Hans-Dieter Sill, 09.01.2023
Zitate und Gedanken zu Brandom (2021): Im Geiste des Vertrauens. Eine Lektüre der „Phänomenologie des Geistes“
Zur Zitierweise
Alle Texte mit linkem Einzug außer den Aufzählungen sind Zitate. Alle Seitenangaben bei den Zitaten ohne weiteren Quellennachweis beziehen sich auf Brandom (2021).
Phänomenologie steht für „Phänomenologie des Geistes“, Hegel (1970). Bei Zitaten aus der Phänomenologie wird das Kürzel PhG verwendet. Die rekursiven Kapitelüberschriften stehen für die entsprechenden Kapitel in der Phänomenologie.
Generelles zur Publikation
Das Buch ist eine Übersetzung von Brandom (2019). Es hat einen Umfang von 1196 Seiten und ist damit nach den zwei Bänden von Stekeler-Weithofer (2014a, 2014b), die zusammen einen Umfang von 2303 Seiten haben, die Publikation zur Kommentierung der Phänomenologie, unter den von mir gesichteten, mit der zweithöchsten Seitenzahl.
Nach Koch (2021) ist Brandom nicht als Hegelforscher angetreten, sondern hat aus Sicht der inferentiellen Semantik und speziell der normativen Pragmatik Hegels Werk interpretiert. Diese eingeschränkte Sichtweise ist auch aus dem Namensregister erkennbar. Bis auf Stekeler-Weithofer, der zweimal im Nachwort im Zusammenhang mit persönlichen Begegnungen mit dem Autor genannt wird, treten keine deutschen Hegelforscher auf, dafür Vertreter der Analytischen Philosophie und Sprachtheorie wie Davidson (10-mal), Frege (40-mal), Kripke (8-mal), Quine (9-mal), Sellars (29-mal) und Wittgenstein (31-mal).
Brandom stellt selber fest, dass seine Lektüre von Hegel „orthogonal zur der bereits vorhandenen Literatur [steht], bei der nur wenig Hilfe zu finden ist“ (S. 18).
Zur Begründung des Titels (Im Geiste des Vertrauens) schreibt Koch (2021), dass Brandom aus seiner Hegel-Interpretation schließt, „dass Hegel in seiner ‚Semantik in erbaulicher Absicht‘ an ein postmodernes Zeitalter des Vertrauens denkt, in der eine Gestalt des Geistes in kritisch solidarischer Erinnerung den Vorgängergestalten ihre kognitiven und begrifflichen Unzulänglichkeiten verzeiht und künftigen Nachfolgergestalten prophylaktisch ihre eigene Fehlbarkeit eingesteht und ihrerseits auf Verzeihung vertraut. … Vermutlich hat Brandom … alle diese Gedanken zunächst unabhängig von Hegel entwickelt; denn wenn man nicht mit ihnen an Hegel herantritt, wird man sie bei ihm nicht finden“ (Koch 2021, S. 332–333).
Nach Stekeler-Weithofer ist Brandoms Titel „A Spirit of Trust“ eine „absolut treffende Charakterisierung von Hegels Phänomenologie des Geistes. Denn Hegel betont eben diesen Zusammenhang zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, zwischen Wissen und freier Kooperation – was als zu selten gesehen und begriffen wird. Und gerade in diesem Sinne von Fichtes Ich zu Hegels Wir besteht der Fortschritt der Philosophie, wie am 21. Jahrhundert endlich zu ergreifen und zu begreifen ist“ (Stekeler-Weithofer 2014a, S. 355).
DeVries hebt in einem Internetbeitrag (DeVries 2021) den aus seiner Sicht bedeutenden Beitrag von Brandom zur Hegelforschung vor, der damit über die bisherige Hegelforschung hinausgeht. Einer seiner wesentlichen Gedanken bestände darin, dass das Verständnis eines bestimmten Begriffs eine „rationale Rekonstruktion“ seiner Geschichte erfordert. Eine solche Rekonstruktion besteht in einer Analyse der historischen Entwicklung des Begriffs. Solche historischen Begriffsanalysen sind in der deutschsprachigen Literatur längst theoretisch diskutiert (Müller und Schmieder 2019) und in Form des Historischen Wörterbuchs der Philosophie (Ritter et al. 2007) auch praktisch umgesetzt worden.
