Hans-Dieter Sill, 02.02.2023
Zitate und Gedanken aus Horstmann (2008 [1. Aufl 2003]): Hegel über Unendlichkeit, Substanz, Subjekt. Eine Fallstudie zur Rolle der Logik in Hegels System
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Alle Texte mit linkem Einzug außer den Aufzählungen sind Zitate. Alle Seitenangaben bei den Zitaten ohne weiteren Quellennachweis beziehen sich auf Horstmann (2008).
Phänomenologie steht für „Phänomenologie des Geistes“, Hegel (1970). Bei Zitaten aus der Phänomenologie wird das Kürzel PhG verwendet. Die rekursiven Kapitelüberschriften stehen für die entsprechenden Kapitel in der Phänomenologie.
Zitate und Gedanken
Von unseren amerikanischen und einigen von diesen stark beeindruckten kontinentalen Freunden stammt der als neopragmatische Aneignung Hegels bekannt gewordene Vorschlag, das Hauptverdienst der Hegelschen Philosophie in einer vor allem aus der Betrachtung der Phänomenologie des Geistes zu gewinnenden These zu sehen. Diese These besagt, daß unser Wissen um uns selbst und die Welt gesellschaftlich vermittelt ist oder daß unser Wissen von uns selbst und der Wirklichkeit von sozialen Parametern abhängig und durch sie konstituiert ist.
Vielmehr wird bei Hegel eine etwas extravagantere oder vielleicht auch ‚tiefere‘ Ansicht gesucht und gefunden, die dahin geht, daß bereits die Begriffe sozial konstituiert sind, mit denen wir über uns selbst und den Rest der Realität reden, die wir für die fundamentalen Kategorien der Beschreibung von Wirklichkeit ansehen und auf die wir unsere Auffassung von der Verfassung der Wirklichkeit aufbauen. Sozial konstituiert sollen diese Begriffe in dem Sinne sein, daß sie als Produkte gesellschaftlicher Praktiken anzusehen sind, genauer der Praktiken, in denen sich die für eine bestimmte historische Epoche oder einen spezifischen Kulturraum charakteristischen Muster des Gründe Gebens und des als Grund Akzeptierens reflektieren bzw. zum Ausdruck kommen (S. 183-184).
Hegels philosophisches Verdienst in die systematische Umsetzung und Ausarbeitung dieser These von der ‚Gesellschaftlichkeit der Vernunft‘ – so der Untertitel eines zu Recht einflußreichen Hegel-Buches (Pinkard 1994) – und ihrer Begriffe zu setzen, hat den anscheinend von vielen als entlastend empfundenen Vorteil, einer sog. ‚nicht-metaphysischen‘ Lesart des Hegelschen Unternehmens den Weg zu eröffnen. So kann man z. B. Hegels hochgradig metaphysik-verdächtiges Konzept des absoluten Wissens am Ende der Phänomenologie des Geistes unter der nicht-metaphysischen Perspektive als die Realisierung oder das ‚Explizitmachen‘ (Brandom) der Einsicht deuten, daß uns die Gesamtheit der Wirklichkeit als Reflex der Weise gegenwärtig ist, wie wir uns selbst verstehen dürfen und d. h. wie wir uns selbst (gegeben gewisse Begründungspraktiken) konzeptualisieren können (S. 184).
So attraktiv und auch erhellend ein solcher Ansatz für ein Verständnis der Hegelschen Phänomenologie und wohl auch der Philosophie des Rechts sein mag, so hat er doch einen doppelten Preis zu entrichten. Zum einen hat er gewisse Schwierigkeiten, die Hegelsche Konzeption einer von ihm ‚Logik‘ genannten Wissenschaft zu akkomodieren. Ein Bewußtsein dieser Schwierigkeit zeigt sich bei den Vertretern dieses Ansatzes in ihrer Bereitschaft, die Wissenschaft der Logik entweder geradehinaus für obsolet zu erklären oder sie doch wenigstens so weit wie möglich zu übergehen (Pinkard 1994). Zum anderen ist nicht deutlich zu sehen, wie im Rahmen dieses Ansatzes ein von Hegel bekanntlich perhorreszierter epistemischer Relativismus vermieden werden kann, dem zu Folge nicht nur Wissensansprüche immer nur kontextualistisch gerechtfertigt werden können, sondern der darüber hinaus vertreten muß, daß auch die Sachverhalte, auf die sich Wissensansprüche beziehen, das Hegelsche ‚Andere‘, vollständig aufgelöst werden können in epochen- und kulturabhängige begriffliche Konstellationen (S. 185).
Ich werde zu zeigen versuchen, daß diese Vereinbarkeit nur zum Teil gewährleistet ist, genauer: daß Hegel tatsächlich alles das, worauf wir als Sachverhalt Bezug nehmen können, in begriffliche Konstellationen auflöst, daß er aber diese begrifflichen Konstellationen keineswegs als epochen- und kulturabhängig begreift, sondern als gedeckt durch den Begriff der ‚Sache selbst‘ ansieht. Ich werde mich bei diesem Versuch auf die Trias ‚Unendlichkeit‘, ‚Substanz‘, ‚Subjekt‘ konzentrieren, weil diese Begriffe in Hegels Konzeption dessen, was man als ‚Sache‘ oder als ‚Sachverhalt‘ bezeichnen kann, unbestreitbar eine zentrale Rolle spielen. Sie sind insofern besonders geeignet, den hier zur Diskussion anstehenden Punkt zu beleuchten (S. 185).
Gedanken:
- Es ist eine verständliche Darstellung des Grundanliegens des Pragmatismus bzw. Neopragmatismus in Gegenüberstellung mit dem Grundansatz von Hegel.
