächtiger Wohlfahrtsstaat errichtet, aber keine sozialistische Gesellschaft. Produzenten waren genauso weit davon entfernt Wirtschaftssubjekte zu sein, wie im Kapitalismus. Die Staatsklasse, welche die Bürokratie war, handelte gleich wie die Kapitalisten, indem sie die Produzenten von den Früchten ihrer Arbeit trennte und sich diese aneignete, um über deren Verwendung zu entscheiden (S.182-184).

 

Gedanken:

  • Die Ausführungen zeigen die fehlenden Kenntnisse des Autors zu den tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse in den ehemaligen sozialistischen Ländern und eine starke und damit unzulässige Vereinfachung der Vorgänge in der Wirtschaft. Die Mehrzahl seiner Ausführungen sind nicht zutreffend.
  • Als Politikwissenschaftler und Soziologe ist offensichtlich der Autor für ökonomische Fragen weniger kompetent.
  • Wenn diese Auffassungen zu den ökonomischen Verhältnissen unter den Linken in Lateinamerika verbreitet sind, werden die gegenwärtigen revolutionären Bestrebungen in vielen dieser Länder langfristig nicht zum Erfolg führen. Auch das bisherige Scheitern linker Regierungen kann mit diesen Fehlauffassungen zusammenhängen.

Der neue Sozialismus muss in den Begriffen komplexer, also gemischter Wirtschaften denken … Eine komplexe gemischte Wirtschaft ist eine, bei der eine kleine Gruppe von Staatsbetrieben in Verbindung mit Privatunternehmen und mit assoziativen Betrieben besteht. Die letzte Art von Betrieben muss im Wirtschaftssystem eine wichtige und immer größere Rolle spielen. Man kann drei verschiedene Arten von assoziativen Unternehmen unterscheiden: Aktiengesellschaften neuen Typs, genossenschaftliche Betriebe und Arbeitnehmerbetriebe (S. 184).
Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal einer sozialistischen Wirtschaft ist, dass in ihr die Produzenten nicht Kunden eines Staates sind ihre Bedürfnisse definiert. Sie sind „Wirtschaftssubjekte“ (S. 184-185).

Zu „Wirtschaftssubjekten“ werden die Subjekte durch die Teilnahme an der Mitbestimmung in den Privatunternehmen und am Management in den assoziativen Betrieben, durch die Partizipation bei Planungsvorgängen und bei der Ausarbeitung der Budgets (S. 186).

Im letzten zusammenfassenden Kapitel stellt der Autor fest: „Von allen Katastrophen, die uns im 20. Jahrhundert widerfahren sind, ist die schlimmste der Zusammenbruch der Hoffnung, dass es möglich sein wird eine bessere Gesellschaft hervorzubringen. Diese Ermutigung hat uns blind gemacht, sie hat dazu geführt, dass wir die bestehenden Bewegungen, die neuen Arten, Politik zu machen, die sich in der Welt und insbesondere in Lateinamerika entwickeln übersehen.“ Er gibt dann folgende Beispiele für diese Bewegungen an:

  • Aktivitäten der zapatistischen Befreiungsarmee EZLN in der Provinz Chiapas in Mexiko
  • Bewegung der Landlosen in Brasilien
  • Tätigkeit der brasilianischen Arbeiterpartei im Stadtrat von Porto Alegre
  • die Bewegung „Christen für die Befreiung“ in Amerika
  • Projekt der Unidad Popular von 1970-1973 in Chile

Zusammenfassende Einschätzungen

Das Buch vermittelt einen guten Eindruck vom Denken und Handeln linker Theoretiker und Politiker in Lateinamerika. Es werden die verheerenden Auswirkungen des theoretischen und politischen Versagens der Linken in Russland und später auch in Osteuropa deutlich. Insbesondere wird von Moulian die Rolle Lenins als Begründer der theoretischen Grundlagen und vor allem Initiator der politischen Verhältnisse herausgestellt, die zu einer Deformation der Grundideen von Marx und Engels geführt haben.

Vor diesem Hintergrund ist die konsequente Ablehnung revolutionärer Gewalt und restriktiver staatlicher Maßnahmen gegen die Gegner einer revolutionären Umwälzung verständlich. Das Buch wird von der Grundidee getragen, dass man die neue Gesellschaft nur durch gemeinsamen Willen und gemeinsame Anstrengungen der Menschen schaffen kann und nicht durch staatliche Aktivitäten. Die Rolle die Notwendigkeit eines Staates wird generell infrage gestellt. Die Hauptkritik an der Oktoberrevolution besteht darin, dass die Mehrzahl der Menschen in Russland aufgrund ihrer fehlenden Erfahrungen in einer kapitalistischen Gesellschaft noch nicht „reif“ für den Sozialismus waren, woraus sich dann zahlreiche weitere Probleme ergeben haben, die unter anderem zur stalinistischen Willkür führten.

Hervorzuheben sind folgende Ausführungen und Ansichten des Autors:

  • Er begründet überzeugend, dass der Kapitalismus „kapitalistischer“ ist als früher.
  • Er stellt die soziale Desintegration und ihre verheerenden Auswirkungen für das gesellschaftliche Leben und insbesondere gesellschaftliche Veränderungen heraus.
  • Mit seiner von ihm so bezeichneten historisch-strukturellen Sichtweise beweist er seine Einstellung und Fähigkeit zum Denken in Gegensätzen.
  • Zustimmen kann man auch dem Anliegen des Autors, nicht nur die Erscheinung zu betrachten, sondern die theoretischen Grundlagen der politischen Aktivitäten in den Blick zu nehmen. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang oft auf Schriften von Marx, Engels und anderen Theoretikern.
  • Hervorzuheben sind weiterhin die kritischen Auseinandersetzungen mit Auffassungen linker Theoretiker wie Lenin, Althusser, Gramsci u. a.
  • Es werden zahlreiche interessante linke Bewegung in Lateinamerika vorgestellt.