Brandom vergleicht die historische Herausbildung von Begriffen mit dem Rechtssystem des Common Law. Diese Begriffsbildungsprozesse sind auch mit moralischen Momenten verbunden. Nach Brandom könne eine Gesellschaft ihren idealen Zustand nur dann erreichen, „if a compassionate, forgiving spirit of trust pervades and prevails among its agents. Hegel’s dialectic is not so much an abstruse philosophical methodology as it is an idealisation of the process by which imperfectly rational, finite thinkers reach for stable, enduring truths. In A Spirit of Trust, Brandom tells us that Hegel’s philosophy includes a semantics that is morally edifying. For properly understanding the conditions of having determinate thoughts and intentions, of binding ourselves by determinately contentful conceptual norms in judgment and action, turns out to commit us to adopting to one another practical recognitive attitudes of a particular kind: forgiveness, confession, and trust”.
Dies Überlegungen gehen über die rein sprachanalytischen Betrachtungen von Sellars u.a. hinaus und sich aus Sicht der analytischen Philosophie sicher ein neuer Zugang zu Hegel.
Das Buch von Brandom in der Originalfassung (Brandom 2019) wurde nach Google Scholar bisher 379-mal zitiert.
Ausgewählte Inhalte mit Kommentaren
Der für die Lektüre bestimmende Gegenstand ist der „begriffliche Inhalt“; … Im Mittelpunkt von Hegels Denken … steht eine radikal neue Vorstellung vom Begrifflichen. Dieser Vorstellung zufolge ist etwas begrifflich gehaltvoll, wenn es in den von Hegel sogenannten Beziehungen „bestimmter Negation“ und „Vermittlung“ zu anderen solchen Dingen steht. Mit „bestimmter Negation“ meint Hegel materiale Unvereinbarkeit bzw. aristotelische Gegensätze, also Ausschlussbeziehung wie beispielsweise zwischen „rechteckig“ und „kreisförmig“ innerhalb der Eigenschaften der Planfiguren oder zwischen den Metallen „Kupfer“ und „Aluminium“ … Mit „Vermittlung“ meint Hegel konjunktivisch robuste Beziehungen, also Einschlussbeziehungen wie beispielsweise zwischen „dreieckig“ zu „mehreckig“… Wenn ein Ding die eine Eigenschaft aufweist, ist es notwendig, dass es die andere Eigenschaft aufweist (S. 14).
Gedanken:
- Die Wortverbindungen „begrifflicher Inhalt“ und „begrifflich gehaltvoll“ bleiben bei Brandom nebulös. Offensichtlich geht es bei „begrifflichem Inhalt“ um den Inhalt von Begriffen.
- Das Wort „Begriff“ spielt in den Darlegungen eine zentrale Rolle, ohne dass der Autor seine Vorstellung zu diesem Terminus dargelegt hat. Es entsteht der Eindruck, dass er unter einem Begriff vor allem das Begriffswort versteht. Für diese Auffassung sprechen seine Beispiele wie „rechteckig“ und „Kupfer“.
- Es zeugt von wenig Verständnis des Hegelschen Begriffs der bestimmten Negation, wenn man diese mit einer reinen Ausschlussbeziehung gleichsetzt. Eine bestimmte Negation enthält als Resultat auf das, woraus sie herkommt (PhG, S. 74).
- Die Vermittlung bei Hegel auf eine Einschlussbeziehung zu reduzieren ist eine nicht nachvollziehbare und wenig zielführende Einschränkung.