- Aus Sicht des Pragmatismus sind philosophische Theorien sozial konstituiert und haben das praktische Handeln von Menschen als Ausgangs- und Zielpunkt. Die Theorien sind danach historisch und sozial verankert. Dies betrifft auch den Charakter der theoretischen Grundbegriffe. Mit Änderung der gesellschaftlichen Bedingungen ändern sich nach ihrer Auffassung auch die Theorien. Hegel sowie Vertreter eines metaphysischen Herangehens wollen ein zeitloses und kulturunabhängiges System von Begriffen schaffen. Musterbeispiel ist für sie die Mathematik. Hegel selbst ist kein Metaphysiker, da er die Kategorien in ihrer wechselseitigen Bedingtheit betrachtet.
- Möglicherweise müssen beide Zugänge, auch im Sinne des spekulativen Denkens von Hegel, in ihrer wechselseitigen Beziehung gesehen werden. Ontologische Grundbegriffe wie Existierendes und Nichtexistierendes oder Mentales und Nichtmentales können sicher als zeitlos angesehen werden. Andere philosophische Grundbegriffe wie Freiheit, Recht oder Religion haben sicher auch einen historischen und sozialen Charakter.
- Wenn beide Zugänge als gegensätzlich und unabhängig voneinander angesehen werden, macht es keinen Sinn, Hegel als Pragmatiker inszenieren zu wollen. Horstmann beweist in seinem Beitrag damit die Unmöglichkeit eines solchen Ansinnens.
- Die Argumentationen können bei der Interpretation der Hegel-Kommentare von Brandom, Bowman, Kettner u. a. verwendet werden.
Hegel hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass für sein philosophisches System die Begriffe ‚Unendlichkeit‘, ‚Substanz‘ und ‚Subjekt‘ sowie deren Derivate – Begriffe wie ‚das Unendliche‘, ‚Substantialität‘ oder ‚Subjektivität‘, ‚Selbstbewusstsein‘, ‚Selbst‘ – Schlüsselbegriffe sind. So wird in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830) im Zusammenhang der Erklärung, warum jede wahrhafte Philosophie Idealismus sei und was dies bedeute, „das wahrhafte Unendliche“ zum „Grundbegriff der Philosophie“ (§ 95 Anm.) erklärt (S. 185-186)
Denn eigentlich hat sich im Umgang mit Hegels Philosophie nichts besser bestätigt als die Einsicht in die direkte Proportionalität von zentraler Bedeutung und tiefer Dunkelheit. Es wäre allerdings voreilig und unfair, dieses Faktum sofort mit irgendwelchen Defiziten erklären zu wollen, die man Hegels philosophischem Programm oder seinen eigenen Möglichkeiten zuschreiben kann, es angemessen auszuführen. Mag auch dieses Programm und dessen systematische Realisierung viele problematische Aspekte haben, so gilt zugleich, dass es einen sozusagen objektiven Grund für die Widerständigkeit gibt, die Hegels Philosophie auszeichnet, wenn es um ihre explikative Aneignung geht. Dieser Grund liegt in ihrer übergroßen Komplexität, der zwar offenbar von Hegel selbst mit ziemlichem Erfolg, von seinen Interpreten aber nur schwer und immer mit gewissen Abstrichen Rechnung getragen werden kann.
Angesichts dieser Lage ist man bei der Bemühung um Hegelsche Themen nicht schlecht beraten, wenn man sich zunächst einmal darüber zu verständigen versucht, was denn den von Hegel für zentral gehaltenen Aspekt eines Themas darstellt, ehe man sich diesem Thema in allen seinen Hegelschen Aspekten zuwendet. (S. 186).
Gedanken:
- Diese Empfehlung kann man auch bei der Interpretation der sinnlichen Gewissheit Der Begriff sinnliche Gewissheit ist für Hegel im Rahmen seiner erkenntnistheoretischen Betrachtungen offensichtlich auch ein Grundbegriff, zumindest ein Ausgangspunkt seiner Überlegungen, und dieser Begriff ist, das beweisen die zahlreichen unterschiedlichen Interpretationen, ebenfalls in „tiefer Dunkelheit“.
Sie [die drei Begriffe] spielen zunächst eine Schlüsselrolle in Hegels logischer, d. h. der Sache nach metaphysischer Theorie des Begriffs, wie sie im Rahmen der Wissenschaft der Logik entwickelt worden ist. Sodann haben sie ihre jeweils spezifischen Aufgaben in den beiden realphilosophischen Teilen des Gesamtsystems, wie es die Enzyklopädie vorstellt, nämlich in der Natur- (besonders der Theorie des Organischen) und der Geistesphilosophie. Und schließlich wird ihnen auch im Rahmen der Phänomenologie des Geistes eine den dort dargestellten Bewußtseinsprozeß organisierende Leistung zugemutet. … Obwohl Hegel diese (und andere) Bezüge zwischen den verschiedenen Ebenen seines Systems durchaus häufig zum Thema macht und darauf hinweist, daß ohne ihre angemessene Berücksichtigung dem systematischen Ertrag seines Unternehmens kaum gebührend Rechnung getragen werden kann, ist gleichwohl kaum von der Hand zu weisen, daß für die Exposition der Leitbegriffe seines Systems die logisch-metaphysische Ebene die entscheidende ist. Auf sie soll sich daher beschränkt werden (S. 186-187).
Gedanken:
- Die Wissenschaft der Logik ist nach der Phänomenologie Man kann also annehmen, dass in der Phänomenologie die Begrifflichkeiten noch nicht so klar ausgeprägt sind, wie sie dann in der Wissenschaft der Logik ausgeführt werden.
