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Alle Texte mit linkem Einzug außer den Aufzählungen sind Zitate. Alle Seitenangaben bei den Zitaten ohne weiteren Quellennachweis beziehen sich auf (Jaeschke 2004).

Es werden folgende Siglen für die Werke Hegels verwendet, die sich alle auf einen Band der Theorie Werkausgabe (Hegel 1970) beziehen, wobei teilweise als Zusatz noch die Bandnummer erfolgt. 

  • Diff:       Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie
  • PhG:      Phänomenologie des Geistes
  • WL:        Wissenschaft der Logik
  • GPhR:   Grundlinien der Philosophie des Rechts
  • Enz:       Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften
  • VPhG:   Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte
  • VRel:     Vorlesungen über die Philosophie der Religion
  • VGPh:   Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie

Generelles zur Publikation

Es handelt sich um einen von 14 Beiträgen in dem Sammelband (Halbig et al. 2004), der Originalbeiträge eines Kolloquiums zum Thema „Hegels Erbe und die Theoretische Philosophie der Gegenwart“ im Februar 2003 in Münster enthält. Die Autoren sind mehr oder weniger explizite Vertreter der analytischen Philosophie, die sich offensichtlich wie der Titel des Kolloquiums zum Ausdruck bringt, als die theoretische Philosophie der Gegenwart versteht. Die Autoren aus dem englischen Sprachraum sind Thomas Baldwin, Robert B. Brandom, John McDowell, Dean Moyar, Terry Pinkard und Robert B. Pippin und aus dem deutschen Sprachraum Christoph Halbig, Michael Quante, Ludwig Siep, Hans Friedrich Fulda, Pirmin Stekeler-Weithofer und Manfred Wetzel.

Im Unterschied zu allen anderen Autoren zitiert Walter Jaeschke in seinem Beitrag bis auf Christoph Halbig keinen der genannten Autoren, sodass sein Verhältnis zur analytischen Philosophie unklar bleibt.

Der Beitrag wurde nach Google-Scholar bisher 15-mal zitiert.

Die Grundaussage des Beitrages entspricht dem Inhalt des Vortrages von Andreas Arndt (Arndt 2023), der den Beitrag von Jaeschke nicht erwähnt.

Ausgewählte Inhalte mit Kommentaren

Doch was ist „Idealismus“? Es gibt wohl wenige Bezeichnungen, die vielfältiger, ja schwammiger verwendet werden als diese, zumal sie sich durch Beifügung von Adjektiven in mehr als nur ovidische Metamorphosen verwandeln lässt – nicht allein in subjektiven, objektiven und absoluten Idealismus, sondern auch in theoretischen und praktischen, qualitativen und quantitativen Idealismus oder in „Idealismus der Lebendigkeit“ und schließlich sogar noch in den „Deutschen Idealismus“ -, also von einem erkenntnistheoretischen Begriff in einen philosophiehistorischen Epochenbegriff (S. 164).

Philosophen … vergessen allzu leicht, dass philosophiegeschichtliche Begriffe nicht Bezeichnungen eines unmittelbar Vorhandenen, bloß Faktischen sind. … Selbst wenn diese Bezeichnungen vom Namen eines Philosophen abgeleitet werden, … sind sie so stets Interpretationen, und zwar zum geringeren Teil Selbstdeutungen der beteiligten Akteure, sondern überwiegend Konstrukte der Philosophiehistorie … Es ist die Leistung, aber auch die Armut der Sprache, dass sie die gedankliche Differenziertheit philosophischer Konzeptionen unter einigen wenigen plakativen, griffigen Formeln verschwinden lässt – damit entscheidend zu deren Konfusionen beiträgt, an deren Beseitigung die Philosophiehistorie sich abarbeiten muss. (S. 165)

Jaeschke hat sich in (Jaeschke 2000) ausführlich mit dem deutschen Idealismus beschäftigt und zitiert nur einen Satz aus diesem Beitrag: „Der deutsche Idealismus mag deutsch sein – aber er ist kein Idealismus“ (Jaeschke 2000, S. 232).

Die Sonderstellung der klassischen deutschen Philosophie in der Geschichte von „Idealismus und Realismus“ möchte ich vorweg durch drei Charakteristika andeuten.