Da ich das Thema des begrifflichen Inhalts als ein zentrales, richtungsweisendes Anliegen der Phänomenologie betrachte, bezeichne ich meine Lektüre als semantisch. … Meinem Verständnis nach verfolgt Hegel einen pragmatischen Ansatz, um ein semantisches Verständnis von Inhalt zu erreichen. Im weitesten Sinne bedeutet dies, dass Akten, Einstellungen und sprachlichen Ausdrücken dadurch begrifflicher Inhalt verliehen wird, dass sie eine Rolle in den von den Subjekten ausgeführten Praktiken spielen (S. 16).
Gedanken:
- Die Behauptungen zu den Zielen von Hegel erfolgen ohne Verweise auf seinen Text und sind somit nicht nachvollziehbar.
Bei meiner Lektüre der Phänomenologie versuche ich herauszufinden, was Hegel uns über die Beziehungen zwischen Bedeutung und Verwendung beibringen kann, zwischen begrifflichem Inhalt und Begriffsanwendung (jeweils die Themen von Semantik und Pragmatik) und zwischen Normativität und Modalität, die die verschiedenen subjektiven und objektiven Formen gliedern, die begrifflicher Inhalt annehmen kann. So wie ich ihn verstehe, verspricht sich Hegel somit eine Erhellung der intensionalen semantischen Beziehungen zwischen den erkennenden und handelnden Subjekten und den Gegenständen, auf die die Subjekte einwirken über die sie Erkenntnis erlangen. Es ist bekannt, dass Hegel Letzteres als Thema behandelt – der Fokus der vorliegenden Lektüre auf die ersten beiden Themen ist hingegen ungewöhnlich. (S. 17/18).
Da es bei den höherstufigen kategorialen Metabegriffen darum geht, die Verwendung und den Inhalt von Begriffen der unteren Stufe zu gliedern, können wir durch die Beschäftigung mit Ihnen etwas über die gewöhnlichen empirischen Begriffe der unteren Stufe lernen. Ich vollziehe also im Folgenden und empfehle insofern eine Strategie des semantischen Abstiegs. … Die im folgenden richtungsweisende Methode des semantischen Abstiegs hebt die vorliegende Lektüre substantiell von der etablierten Tradition der Hegel-Interpretation ab (S. 20).
Wir können diese Metabegriffe verstehen, wenn wir uns anschauen, wie sie uns dazu in die Lage versetzen, über die empirisch-praktischen Begriffe der unteren Stufe zu sprechen und sie zu vermitteln. … Hegel geht einen anderen Weg. Er bedient sich nicht der Möglichkeit, spekulative Begriffe durch ihre spezifisch expressiven Rollen anders zu verstehen als bestimmte Begriffe. Er ist der Meinung, dass es die Beschaffenheit des begrifflichen Inhalts auf beiden Ebenen erforderlich macht, sie auf dieselbe rückblickend-erinnernde geschichtliche Weise zu verstehen. Das Verfolgen der hermeneutischen Strategie des semantischen Abstiegs bedeutet also, nicht ganz mit Hegel einverstanden zu sein. Insofern handelt es sich bei dieser Strategie um eine kritische Lektüre von Hegel, die sich bemüht, die von ihm selbst bereitgestellten begrifflichen Ressourcen zusammenzuziehen und anzuwenden, um etwas anderes zu tun als er getan hat. … Indem ich die Erklärungsmethode des semantischen Abstiegs neben Hegels Erklärung stelle, ergibt sich ein Fortschritt, ganz so, wie das Sehen mit zwei Augen dem Sehen nur einem Auge überlegen ist. (S. 23)
Gedanken:
- Der Autor will sich offensichtlich auf die Analyse begrifflicher Beziehungen beschränken und sich nicht mit dem Verhältnis von Subjekten und Erkenntnisgegenständen beschäftigen. Das ist aber ohne Frage das zentrale Anliegen der Phänomenologie. Die von Hegel verwendeten Begriffe beziehen sich gerade auf dieses Verhältnis. Koch (2021) stellt in seiner Rezension zu dem Buch von Brandom heraus, dass Carnap und Sellars keine semantischen Sprache-Welt-Beziehungen kennen. Die einzig zulässigen semantischen Relationen sind Sprache-Sprache-, also Ein- und Ausschlussbeziehungen. Was unabweisbar aussieht wie eine semantische Sprache-Welt-Beziehung wird syntaktizistisch bzw. inferentialistisch analysiert (Koch 2021, S. 319).