Es geht Hegel nicht primär darum, sich in der Tradition irgendwelcher bereits vorliegender philosophischer Theorien und deren konzeptueller und logischer Vorgaben zu bewegen, um diese zu verbessern bzw. zu vertiefen, seine Intentionen sind eindeutig darauf gerichtet, in einer sehr radikalen Abkehr von der gesamten philosophischen Tradition wenigstens der Neuzeit ein neues Paradigma für die philosophische Erfassung der Wirklichkeit zu etablieren. Dieser Versuch der Etablierung eines neuen Paradigmas steht und fällt für Hegel mit der Vermittlung der Einsicht, daß es einer ganz anderen Weise der Konzeptualisierung der Wirklichkeit bedarf, einer Weise, die nicht in der kontingenten epistemischen Ausstattung erkennender Subjekte begründet ist, sondern in der Verfassung der Wirklichkeit selbst. Zu den Gründen für diese Einsicht gehören eine ganze Reihe weitreichender Annahmen, die Hegel durch die Ausführung seines philosophischen Systems gerechtfertigt wissen will. Diese Annahmen sind teils ontologischer, teils epistemologischer und teils methodologischer Art. Die wichtigsten von ihnen sind (1) die Überzeugung, daß wir die Gesamtheit der Wirklichkeit als eine vernünftige Einheit aufzufassen haben, (2) die These, daß diese vernünftige Einheit das Produkt der Realisation seines Begriffs darstellt, also wesentlich als Prozeß verstanden werden muß, und (3) die Behauptung, daß dieser Prozeß durch die Vorgaben determiniert ist, die in dem (Hegelschen) Begriff der vernünftigen Einheit enthalten sind. Die erste Überzeugung legt Hegels Projekt auf einen Monismus fest, die zweite verpflichtet es auf einen reflexiven Erkenntnisbegriff und die dritte schließlich bestimmt es als Ausgestaltung eines organologischen Modells (S. 187).
Der Sache nach kommt Hegels Theorie des Begriffs die Bedeutung zu, die interne Verfassung dessen zu analysieren, was allein wirklich ist, und d. h. der Vernunft, verstanden als die organisierte Gesamtheit der Wirklichkeit. Diese interne Verfassung oder Strukturiertheit dieser Vernunft muß unterschieden werden von ihrer externen Realisation als natürlicher und geistiger Welt. Dies deshalb, weil die externe Realisation durch die interne Organisation der Vernunft determiniert sein soll. Man kann sich die hier zugrunde liegende Leitidee dadurch veranschaulichen, daß man an eine eher volkstümliche Beschreibung des Entwicklungsprozesses eines Organismus denkt. Ein voll entwickelter lebendiger Organismus kann verstanden werden als das Produkt der gelungenen Realisierung aller seiner individuellen Merkmale und Anlagen. Die Gesamtheit dieser Merkmale und Anlagen kann man als den Begriff dieses Organismus bezeichnen, womit zunächst nichts weiter als die Menge alles dessen gemeint ist, was sich im Laufe der Entwicklung dieses Organismus als das erweist, was ihn zu diesem individuellen Organismus macht. Insofern kann der Lebensprozeß jedes Organismus als die Realisierung seines Begriffs beschrieben werden und der Begriff eines Organismus als die seine Entwicklung in der Gestalt des Lebensprozesses bestimmende Struktur.
Für Hegel ist jedoch nicht nur die externe Realisation des Begriffs der Vernunft in der Gestalt der natürlichen und geistigen Welt ein Entwicklungsprozeß, sondern ihm zufolge muß auch die interne Organisation des Begriffs der Vernunft als ein solcher Prozeß gedeutet werden. Dieser letztere Prozeß generiert in methodisch geordneter Weise die Bestimmungen bzw. die konzeptuellen oder formalen Elemente, deren Gesamtheit den Begriff der Vernunft ausmachen (S. 188-189).
Doch es sind nicht nur die Annahmen eines externen und eines internen Prozesses der Realisation der Vernunft, die Hegels monistisch-organologisches Modell der Wirklichkeit auszeichnen. Etwas weiteres kommt hinzu: beide Prozesse sollen gerichtet sein in dem Sinne, daß sie von einfachen zu immer komplexeren Bestimmungen des Sachverhalts führen, den sie generieren, nämlich der Vernunft und d. h. der Realität, wobei außerdem gelten soll, daß die komplexeren Bestimmungen nicht vollständig auf die sie konstituierenden einfacheren reduziert werden können und daß es so etwas wie eine maximal komplexe Bestimmung gibt, die als Abschlußbestimmung dienen kann. Hegel nennt diese Bestimmung – vor allem später in der Enzyklopädie – wesentliche bzw. übergreifende Subjektivität (vgl. Enz., §§ 214 Anm. u. 215 Anm.) und zeichnet sie durch einen ihr eigentümlichen Selbstbezug aus. Für seinen Begriff der Vernunft, also für den Gegenstand seiner logischen Theorie, bedeutet all dies, daß er vollständig bestimmt und maximal komplex sein muß – vollständig bestimmt in dem Sinne, daß in diesem Begriff alle die Bestimmungen angelegt sein müssen, die für eine ihn erschöpfende Beschreibung (oder, wie Hegel es zu nennen vorzieht: für seine Entwicklung) wesentlich sind, maximal komplex in dem Sinne, daß durch diesen Begriff Bestimmungen bereitgestellt werden, die es erlauben, so etwas wie Subjektivität und den ihr eigenen Selbstbezug nicht-reduktiv zu erfassen (S. 189).