  1. Diese Debatte ist hier erstmals unter dem Titel „Idealismus und Realismus“ geführt worden – und dies ist nicht etwas Nebensächliches, sondern die terminologische Prägnanz hat zur umfassenden Ausarbeitung und zur schärferen Formulierung der Problemlage geführt. Es empfiehlt sich daher sowohl im Sinne der terminologischen Präzision als auch der historischen Erschließungskraft, den Begriff des „Idealismus“ aus seiner Entgegensetzung gegen den des „Realismus“ zu verstehen.
  2. Diese Debatte befreit die erkenntniskritische Fragestellung wohl endgültig von ihrer früheren Rückbindung an die philosophische Theologie. …
  3. Diese Debatte wird hier zwar auch, aber nicht nur in der Weise geführt, dass die Ansichten von „Idealisten“ und „Realisten“ äußerlich aufeinander prallen. Vielmehr werden Idealismus und Realismus hier ins Verhältnis zueinander gesetzt, in ihrem Recht gegeneinander abgewogen und miteinander verbunden – aber schließlich dadurch in ihrem eigenen Recht aufgehoben und zu Momenten eines jeweils übergreifenden Systementwurfs herabgesetzt.

Jaeschke diskutiert dann Auffassungen zu diesem Verhältnis bei Jacobi, Kant, Fichte und Schelling, um dann abschließend auf Hegel einzugehen.

Gedanken:

  • Jaeschke verwendet nicht den Begriff „Materialismus“ als Gegenbegriff zum Idealismus. Für ihn liegen offensichtlich diese beiden Begriffe nicht auf einer Ebene.
  • Für Jaeschke stellen die Auffassungen von Hegel die Weiterentwicklung und den Abschluss der Betrachtung zum Verhältnis von Idealismus und Realismus dar. Hegel geht mit seinen Auffassungen über seine Vorgänger qualitativ hinaus.
  • Bereits der grundlegende Ansatz, den Idealismus im Verhältnis zu seinem Gegensatz, den Realismus zu charakterisieren, entspricht einem Grundprinzip von Hegel.

Hegel hat sich zu dem Verhältnis bereits im sogenannten Systementwurf I geäußert.

Für den Standpunkt des „gemeinen Bewusstseins“ sei das „Bewusstsein immer nur eine Seite des Gegensatzes“ – obgleich es doch in Wahrheit das Wesen, die „absolute Substanz“ sei. Und das sei „ganz auf dem Standpunkte des Gegensatzes wo sich der sog. Realismus und der sog. Idealismus bilden, und sich darüber entzweien“, ob eine Bestimmtheit dem Objekt angehöre – wie der Realismus annimmt – oder nur dem Subjekt – was der Idealismus behauptet, „der die ideelle Seite des Gegensatzes als das absolut reale, für sich seiende als absolute Substanz betrachtet, und dem Objekt gar nichts“ übrig lässt. Idealismus und Realismus formulieren ihre Streitfrage auf die „roheste Weise“ – und schon in dieser Weise verrate sich die Unwahrheit, in der sie als getrennte Positionen verharren (S. 178).

Die beiden getrennten Seiten – des Subjekts und des Objekts – lassen sich gar nicht voneinander trennen, und deshalb sind „Idealismus“ und „Realismus“ einseitig Abstraktionen.
Damit kommt eine neue Variante in die Diskussion zwischen Idealismus und Realismus. Hegel sucht die von ihm avisierte Einheit beider auf anderem Wege herzustellen als etwa noch Fichte: nicht durch ihre Vermittlung im Durchlaufen eines Systems der Philosophie und auch nicht durch eine komplexe Verschränkung idealistischer und realistischer Denkmotive und -figuren, sondern durch eine angemessene Thematisierung des Bewusstseins (S. 179).

Jaeschke führt dann die Formulierungen von Hegel aus der Einleitung der Phänomenologie an, in denen sich Hegel mit dem Problem des Maßstabes für die Prüfung des „erscheinenden Wissens“ beschäftigt (PhG, S. 75 ff.).