- Der Grundgedanke des von Autor so genannten semantischen Abstiegs, Zusammenhänge zwischen allgemeinen und speziellen Begriffen zu untersuchen, wäre ein geeigneter Weg, die Ausführungen von Hegel besser zu verstehen und sie auf konkrete Probleme anzuwenden. Es bleibt unklar, weshalb der Autor bei diesem Weg nicht mit Hegel einverstanden ist.
- Was der Autor genau mit der Methode des semantischen Abstiegs meint und zu welchen Konsequenzen sie führt, wird an dieser Stelle nicht deutlich.
Auch in den ersten drei Kapiteln, die sich mit der Einleitung beschäftigen, wird die Methode des semantischen Abstiegs in ihrer Wirksamkeit zum Verständnis des Hegelschen Textes nicht überzeugend dargestellt. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass keine zusammenhängenden Texte von Hegel sondern nur, und das zudem sehr selten, einzelne Termini von ihm kommentiert werden. Der Hauptinhalt dieser Kapitel besteht in der ausführlichen Darlegung der eigenen theoretischen Auffassungen zu erkenntnistheoretischen Problemen.
Ich stimme Koch zu, dass die Ausführungen „sprachlich nicht eingängig sind und in der steten Wiederholung zentraler Topoi“ teils sehr redundant sind (Koch 2021, S. 328). So tritt auf 34 von mir analysierten Seiten aus den ersten drei Kapitel 27-mal die Wortverbindung „Beziehungen materialer Unvereinbarkeit und Folgerung“ auf. Es werden ebenfalls sehr häufig die Termini „begrifflich“, „begriffliches Gehaltvollsein“, „begriffliche Gliederung“, „Verständlichkeit“, „Verantwortung“ und „Verpflichtung“ verwendet, ohne dass der Autor die Bedeutung dieser Termini expliziert. Auf diesen Seiten gibt es nur drei Zitate aus der Phänomenologie, die jeweils nur auf einen Terminus verweisen. Zur Erläuterung der allgemeinen Ausführungen verwendet Brandom nur vier triviale Beispiele (Eigenschaften ebener Figuren, die Eigenschaften Kupfer und elektrischer Isolator, die Aussageform „Hat ein Gewicht über 5 g“, sowie Aussagen zu Kant und seinem Diener Lampe).
Ein Verständnis des Textes von Brandom ist ohne tiefere Kenntnis der dahinter stehenden Theorie der inferentiellen Semantik und normativen Pragmatik sehr erschwert. Koch (2021) hat in seiner Rezension zunächst Erläuterungen zu diesem Hintergrund vorgenommen.
Brandom stellt zahlreiche Behauptungen zu Hegels Text auf, die nicht zutreffend oder nicht nachvollziehbar sind, wie im Folgenden an Beispielen gezeigt werden soll. Dazu werden zunächst mehrere Zitate angegeben, die die verschiedenen Probleme beinhalten.
Die Plausibilität eines solchen Ansatzes hängt prinzipiell von dem Verständnis des Metabegriffs begrifflich ab (begriffliches Gehaltvollsein und begriffliche Gliederung), da er die Erklärung für diesen Ansatz abgeben muss. Es gibt eine ganze Reihe von Auffassungen dieses Metabegriffs die diesen Ansatz als völlig unplausibel und unhaltbar betrachten. Würde man beispielsweise Begriffe in letzter Instanz psychologisch verstehen, so würden die Idee, dass Gedanken (Akte des Denkens und Überzeugtseins) und Tatsachen den gleichen begrifflichen Inhalt haben können, unerwünschte Folgen entspringen. Man könnte meinen, dass Überzeugungen und Gedanken in erster Linie begrifflich gehaltvoll sind und andere Dinge wie zum Beispiel visuelle oder akustische Signale nur indirekt als begrifflich gehaltvoll gelten können, da sie bloß Ausdruck von Überzeugungen und Gedanken sind (S. 89).