Gedanken:
- Nach den Worten von Horstmann stellt die Hegelsche Theorie einen prinzipiell neuen Zugang, ein neues Paradigma zur philosophischen Erfassung der Wirklichkeit dar. Es geht Hegel nicht um die Möglichkeiten der erkenntnistheoretischen Ausstattung der erkennenden Subjekte, sondern um ein neues Konzept der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit soll als eine Gesamtheit vernünftiger Einheiten aufgefasst werden. Dabei wäre dann zu klären, was Hegel unter „vernünftig“ und unter „Einheit“ versteht. Beim Begriff „Einheit“ könnte es um eine Struktur gehen, die durch die wechselseitige Bedingtheit einander ausschließender Momente eines Ganzen gekennzeichnet ist. Das ist tatsächlich ein grundlegendes Konzept zur Strukturierung der Wirklichkeit. Unter „vernünftig“ könnte man zu einen verstehen, dass die Welt im Grunde von Menschen eingerichtet ist, was angesichts der oft katastrophalen Situation und auch mit Blick auf die Natur wenig sinnvoll wäre. Es könnte auch ein höheres, übersinnliches Wesen gemeint sein. In diesem Fall können nur die Anlagen des Lebens, der belebten und unbelebten Natur sowie der sozialen Beziehungen der Menschen gemeint sein. Eine solche These ist weder zu falsifizieren, noch zu verifizieren. Letztlich kann unter „vernünftig“ auch verstanden werden, dass die Entwicklung von Natur und Gesellschaft nach grundlegenden, inhärenten und von Menschen unabhängigen Gesetzen verläuft. Für diese Interpretation sprechen alle bisherigen Erkenntnisse von Natur- und Gesellschaftswissenschaften. Die Formulierung von Horstmann, die Vernunft wäre nach Hegel die organisierte Gesamtheit der Wirklichkeit, ist bei keiner der drei Interpretationen zielführend.
- In der zweiten von Horstmann genannten These kommt der Terminus „Begriff“ in einer der Hegelschen Bedeutungen vor. Es ist die „interne Verfasstheit“ eines Objektes gemeint, was Horstmann in anschaulicher Weise am Beispiel der Entwicklung eines Organismus verdeutlicht. Eine Grundlage dieser ontogenetischen Entwicklung sind die genetischen Anlagen des Organismus. In Bezug auf die Gesellschaft wären dies die grundlegenden Strukturen und Verhältnisse, die historisch gesetzt sind.
- In der zweiten und dritten These von Horstmann wird die prozesshafte Herangehensweise von Hegel herausgestellt. Das unterscheidet ihn von vielen anderen Philosophen.
- Wenn man den Gedanken der externen Realisation auf die gesellschaftlichen Verhältnisse überträgt, so kann man sagen, dass die realen gesellschaftlichen Zustände und Beziehungen die externen Realisationen intern angelegter Strukturen sind. Aus marxistischer Sicht gehören dazu die Eigentumsstrukturen der Gesellschaft und sicher auch der kulturelle Reifegrad.
- Mit den internen Entwicklungsprozessen als den Realisationen der grundlegenden Anlagen könnte man die Entwicklung von Theorien und Begriffen auf der Grundlage der fundamentalen Prämissen ansehen.
- Die Ausführungen zeigen aber auch, dass die von Hegel verwendeten Begriffe wie Begriff, Vernunft, Subjektivität nicht im üblichen Sinne verwendet werden und auch bei Horstmann wird etwa Vernunft für interne und externe Verhältnisse verwendet. Horstmann versucht, die andere Bedeutung der Begriffe bei Hegel durch den Zusatz (Hegelschen) zu kennzeichnen. Wie in anderen Fällen sollte aber die Konsequenz sein, auf diese Begriffe komplett zu verzichten und die Gedanken von Hegel mit anderen Worten zu erläutern.
Da nun selbstbezügliche Subjektivität das maximal komplexe Merkmal des Begriffs der Vernunft sein soll und da diese Bestimmung wesentlich von denen der Unendlichkeit und der Substantialität getragen ist, kommt dieser Begriffstrias ‚Unendlichkeit‘, ‚Substantialität‘ und ‚Subjektivität‘ eine besonders zentrale Funktion bei dem Versuch zu, diese Annahme zu rechtfertigen. Der Sache nach oder in irgendeiner Form von ‚Klartext‘ heißt dies nichts anderes als daß Hegel einen irgendwie gearteten Zusammenhang zwischen seiner Auffassung von Unendlichkeit und seinen Vorstellungen von Substantialität und selbstbezüglicher Subjektivität behaupten muß, der letztere notwendig macht (S. 191).
Gedanken:
- Horstmann spricht von „selbstbezüglicher Subjektivität“ und nicht einfach von „Subjektivität“. Damit bringt er zum Ausdruck, dass das wesentliche Merkmal von Subjektivität, zumindest in dem diskutierten Zusammenhang, die Selbstbezüglichkeit, der Selbstbezug oder die Selbstbeziehung ist.
Selbstbezug bzw. Selbstbeziehung wird von Hegel als strukturelle Auszeichnung eines kategorialen Sachverhalts zum ersten Mal in der sog. ‚Seinslogik‘ eingeführt. Diese Auszeichnung taucht dort auf bei der Beschreibung dessen, was Hegel ‚Unendlichkeit‘ nennt. Auf Grund von Überlegungen, die von dem Verhältnis von Etwas zu etwas Anderem ihren Ausgang nehmen, versucht Hegel deutlich zu machen, dass die Möglichkeit, irgendetwas Beliebiges über die Zuschreibung irgendeines qualitativen Merkmals als identifizierbaren Gegenstand oder, in seiner Terminologie, als Endliches aufzufassen (das Rote da, das Runde dort), nicht nur voraussetzt, es von beliebig vielem anderem oder, wie er es nennt, von Unendlichem unterscheiden zu können, sondern dass diese qualitative Weise der Präsenz von etwas nur dann als realisierbar angesehen werden kann, wenn eine Auffassung von Endlichkeit und Unendlichkeit zugrunde gelegt wird, die sie nicht als sich gegenseitig ausschließende Sachverhalte interpretiert. Gäbe es nämlich keine solche Auffassung, dann gäbe es keinen nicht-widersprüchlichen Begriff von Unendlichkeit und folglich auch keine Möglichkeit, „das qualitative Sein“ (GW 21, 144) durch den Rekurs auf einen Begriff von Endlichkeit zu charakterisieren, der in Beziehung auf den der Unendlichkeit definiert sein soll. Ein haltbarer (nicht-widersprüchlicher) Begriff von (qualitativer) Unendlichkeit muss deshalb so gefasst werden, dass er zwar einerseits als Gegenbegriff zu dem der (qualitativen) Endlichkeit fungieren kann, andererseits aber den dieser Endlichkeit nicht ausschließt oder ’negiert‘ (S. 192).