Es bleiben aber folgende Fragen offen bzw. müssen kritisch gesehen werden:

  • Das Hauptproblem sind die Auffassungen zur Gestaltung der ökonomischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Er ist offensichtlich der Auffassung, dass eine privatwirtschaftliche Produktionsweise effektiver als eine staatliche ist. Dementsprechend spielen bei ihm die Eigentumsverhältnisse eine untergeordnete Rolle. Damit wendet er sich gegen grundlegende marxistische Erkenntnisse.
  • Das Leben in den ehemals sozialistischen Ländern insbesondere auch die tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse werden einseitig dargestellt.
  • Es wird nicht klar, wie die von ihm angestrebte Umorientierung der Wirtschaft auf Gemeinwohlinteressen erreicht werden soll.
  • Es wird auch nicht klar, in welcher Weise die Mehrheit der Bevölkerung sich zu Wirtschaftssubjekten entwickeln soll und eine antikapitalistische Grundhaltung mit konkreten Taten ausbildet. Die soziale Desintegration ist dabei offensichtlich ein großes Hindernis.
  • Mit der Hervorhebung der linken Aktivitäten in Lateinamerika wie den Zapatisten und der Bewegung der landlosen Bauern widerlegt er seine eigenen Auffassungen zu Oktoberrevolution, da auch diese unteren Schicht in Lateinamerika die bürgerliche Gesellschaft in ausgeprägter Weise am eigenen Leib nicht erlebt haben.

Insgesamt ergeben sich folgende Schlussfolgerungen:

  • Die linken Bewegungen und insbesondere auch die gegenwärtig besonders aktiven Bewegungen in Lateinamerika benötigen eine fundierte philosophische Grundlage und realistische Konzepte für eine nachkapitalistische Gesellschaft. Dabei spielen insbesondere die dialektischen Beziehungen in den Produktionsverhältnissen und den Lebensverhältnissen der Menschen eine zentrale Rolle.
  • Ein wichtiges Moment des Konzeptes ist dabei das Verhältnis von zentraler Führung und dezentraler Eigenständigkeit.
  • Erst nachdem diese Grundlagen geschaffen sind, kann die Überzeugung der Massen von diesen Ideen im Zusammenhang mit der Verarbeitung ihrer Erfahrungen im Kapitalismus in Angriff genommen werden.
  • Erst wenn diese subjektive Voraussetzung gegeben ist, müssen geeignete Methoden gefunden werden, die ökonomischen Verhältnisse grundlegend zu ändern, was nicht ohne Zwang gegen die Besitzenden möglich sein wird.

 

 

Literaturverzeichnis

Baek, In Rib (2010): Restrukturierung der Sozialen Sicherungssysteme in den Postfordistischen Gesellschaftsformationen. Eine vergleichende Analyse von Großbritannien, Schweden und Deutschland. 1st ed. 2010. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; Imprint: VS Verlag für Sozialwissenschaften (SpringerLink Bücher).

Godelier, Maurice (1970): System, Struktur und Widerspruch im „Kapital“. Berlin: Merve Verlag.

Guevara, Che (Hg.) (2003): Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. 4. Aufl. Bonn: Pahl-Rugenstein.

Hertzfeldt, Hella (2004): TATort und TATsache. Ferienakademie der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Rosa-Luxemburg-Stiftung, September 2003. [Electonic ed.]. Berlin: Karl Dietz (Manuskripte / Rosa-Luxemburg-Stiftung, 50).

Knappe, Ulrich (2019): Über paradoxen Sozialismus. 1st, New ed. Frankfurt a.M: Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften. Online verfügbar unter https://www.peterlang.com/search?searchstring=9783631764299.

Luxemburg, Rosa; Levi, Paul (2022): Die Russische Revolution. Neuausgabe einer viel zitierten, aber selten gelesenen Schrift. Hg. v. Jörn Schütrumpf. Hamburg: VSA Verlag.

Marcuse, Herbert (1989): Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Schriften, / Herbert Marcuse ; Bd. 6).

Meyer, Thomas (2008): Sozialismus. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (SpringerLink Bücher).

Moulian, Tomás (2003): Ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert. Der fünfte Weg. 1. Aufl. Zürich: Rotpunktverl.

Rösler, Walter (2014): „Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt“. Marx und Engels über die weltgeschichtliche Rolle des Proletariats. Ein Rezeptionsversuch. Berlin (MANUSKRIPTE – Neue Folge).

 

[1] Zwischen 1971 und 1979 war Altamirano Generalsekretär der sozialistischen Partei Chiles. Er war der Protagonist der ideologischen Modernisierung seiner Partei. In der Unidad Popular und in der Allende–Regierung vertrat Altamirano den linken Flügel der Sozialisten, der für einen radikalen Umbau der Gesellschaft eintrat. Nach dem Militärputsch von Pinochet am 11. September 1973 ging er ins Exil in die DDR. Nachdem er von den politischen Verhältnissen in der DDR desillusioniert war, zog er 1980 nach Paris, wo er eine enge Beziehung zu Francois Mitterrand pflegte.

[2] Maurice Godelier (* 28. Februar 1934) gilt als Vertreter des Neostrukturalismus. Seine Weiterführung des Strukturalismus schlägt eine Brücke zum Neomarxismus, weshalb er als Begründer der neomarxistischen Wirtschaftsethnologie gilt. Er ist ein Schüler des marxistischen Philosophen Louis Althusser.