Hegel meint jedoch, dass die Adäquatheitskriterien für die Erklärungen des Verhältnisses zwischen Erscheinung und Wirklichkeit, die seinem Argument zugrunde liegen, im Zusammenhang mit einer ganz anderen vollkommen nichtpsychologischen Vorstellung vom begrifflichen Gehaltvollsein erfüllt werden können… (S. 91)
Hegel gewinnt seinen Begriff begrifflicher Inhalt indem er über Kants Theorie des Urteils nachdenkt und dessen Verständnis von Begriffen als Urteilsfunktionen positiv aufgreift. Kant versteht Urteilen als etwas Normatives und Pragmatisches: auf normativer Seite versteht er es als ein Sich-selbst-Verpflichten, ein Übernehmen von Verantwortung für etwas, ein Bejahen des geurteilten Inhalts. Auf pragmatischer Seite versteht er diese normativen Akte praktisch; sie zielen darauf ab, sich zu etwas zu verpflichten bzw. Verantwortung für etwas zu übernehmen (S. 91-92).
Ich habe nun bereits einige Schritte gemacht: zunächst habe ich die Idee begrifflichen Inhalts als etwas bestimmt, das durch Beziehungen materialer Unvereinbarkeit und Folgerung gegliedert ist. Diese Gliederung habe ich hier im Kantischen Sinne erläutert, nämlich durch die Normen, die diese Inhalte den Prozess des Urteilens als rationaler Integration auferlegen. … Ich habe auch gesagt, dass Hegels Idee begrifflichen Inhalts keine psychologische Idee ist. Damit ist gemeint, dass es normative Beziehungen sind, die den begrifflichen Inhalt gliedern. Es geht darum, was jemand tun soll, und nicht um das, was sich unmittelbar in seinem tatsächlichen Verhalten oder seinen Verhaltensdispositionen ablesen lässt. Diese Unterscheidung ist sowohl für Kant als auch für Hegel von entscheidender Bedeutung. Bei Hegel aber erweist sich diese normative Herangehensweise an den Begriff des begrifflichen Inhalts in einem weitaus robusteren Sinne als nichtpsychologisch. Seine Idee besteht darin, dass begriffliche Bestimmtheit in diesem Sinne nicht bloß die subjektive Seite des intentionalen Nexus charakterisiert, sondern auch dessen objektive Seite … Denn objektive Eigenschaften und somit die Tatsachen in denen Gegenstände diese oder jene Eigenschaften aufweisen stehen ebenfalls zueinander in Beziehungen materialer Unvereinbarkeit und Folgerung (S. 93-94).
Damit etwas begrifflichen Inhalt hat, also in Beziehungen materialer Unvereinbarkeit und Folgerung steht, ist es hiernach nicht erforderlich, dass irgendjemand irgendetwas denkt oder irgendeine Überzeugung hat. … So, wie ich den Ausdruck verwende, versteht eine „psychologische“ Theorie des Begrifflichen Begriffe gewissermaßen als mentale Einzeldinge bzw. als Aspekte mentaler Einzeldinge, also wesentlich als Eigenschaften psychologischer bzw. intentionaler Zustände, paradigmatisch formuliert als Akte des Denkens und des Überzeugtseins. Hegels nichtpsychologisches Verständnis vom Begrifflichen – also in Beziehungen nichtlogischer Unvereinbarkeit und Folgerung zu stehen – erlaubt es, psychologische bzw. intentionale Zustände und Episoden als begrifflich gehaltvoll anzusehen (S. 95).
Hegels Ausdruck für das, was ich „materiale Unvereinbarkeit“ nenne, ist „bestimmte Negation“ (vgl. PhG, S. 73f.). Sein Ausdruck für das, was ich „materiale Folgerung“ nenne, ist „Vermittlung“ (vgl. PhG, S. 82f.) (S. 100).