Gedanken:
- Horstmann erläutert wieder mit eigenen Worten und Beispielen die Begriffe von Hegel. „Endliches“ in der Terminologie von Hegel bedeutet danach „irgendetwas Beliebiges über die Zuschreibung irgendeines qualitativen Merkmals als identifizierbaren Gegenstand (das Rote da, das Runde dort)“. Etwas „von Unendlichem unterscheiden zu können“ heißt, es „von beliebig vielem anderem“ unterscheiden zu können. „Endlichkeit“ und „Unendlichkeit“ nach Hegel werden mit dem Adjektiv „qualitativ“ (in Klammern) versehen.
Hegel versucht nun diese Vorgaben durch den Nachweis einzulösen, daß sich Unendlichkeit ohne den Rekurs auf Endlichkeit gar nicht denken läßt: beide Begriffe erläutern sich wechselseitig, indem jeder von ihnen ohne eine Beziehung auf den anderen entweder leer oder widersprüchlich wird. Diese Beobachtung führt nach Hegel auf den Begriff der ‚wahren Unendlichkeit‘ (S. 192).
Hegel selbst macht m. E. das, worauf er mit seinem Begriff der wahren Unendlichkeit aus ist, am besten in einer Passage aus der ersten Auflage der Wissenschaft der Logik (1812) deutlich, die deshalb hier angeführt werden soll: „Weder das Endliche als solches, noch das Unendliche als solches haben daher Wahrheit. Jedes ist an ihm selbst das Gegenteil seiner, und Einheit mit seinem Andern. Ihre Bestimmtheit gegeneinander ist also verschwunden. Es ist hiermit die wahre Unendlichkeit, in der sowohl die Endlichkeit als auch die schlechte Unendlichkeit aufgehoben ist, eingetreten. Sie besteht in dem Hinausgehen über das Anderssein, als der Rückkehr zu sich selbst; sie ist die Negation als sich auf sich selbst beziehend; das Anderssein, insofern es nicht unmittelbares Anderssein, sondern Aufheben des Andersseins, die wiederhergestellte Gleichheit mit sich ist“ (GW 11, S. 82 f.).
Wichtig an diesen Hegelschen Ausführungen zum Thema ‚qualitative Unendlichkeit‘ sind im hiesigen Zusammenhang hauptsächlich zwei Punkte: zum einen, daß Hegel so etwas wie Selbstbeziehung bzw. Selbstbezug bereits auf der seinslogischen Ebene, also auf einer Ebene einführt, auf der die kategorialen Bestimmungen verhandelt werden, die konstitutiv sein sollen für die Möglichkeit, irgend etwas überhaupt erst als in bestimmter Weise seiend, als (qualitativ) bestimmten Gegenstand zu fixieren. Dasselbe anders und ein wenig provozierender gesagt: Selbstbeziehung ist für Hegel nicht primär an den Vollzug von Leistungen der Selbstdifferenzierung und der Selbstidentifikation gebunden, sondern ist bereits ein notwendiges Ingredienz des Gedankens von Gegenständlichkeit überhaupt, … (S. 193)
Gedanken:
- Die Überlegungen zur Selbstbeziehung bzw. Selbstbezug kann man auch auf beliebige dialektische (in meiner Bedeutung) Beziehungen anwenden, wie etwa das Verhältnis von Alleinsein und Zusammensein in einer Partnerbeziehung als wesentliches Merkmal der Qualität dieser Beziehung. Alleinsein und Zusammensein sind gegensätzliches und für sich genommen wenig aussagekräftig, sie haben mit Hegels Worten als solches keine Wahrheit. Alleinsein heißt Nichtzusammensein und Zusammensein heißt Nichtalleinsein, also nicht Nichtzusammensein. Jeder der beiden Begriffe enthält als bestimmte Negation des anderen also auch den anderen und bezieht sich somit über den anderen auch auf sich selbst.
- Der Unterschied von Selbstbeziehung im Hegelschen Sinne zur Selbstdifferenzierung, Selbstbezug oder Selbstreflexion ist offensichtlich, dass es sich bei der Selbstbeziehung um ein Verhältnis zwischen zwei Kategorien handelt, während Selbstdifferenzierung innerhalb einer Kategorie möglich ist.
Doch selbst wenn man bereit ist, der Hegelschen Einführung von Selbstbeziehung im Zusammenhang der Entfaltung seines Begriffs von wahrer Unendlichkeit zu folgen und die geforderte Notwendigkeit anzuerkennen, ist man noch ziemlich weit entfernt von der Möglichkeit der Einsicht in die Notwendigkeit von selbstbezüglich interpretierter Subjektivität. Für Hegel ist diese Einsicht auch nur dann zu erreichen, wenn man sich – neben manchem anderen – auf eine bestimmte Auffassung von dem, was in seiner Terminologie ‚Substantialität‘ oder ‚(absolute) Substanz‘ heißt, verpflichten läßt, die ebenfalls durch begriffliche Zwänge gedeckt und deshalb notwendig sein soll. … Sie läßt sich zuspitzen zu der Behauptung, daß der für eine vollständige Bestimmung des Begriffs der Vernunft essentielle Charakter der Substantialität einen Begriff von Substanz erfordert, der wesentlich als ein Verhältnis einander ausschließender Elemente gedacht werden muß, die sich letztlich als strukturell identische erweisen und insofern – in ein Verhältnis zueinander im Begriff der Substanz gebracht – sich auf sich selbst beziehen. … Aus der Analyse der Bestimmungen, die die wesentlichen Merkmale des Begriffs der Substanz ausmachen sollen (Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit), hatte sich ergeben, daß der Gedanke der selbständigen substantiellen Einheit direkt auf das Verhältnis zweier selbständiger Substanzen als Ursache- und Wirkungszusammenhang und dieses Verhältnis auf die Vorstellung der Wechselwirkung von selbständigen Substanzen führt. Dieser in den konzeptuellen Bestimmungen der Substanz selbst angelegte Zusammenhang wird von Hegel interpretiert als das Ergebnis eines Reflexionsprozesses, der der Sache nach zeigt, daß die als selbständig gedachte Substanz oder die selbständige substantielle Einheit sich bei näherem Hinsehen als Identität von Ursache und Wirkung in der Wechselwirkung und d. h. als Identität einander entgegengesetzter Bestimmungen entpuppt. Da die als selbständig gedachte Substanz nichts anderes ist als bzw. dasselbe ist wie die Identität von Ursache und Wirkung in der Wechselwirkung und da Ursache und Wirkung auch in der Wechselwirkung voneinander unterschieden werden können – auch sie sind, wie Hegel es nennt: ‚selbständige‘ –, so ist die selbständige Substanz einerseits ihr eigenes anderes oder Hegelisch: das andere ihrer selbst (Ursache und Wirkung), andererseits aber ist sie nur in diesem anderen sie selbst (dies Hegels etwas blumige Ausdrucksweise dafür, daß sie nichts anderes als dieses andere ist) (S. 194).