Das Bewusstsein unterscheidet von seinem Wissen den Gegenstand dieses Wissens als die Wahrheit und als den Maßstab seines Wissens. Aber dieser Gegenstand fällt ebenso wieder in das Bewusstsein, und die Vergleichung des Wissens und des Gegenstandes ist eine Vergleichung innerhalb des Bewusstseins. Es ist eine bloße Illusion, das Bewusstsein in Richtung auf eine außer ihm liegende Wahrheit überschreiten zu wollen. Die im Wahrheitsbegriff gedachte Korrespondenz von Begriff und Realität hat ihren Ort nicht zwischen dem Bewusstsein und einem äußeren Gegenstand, sondern innerhalb des Bewusstseins selbst. … Der Idealismus lässt sich nicht dadurch widerlegen, dass man über das Bewusstsein hinauszukommen sucht zu vermeintlich jenseits des Bewusstseins liegenden und somit erst wirklichen Gegenständen. Die Welt ist uns nur im Bewusstsein gegeben – und darüber hinaus ist sie für uns Nichts.
(3) Und doch ist dies nur die eine Hälfte der Wahrheit – auch für Hegel. Denn das, was uns im Bewusstsein gegeben ist, ist nicht das Bewusstsein, sondern die Welt. … Um es noch einmal mit den Worten des Hegelschen Systementwurfs I zu sagen: Das Bewusstsein ist nicht nur eine Seite des Gegensatzes, eine zufällige Eigenschaft des Individuums, die Seite der Idealität gegen die Seite der Realität, sondern der Punkt der Vereinigung von Idealität und Realität, von Wissen und Wahrheit. … Die Welt ist uns im Bewusstsein gegeben – aber sie ist uns im Bewusstsein als eine bewusstseinstranszendente Welt gegeben. Und dieser epistemologische Realismus setzt notwendig einen ontologischen Realismus voraus: die Annahme einer vom Bewusstsein unabhängigen Existenz der Welt. Wir können über die Welt ja keine wahren Aussagen machen, wenn sie nicht unabhängig von uns vorhanden wäre (S. 179-181).

Das ontologische Korrelat des epistemologischen Zusammenfallens von Idealismus und Realismus liegt in Hegels „Identitätsphilosophie“, in seiner Lehre von der Identität von Begriff und Gegenstand. … Eine derartige Systemkonzeption ist weder Idealismus noch Realismus; sie erfordert die Vereinigung von „absolutem Idealismus und absolutem Realismus“ – allerdings eine solche Vereinigung, in der die Vereinigten nicht mehr als solche bestehen und sich gegenseitig voraussetzen und überbieten, wie in Fichte später Wissenschaftslehre, sondern in der sie als Momente aufgehoben sind.

Diese – weder idealistische noch realistische – Konzeption bildet das Erbe Hegels … Man sieht leicht, wie es aus dem Erbe hervorgegangen ist, dass er in den informativen Jahren seiner Systemkonzeption aus der unmittelbar vorausliegenden Debatte ererbt hat (S. 182).