Aus diesem Grund findet Hegels Metabegriff begrifflich, obgleich die Vorstellung im Grunde nichtpsychologisch ist, auf psychologische Zustände und Prozesse Anwendung. Auch Akte des Denkens und Überzeugtseins gelten als bestimmt und somit begrifflich gehaltvoll, und zwar, weil sie zu anderen möglichen Akten des Denkens und Überzeugtseins in Beziehungen materialer Unvereinbarkeit und Folgerung stehen (S. 101).
Wenn wir von den Eigenschaften „ist reines Kupfer“ und „ist ein elektrischer Isolator“ sagen, sie seien material unvereinbar miteinander, dann meinen wir, es sei (physikalisch, nicht logisch) unmöglich, dass ein und derselbe Gegenstand zu ein und derselben Zeit beide Eigenschaften hat. Sagen wir hingegen, die Verpflichtungen darauf, dass A reines Kupfer und dass A ein elektrischer Isolator ist, seien material miteinander unvereinbar, dann meinen wir nicht, es sei für ein und dasselbe Subjekt zu einer und derselben Zeit unmöglich, beide Verpflichtungen einzugehen. Wir meinen vielmehr, dass man das nicht tun sollte (S. 101).
Ebenfalls im Anschluss an Kant begreift Hegel Verstehen (und somit Verständlichkeit) letztlich pragmatisch: was man praktisch tun können muss, um als jemand zu gelten, der ein solches Verstehen ausübt. Um als jemand zu gelten, der den begrifflichen Inhalt einer Verpflichtung erfasst und versteht, die man selbst eingegangen ist (oder einzugehen erwägt), muss man praktisch für die normativen Pflichten empfänglich sein, die diese Verpflichtung mit sich bringt. Das bedeutet, die Verpflichtungen anzuerkennen, die aus dieser Verpflichtung folgen, und solche zu verwerfen, die mit ihr unvereinbar sind. In diesem Sinne handelt es sich um eine unmittelbare Verständlichkeit von Verpflichtungen, da man sie als etwas anerkennt, hinsichtlich dessen man bereits Einstellungen hat (S. 103).
Hegels konstruktiver Vorschlag … besteht in einer radikal neuen, nichtpsychologischen Vorstellung vom Begrifflichen. Dieser Vorstellung zufolge ist etwas begrifflich gehaltvoll, wenn es zu anderen begrifflichen Elementen in Beziehungen materialer Unvereinbarkeit („bestimmte Negation“) und materialer Folgerungen („Vermittlung“) steht. Ich spreche deshalb hier von einer nichtpsychologischen Vorstellung vom Begrifflichen, da wir sie von der Betrachtung der Prozesse bzw. Praktiken abtrennen können, in welchen Begriffe im Sinne des Urteilens und absichtlichen Handelns angewendet werden (S. 110).
Diese nichtpsychologische Vorstellung vom Begrifflichen wird in der „Einleitung“ selbst nicht ausgearbeitet, sondern bildet das eigentliche Thema der darauffolgenden Kapitel über das Bewusstsein (S. 111).
Gedanken:
- In der gesamten Phänomenologie treten folgende Begriffe, die Brandom in Verbindung mit Hegel bringt, nicht auf: begrifflich, begrifflicher Inhalt, Verpflichtung, normativ, pragmatisch, nichtpsychologisch. Brandom gibt für alle diese Begriffe auch keine entsprechenden Formulierungen bei Hegel an, die dem Inhalt dieser Begriffe entsprechen. Das Adjektiv „psychologisch“ verwendet Hegel dreimal mit den Substantiven „Gesetze“, „Notwendigkeit“ und „Beobachtung“, also ohne Bezüge zum Begrifflichen.
- Der von Brandom gebildete Terminus „begrifflicher Inhalt“ ist problematisch, da nicht klar ist, wovon der Inhalt betrachtet wird. Wenn es um den Inhalt eines Begriffs geht, wäre die Bezeichnung „begrifflicher Inhalt eines Begriffs“ mehr als seltsam.