Gedanken:
- Der Gedanke der dialektischen Einheit von Gegensätzen wird am Beispiel der „Substanz“ auf einen Begriff als Einheit gegensätzlicher Momente angewendet. Weitere Beispielen wären der Begriff „Liebe“ als Einheit von Hingabe und Selbstheit und der Begriff „Licht“ als Einheit von Wellen- und Teilcheneigenschaft.
- Man muss wohl unterscheiden zwischen der begriffslosen Einheit von unterschiedlichen Kategorien, wie Endlichkeit und Unendlichkeit, und der Einheit von Momenten eines Begriffs wie Substanz, Liebe oder Licht.
- Es mutet etwas seltsam an, dass Hegel als Momente des Begriffs „Substanz“ Ursache und Wirkung ansieht. Eher nachvollziehbar ist die Angabe der Modalbegriffe Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit als wesentliche Merkmale des Begriffs. Ursache und Wirkung sind eigentlich Vermittlungen zwischen Sachverhalten. Sie beschreiben funktionale oder stochastische Zusammenhänge zwischen Zuständen der Realität.
Hegels Begriff der Substanz wirft auch ein bezeichnendes Licht auf das, was er unter ‚Einheit‘ verstanden wissen will. Folgt man der hier gegebenen Skizze, dann deutet ja Hegel die Substanz als eine relationale Struktur, deren charakteristische Relata (Ursache, Wirkung) nur unter zwei einander wechselseitig sich ausschließenden Beschreibungen auftreten können, die aber dasselbe bezeichnen (identisch sind). Die Struktur selbst ist insofern nur (substantielle) Einheit als sie durch diese bestimmten Relata und deren sich ausschließendes Verhältnis vollständig bestimmt ist. Dies heißt, daß die Einheit der Substanz nicht als etwas Drittes aufgefaßt werden darf, das irgendwie getrennt von den Relata und deren spezifischer Beziehung als Sachverhalt vorliegen kann. Obwohl Hegel häufig darüber geklagt hat, das der Terminus ‚Einheit‘ eigentlich nicht ideal für seine Zwecke ist (vgl. GW 21, S. 78, 132 u. 138, Enz., §§ 70, 88 Anm.), hat er ihn bekanntlich extensiv und oft mißverständlich benutzt. Vor allem konnte er selten vermeiden, daß der Begriff der ‚Einheit entgegengesetzter Bestimmungen‘ die Vorstellung eines irgendwie diskreten Dritten provozierte, was außerdem noch durch seinen bisweilen eher bildhaften Gebrauch des Terminus ‚Aufheben‘ nahegelegt wurde. Eine wahrscheinlich nicht sehr weitreichende Veranschaulichung dessen, worauf Hegel mit seinen relationalen Beschreibungen von Sachverhalten als Einheiten zielt, bieten gestaltpsychologische Puzzles, wie z. B. das sog. ‚Ente-Kaninchen-Puzzle‘. Bei diesem Puzzle haben wir es mit einer Zeichnung zu tun, die wir entweder als Ente oder als Kaninchen sehen. Sowohl die Behauptung, es handele sich bei der Zeichnung um die Darstellung einer Ente, als auch die, sie sei eine Kaninchen-Darstellung, sind beides korrekte Beschreibungen der bildlichen Situation. Dennoch schließen sie sich aus. Ente und Kaninchen sind in diesem Kontext – in Hegels Sprache – jeweils das andere ihrer selbst. Als ‚Ente, die auch Kaninchen ist‘ und als ‚Kaninchen, das auch Ente ist‘ sind sie die ununterscheidbaren und dennoch entgegengesetzten Elemente des Puzzles, seine, wie Hegel es nennt: ideellen Momente, und die ‚Einheit‘ des Puzzles, in der diese Elemente ‚aufgehoben‘ sind, besteht genau in dieser Identität der beiden Elemente und in nichts Drittem. Die Einheit läßt sich nur begrifflich von dem, dessen Einheit sie ist, unterscheiden (s. 195-196).
Gedanken:
- Es ist erneut erfreulich, dass sich Horstmann im Vergleich zu vielen anderen Hegel-Interpreten um illustrative und realitätsbezogene Beispiele bemüht.
- Bei dem Beispiel handelt es sich um ein sogenanntes Wechselbild, das zu den optischen Täuschungen gezählt wird. Interessanterweise wechselt bei intensiver Betrachtung des Bildes der jeweils wahrgenommene Inhalt (Ente oder Kaninchen) unabhängig vom Willen des Betrachters etwa alle 2 Sekunden.
- Es ist ein schönes Beispiel für die Einheit von Gegensätzen als Momente eines Begriffs. Der Begriff ist in diesem Fall das konkrete Bild in seiner Gesamtheit.