Gedanken

  • Obwohl der Autor zu Beginn auf die unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes Idealismus hinweist, beschränkt er sich im Folgenden auf die von Hegel verwendete Bedeutung. Hegel bezieht die Bedeutungen von „Idealismus“ und „Realismus“ auf die Begriffe „Subjekt“ und „Objekt“. Es ist fraglich, ob damit die gesamte Idealismus-Debatte erfasst wird. Jaeschke unterscheidet z. B. zwischen einem epistemologischen und einem ontologischen Realismus. Daraus ergibt sich zum Beispiel die Frage, welche Art von Realismus bei dem Verhältnis von Idealismus und Realismus gemeint ist. Offensichtlich hat Hegel eher den, von Jaeschke so bezeichneten epistemologischen Realismus im Sinn. Wenn der ontologische Realismus gemeint ist, würde es ja gerade um Gegenstände bzw. Objekte gehen, die außerhalb des Bewusstseins existieren. Dies führt dann auf die Probleme, die mit dem Verhältnis Idealismus und Materialismus gemeint sind.
  • Es wird auch nicht klar, was mit dem absoluten Idealismus und absoluten Realismus gemeint ist.
  • Für Hegel handelt es sich offensichtlich um eine recht triviale Frage, die keiner weiteren größeren Erläuterung bedarf und die er schon im Systementwurf I aus seiner Sicht geklärt hat. Das erkennende Subjekt und das Erkenntnisobjekt bedingen einander und sind als Gegensätze im Bewusstsein untrennbar miteinander verbunden. Der Streit dreht sich aus seiner Sicht lediglich um die Frage, was bedeutsamer, bestimmender sei, die eigentlich gegenstandslos ist.
  • Wie Hegel in der angegebenen Passage in der Einleitung der Phänomenologie ausführt, vollziehen sich Erkenntnisprozesse nicht zwischen dem Bewusstsein und einem außen liegenden Gegenstand, sondern innerhalb des Bewusstseins zwischen einem Teil des Bewusstseins und der im Bewusstsein enthaltenen Reflexion des äußeren Gegenstandes.
  • Ein grundlegendes Verständnisproblem, auf das weder Hegel noch Jaeschke eingehen, liegt in den unterschiedlichen Bedeutungen der Wörter „Wissen“, „Objekt“ und „Gegenstand“. Sie werden einmal im mentalen und zum anderen im nichtmentalen Sinne verwendet. Mit der Formulierung „wirklicher Gegenstand“ wird teilweise darauf Bezug genommen.
    Beim Wort Gegenstand kommt noch als weitere Bedeutung hinzu, dass damit ein Objekt oder Ziel des Denkens gemeint ist („Gegenstand der Betrachtungen“).
    Als Beispiel seien die folgenden Sätze aus Jaeschke (2004) genannt: „Das Bewusstsein unterscheidet von seinem Wissen den Gegenstand dieses Wissens als die Wahrheit und als den Maßstab seines Wissens. Aber dieser Gegenstand fällt ebenso wieder in das Bewusstsein, und die Vergleichung des Wissens und des Gegenstandes ist eine Vergleichung innerhalb des Bewusstseins“ (Jaeschke 2004, S. 179). Mit dem „Wissen des Bewusstseins“ ist Wissen im mentalen Sinne gemeint, also die vorhandenen Kenntnisse eines Menschen. Das Wort „Gegenstand“ im ersten Satz bezeichnet offensichtlich das nichtmentale Objekt der Erkenntnis. Im zweiten Satz hat das Wort Gegenstand zwei Bedeutungen, zunächst als nichtmentales Objekt und dann als Reflexion dieses nichtmentalen Objektes im Denken, also als mentales Objekt. Die „Vergleichung innerhalb des Bewusstseins“ erfolgt zwischen zwei Gruppen mentaler Objekte, den bisherigen Kenntnissen des Menschen und seinen Wahrnehmungen, Einsichten und anderen psychischen Dispositionen in Bezug auf den nichtmentalen Gegenstand der Erkenntnis.
  • Unter diesem Aspekt ist auch die Formulierung Jaeschkes, dass die Welt außerhalb des Bewusstseins für uns ein Nichts ist, zu problematisieren. Er weist im Weiteren ja selbst darauf hin, dass auch im Sinne von Hegel eine vom Bewusstsein unabhängige Existenz der Welt vorausgesetzt werden muss. Die nichtmentalen Objekte der Erkenntnis sind Bestandteil dieser Welt. Sie existieren auch unabhängig davon, ob sie im Bewusstsein reflektiert sind. So bestimmen etwa gesellschaftliche Zusammenhänge das persönliche Leben eines Menschen, ohne dass er diese Zusammenhänge reflektiert hat.
  • Insgesamt bleibt also erweist sich die Klärung der Frage nach dem Verhältnis von Idealismus und Realismus in dem Beitrag von Jaeschke als unbefriedigend.

Literaturverzeichnis

Arndt, Andreas (2023): Ein Gegensatz ohne Bedeutung: Idealismus und Materialismus bei Hegel und Marx. In: Gesellschaft für dialektische Philosophie (Hg.): Aufhebung. Jahrbuch der Gesellschaft für dialektische Philosophie #17/2022. Erstauflage. Bielefeld: Aisthesis (Aufhebung, #17 / 2022), S. 13–25.

Halbig, Christoph; Quante, Michael; Siep, Ludwig (Hg.) (2004): Hegels Erbe. Originalbeiträge, die zum größten Teil auf einem Kolloquium zum Thema „Hegels Erbe und die Theoretische Philosophie der Gegenwart“ im Februar 2003 in Münster vorgetragen wurden. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Schriften von Hans Friedrich Fulda, 86). Online verfügbar unter http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:16-heidok-171159.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Werke in zwanzig Bänden. 1. bis 10. Tausend. 20 Bd. mit Registerband. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Theorie Werkausgabe).

Jaeschke, Walter (2000): Zur Genealogie des Deutschen Idealismus. Konstitutionsgeschichtliche Bemerkungen in methodologischer Absicht. In: Andreas Arndt (Hg.): Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848. Hamburg: Meiner, S. 219–234.

Jaeschke, Walter (2004): Zum Begriff des Idealismus. In: Christoph Halbig, Michael Quante und Ludwig Siep (Hg.): Hegels Erbe. Originalbeiträge, die zum größten Teil auf einem Kolloquium zum Thema „Hegels Erbe und die Theoretische Philosophie der Gegenwart“ im Februar 2003 in Münster vorgetragen wurden. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Schriften von Hans Friedrich Fulda, 86), S. 164–183.