- Man kann Hegels Begriff der bestimmten Negation nicht mit Brandoms Begriff der materialen Unvereinbarkeit gleichsetzen. Der Begriff „bestimmte Negation“ tritt bei Hegel in der Phänomenologie nur an einer Stelle auf: „Das Nichts ist aber nur, genommen als das Nichts dessen, woraus es herkommt, in der Tat das wahrhafte Resultat; es ist hiermit selbst ein bestimmtes und hat einen Inhalt. Der Skeptizismus, der mit der Abstraktion des Nichts oder der Leerheit endigt, kann von dieser nicht weiter fortgehen, sondern muß es erwarten, ob und was ihm etwa Neues sich darbietet, um es in denselben leeren Abgrund zu werfen. Indem dagegen das Resultat, wie es in Wahrheit ist, aufgefaßt wird, als bestimmte Negation, so ist damit unmittelbar eine neue Form entsprungen und in der Negation der Übergang gemacht, wodurch sich der Fortgang durch die vollständige Reihe der Gestalten von selbst ergibt“ (PhG, S. 74). Daraus ist deutlich erkennbar, dass die bestimmte Negation bei Hegel eben nicht mit der Kontradiktion und Kontrarietät identisch ist. Auf diesen grundlegenden Irrtum von Brandom, der sein ganzes Buch durchzieht, hat auch Koch hingewiesen: „Bestimmt ist im Fall der Umkehrung des Bewusstseins die Negation, weil die Umkehrung nicht deflationär als Einsicht in irgendein Neues und Preisgabe eines damit unverträglichen Irrtums verstanden werden darf, sondern weil die Preisgabe des alten An-sich mit dem Übergang zum neuen Für-es identisch ist“ (Koch 2021, S. 325).
- Es ist auch nicht zutreffend, dass Brandom seinen Begriff der materialen Folgerung mit Hegels Begriff der Vermittlung gleichsetzt. An der Stelle, auf die Brandom dabei hinweist, heißt es bei Hegel: „Auch nicht darum, weil die Sache, deren ich gewiß bin, nach einer Menge unterschiedener Beschaffenheiten eine reiche Beziehung an ihr selbst oder ein vielfaches Verhalten zu anderen wäre. Beides geht die Wahrheit der sinnlichen Gewißheit nichts an; weder Ich noch die Sache hat darin die Bedeutung einer mannigfaltigen Vermittlung, …“ (PhG, S. 82-83). Unter Vermittlung versteht hier Hegel, wie es aus dem Zitat klar erkennbar ist, Beziehungen von Sachen oder Personen zu anderen Sachen oder Personen, die man nicht generell als Folgerungen ansehen kann. Dazu zählt auch als eine Art der Vermittlung auch die bestimmte Negation. „Diese bestimmte Negation ist wie jede mit ihrem von ihr negierten Anderen durch Verneinung (also nicht durch Implikation) vermittelt. Verneinung ist Vermittlung und für Hegel sogar die Grundform aller Vermittlung“ (Koch 2021, S. 325).
- Es ist nicht erkennbar, woraus Brandom schließt, dass Hegel eine „radikal neue, nichtpsychologischen Vorstellung vom Begrifflichen“ vorgeschlagen hat.
- Brandom gibt selbst zu, dass Hegel die dargestellte Theorie zu Begriffen gar nicht in der Einleitung erarbeitet hat. Dies macht seine Ausführung umso fraglicher.
- Aus den zitierten Ausführungen von Brandom lassen sich folgende Denkweisen von ihm rekonstruieren, die mit zahlreichen Problemen verbunden sind.
- Von den vielfältigen mentalen Zuständen und Prozessen betrachtet er nur Gedanken als Akte des Denkens und Überzeugungen.