- An dem Beispiel kann noch eine weitere interessante Eigenschaft verdeutlicht werden: die Einheit als solche ist kein eigenständiges Objekt unabhängig von ihren Momenten. Man sieht auf dem Bild entweder nur die Ente oder nur das Kaninchen, aber nicht beides gleichzeitig. Dies gilt auch für die Begriffe Liebe und Licht. Liebe zeigt sich entweder in Hingabe oder in Selbstheit, beides gleichzeitig ist nicht möglich und es gibt keine Liebe außerhalb dieser Momente. Liebe an sich, ist also gar nicht fassbar. Auch für das Licht gilt, es kann nur entweder als Welle oder als Teilchen (Photonen) wahrgenommen oder nachgewiesen werden. Licht ist also immer beides zugleich und es gibt kein Licht außerhalb dieser Momente.
Was nun die Notwendigkeit von (selbstbezüglicher) Subjektivität als ausgezeichnetem Merkmal von Vernunft betrifft, so läßt sich dieser Teil der Geschichte, die Hegel ‚Logik‘ nennt, relativ kurz erzählen. Er besteht in einer geschickten und originellen Transposition der Ergebnisse, die die Analyse des Begriffs der Substanz erbracht hat, in eine weitere Figur der Selbstbeziehung. Sie soll dadurch gekennzeichnet sein, daß ihre Relata den Schein der Selbständigkeit verlieren, die an den Bestimmungen der Substanz noch vorzufinden gewesen ist. Hegel nennt diese Figur ‚Subjektivität‘ und bindet sie an das, was er den ‚(logischen) Begriff‘ nennt. Der Begriff der Subjektivität bezeichnet also zunächst nichts weiter als eine charakteristische Eigenschaft der relationalen Struktur, die sich ergibt, wenn die Substanz ‚in ihrer Wahrheit‘ aufgefaßt wird. Was sie im Hegelschen Sinne notwendig macht, ist nun nicht der Umstand, daß ohne sie im Begriff der Vernunft das kategoriale Rüstzeug für die Beschreibung der Phänomentypen fehlen würde, die Hegel im realphilosophischen Teil seines Systems unter den Titel ‚Geist‘ subsumiert. Obwohl natürlich auch diesem Umstand Rechnung getragen werden muß, könnte er für die Notwendigkeit, die Hegel interessiert, nicht aufkommen. Ihm muß es um konzeptuelle Notwendigkeit gehen. Und die ist anscheinend für ihn in diesem Fall dadurch gesichert, daß die spezifische Weise der Selbstbeziehung, auf die der seinerseits notwendige Begriff der (wahren) Unendlichkeit bereits verpflichtet ist, in der für Substantialität typischen Konfiguration insofern begrifflich unzureichend realisiert ist, als in dieser so etwas wie der Vollzug von ‚Aufheben von Andersheit‘ oder das Vollbringen der ‚Wiederherstellung der Einheit mit sich selbst‘ noch fehlt. Wird diesem Gesichtspunkt des Aufhebens bzw. des Wiederherstellens Rechnung getragen, dann erweist sich die Art der Selbstbeziehung, die als Subjektivität das auszeichnet, was für Hegel den ‚(logischen) Begriff‘ ausmacht, in dem Sinne notwendig, daß erst durch sie (wahre) Unendlichkeit begrifflich vollständig exemplifiziert wird. Da diese vollständige Exemplifikation erst dann geleistet werden kann, wenn die ‚richtigen‘ Relata für diesen Typ von Selbstbeziehung vorliegen, kann sie nach Hegel nur im Zusammenhang mit dem ‚(logischen) Begriff‘ gelingen, weil erst die Elemente (Momente, Bestimmungen) des Begriffs eine relationale Struktur bilden, die soz. ‚subjektivitätsfähig‘ ist. Die kürzeste, vielleicht auch die griffigste Beschreibung dieser Struktur läßt sich im umfangreichen Arsenal der selten sehr klaren Charakterisierungen dessen finden, was Hegel ‚Idee‘ nennt. Sie macht den Hauptteil des § 215 der Enzyklopädie (1830) aus und lautet: „Sie [die Idee, R.P.H.] ist der Verlauf, daß der Begriff als die Allgemeinheit, welche Einzelnheit ist, sich zur Objektivität und zum Gegensatze gegen dieselbe bestimmt, und diese Äußerlichkeit, die den Begriff zu ihrer Substanz hat, durch ihre immanente Dialektik sich in die Subjektivität zurückführt“. (S. 196-197).
Gedanken:
- Es ist schon eine eigenartige Konstruktion und Bezeichnungsweise, die Hegel eingeführt hat. Wozu braucht man einen Begriff für die Vermittlung „des Aufhebens von Andersheit“ oder „der Wiederherstellung der Einheit“ mit sich selbst? Warum verwendet Hegel dafür den Begriff der Subjektivität? Das ist im hohen Grade missverständlich, weil es kein Bezug zum Begriff des Subjektes als Person hat.
- Horstmann versucht wieder durch Umschreibungen die seltsame Begriffswelt von Hegel deutlicher zu machen. So spricht er von Subjektivität als eine Figur der Selbstbeziehung. Den Begriff „Geist“ von Hegel bezeichnet er als „Titel“, unter dem einiges subsumiert ist. Auch in seiner Bemerkung zu dem, was Hegel „Idee“ nennt, bringt er seine Auffassung zum Begriffssystem von Hegel zum Ausdruck. Die Konsequenz daraus, die auch Horstmann nicht zieht, wäre eine Beschreibung der durchaus sehr sinnvollen Gedanken von Hegel mit verständlichen Worten.
Wenn es nämlich stimmt, daß Hegel sein Gesamtsystem dadurch ausgezeichnet sieht, daß es auf einer kategorialen Basis beruht, die auf konzeptuelle (oder ‚logische‘) Notwendigkeit Anspruch erheben kann, und wenn es weiter stimmt, daß, wie Hegel meint, diese kategoriale Basis deshalb als alternativelos angesehen werden muß, weil sie sich selber als Realität bestätigt (sich realisiert), dann bleibt kein angebbarer Ansatzpunkt für die Entfaltung der Vorstellung eines sozialen Raumes, in dem durch irgendwelche Aktivitäten oder Praktiken des Gründe Gebens Kategorien konstituiert werden können. Das Mißverständnis, das Hegel einer neopragmatistischen Interpretation seines philosophischen Projekts attestieren würde, wäre die Verwechslung des Prozesses, der die Entdeckung der ‚wahren‘ kategorialen Verfassung der Wirklichkeit durch in verschiedenen historischen Situationen erkennende und handelnde Subjekte beschreibt, – für Hegel der phänomenologische Prozeß, der tatsächlich auf soziale und kulturelle Gegebenheiten rekurriert, – mit dem Prozeß, der die Konstitution dieser ‚wahren‘ kategorialen Verfassung der Wirklichkeit zum Gegenstand hat und den man den ‚logischen Prozeß‘ nennen könnte. Da dieser logische Prozeß überhaupt erst die Muster konstituiert, unter denen alles zu stehen kommen muß, was real ist (ontologischer Anspruch der Logik), hätte Hegel wenig Sinn und auch gar keinen systematischen Ort für die Vorstellung eines ‚autonomen‘, soll heißen: logik-unabhängigen und dennoch Kategorien konstituierenden phänomenologischen Prozesses. Es ist daher nicht von ungefähr, daß in Hegels Phänomenologie nicht primär kategoriale Muster generiert werden (obwohl das auf einer Metaebene auch geschehen mag), sondern daß vielmehr versucht wird, die Folgen einseitiger Favorisierung gegebener Muster mit dem Ziel der skeptischen Destruktion ihrer Geltungsansprüche zu thematisieren (sich vollbringender Skeptizismus) (S. 198-199).
Gedanken:
- Horstmann begründet noch einmal, dass es keinen Ansatz für eine neopragmatische Interpretation von Hegel gibt, wenn man sein Anliegen ernst nimmt, ein System von Kategorien zu entwerfen, dass konzeptuell notwendig, also nicht subjektiv oder kulturell beeinflusst ist.
- Nach Horstmann müssen zwei wissenschaftliche Erkenntnisprozesse unterschieden werden. Zum einen den Prozess der Erfassung der realen Strukturen in Natur und Gesellschaft, die in ihrer Ausprägung durch soziale und kulturelle Gegebenheiten bedingt sind, und zum anderen den Prozess der Konstituierung der Begriffe Kategorien und Methoden, mit denen die realen Strukturen erfasst werden sollen. Dieser zweite Prozess ist nach Hegel ein rein logischer, d. h. ausschließlich mit Mittel und Methoden der Logik zu realisierender Prozess.
- In der Phänomenologie werden nach Horstmann deshalb auch keine Kategorien entwickelt, sondern mögliche kategoriale Muster in ihren Geltungsansprüchen kritisiert. Diese Einschätzung widerspricht nicht dem Anliegen von Hegel, in der Phänomenologie grundlegende Probleme von Erkenntnisprozessen, dass, wie er es nennt erscheinende Wissen, zu untersuchen.
Als Ergebnis dieser Ausführungen kommt also die relativ betrübliche Einsicht zu stehen, daß Hegel sich wieder einmal als zu sperrig erweist, um auch den wohlmeinendsten Versuchen seiner Integration in ein mehr zeitgemäßes Szenario Hoffnung auf Erfolg in Aussicht stellen zu können. … Es mag ja sein, daß sich tatsächlich nur die Elemente der Hegelschen Theorie nicht in eine solche Interpretation integrieren lassen, die sowieso keine Chance haben, irgend jemand anderen als höchstens Hegel selbst zu überzeugen. Die Trennung dieser Elemente von jenen, deren Vergegenwärtigung sich für die verschiedensten Zwecke nützlich erweisen kann, wäre dann selbst schon ein Erfolg. Unter dieser Perspektive gesehen, könnte das neopragmatistische Unternehmen als der Versuch gelten, nicht so sehr an Hegel anzuknüpfen als ihn in Vielem mit sich allein zu lassen. (S. 199).
Gedanken:
- Nach Meinung des Autors sind die Elemente der Hegelschen Theorie, die von den Anhängern des Pragmatismus in ihre Theorie integriert werden wollen, dazu nicht geeignet. Diese Teile der Theorie können aus seiner Sicht ohnehin höchstens nur von Hegel verstanden werden. Er hält es aber durchaus für möglich, dass sich andere Teile für die verschiedensten Zwecke als nützlich erweisen können. Das neopragmatisch Unternehmen könnte so dazu beitragen, eine solche Trennung der Hegelschen Theorie vorzunehmen.
- Ich halte diese pauschalen Feststellungen nicht für zutreffend, da viele der hier dargestellten Überlegung von Hegel durchaus für verschiedenste Zwecke verwendbar sind, wie aus einigen meiner Anmerkungen hervorgeht.
Literaturverzeichnis
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Phänomenologie des Geistes. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3. 1. bis 10. Tausend. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Theorie Werkausgabe).
Horstmann, Rolf-Peter (2008 [1. Aufl 2003]): Hegel über Unendlichkeit, Substanz, Subjekt. Eine Fallstudie zur Rolle der Logik in Hegels System. In: Dina Emundts und Sally Sedgwick (Hg.): Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Berlin: DE GRUYTER (Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus, 1), S. 183–200. Online verfügbar unter https://www.philosophie.hu-berlin.de/de/lehrbereiche/idealismus/mitarbeiter1/horstmann/texte/IDUPR%282000a%29.pdf.
Pinkard, Terry P. (1994): Hegel’s Phenomenology. The sociality of reason. First paperback edition. Cambridge, New York, Melbourne: Cambridge University Press.