Damit lässt er die Mehrzahl der Zustände und Prozesse wie etwa Wissen i.m.S. oder Gefühle außer Betracht. - Seine Begriffsbildungen „begrifflicher Inhalt“ und „begriffliche gehaltvoll“ bedeuten, dass etwas bestimmt ist durch Beziehungen materialer Unvereinbarkeit und Folgerung. Dies wendet er nicht nur auf Begriffe an, sondern auch auf mentale Objekte wie Gedanken und Überzeugungen und nichtmentale Objekte wie physikalische Gegenstände und entäußertes Mentales. Unvereinbarkeit bedeutet gegenseitiges Ausschließen, die Bedeutung des Adjektivs „material“ im Sinne von „das Inhaltliche betreffend“ bleibt unklar. Folgerung heißt, dass es implikative Beziehungen zwischen den Objekten gibt.
Die Vielfalt der Beziehungen zwischen mentalen und auch nichtmentalen Objekten lässt sich nicht auf diese beiden Aspekte reduzieren. Gerade Hegel geht es um ganz andere Qualitäten diese Beziehungen, aber auch schon einfache begriffliche Beziehungen wie die des nichtleeren Durchschnitts von Begriffsumfängen und wie bei „Metalle“ und „elektrische Leiter“ werden nicht erfasst. - Eine psychologische Theorie des Begrifflichen nach Brandom betrachtet Begriffe als Einzeldinge, als Eigenschaften psychologische Zustände oder als Akte des Denkens, während eine nichtpsychologische Theorie nach Brandom Beziehungen materialer Unvereinbarkeit und Folgerung zwischen den Begriffen beinhaltet.
Brandom bleibt damit auf der äußeren Seite der sprachlichen Erscheinungen stehen. Er kann sich in seinem Denken nicht in das Gehirn eines Menschen, in seine Struktur des Gedächtnisses und andere mentale Objekten Prozesse versetzen. Es ist gerade ein Anliegen Hegels, die wechselseitigen Beziehungen von Begriffen im Bewusstsein, also in der mentalen Struktur eines Menschen zu analysieren. - Nichtpsychologisch sind für Brandom auch normative Aspekte von Begriffen. Aus den Beziehungen von Begriffen ergeben sich Verpflichtungen für das Handeln von Menschen. Verpflichtungen sind Normen des Verhaltens, die bei Nichteinhaltung zu negativen Konsequenzen führen können.
Auch hier zeigt sich wieder, dass Brandom nicht in der Lage ist, die mentalen Vorgänge in Menschen zu erfassen und bei äußeren Merkmalen stehen bleibt. Die Kenntnisse (das Wissen i.m.S.), die ein Mensch zu Kupfer und seiner elektrischen Leitfähigkeit hat, sind Grundlage seiner Handlungen. Jede willentliche Handlung eines Menschen ist durch ein System innere Zustände bedingt, dass in der Psychologie und der Hirnforschung untersucht wird. Normen existieren sowohl außerhalb des Menschen als auch innerhalb, durch Verinnerlichung entstanden.
- Von den vielfältigen mentalen Zuständen und Prozessen betrachtet er nur Gedanken als Akte des Denkens und Überzeugungen.
Auch die darauf folgenden Kommentare von Brandom zur Einleitung zeigen in mehreren Fällen, dass mit seiner Denkweise die Ideen von Hegel nicht erfasst werden können. So ist er der Meinung, dass der folgende Text von Hegel logisch nicht gerechtfertigt ist. „… denn das vorhandene Wissen war wesentlich ein Wissen von dem Gegenstande; mit dem Wissen wird auch er ein anderer, denn er gehörte wesentlich diesem Wissen an“ (PhG, S. 78). Brandom interpretiert die Gedanken von Hegel so, dass sich mit neuem Wissen über den Gegenstand auch der Gegenstand in Wirklichkeit ändern würde. Er erfasst nicht, dass es Hegel in dem Zusammenhang um die Verinnerlichung des Gegenstandes geht. Das zeigt sich dann auch in seiner umfangreichen Interpretation des Textes, die zu dem Schluss führt, dass Hegel tatsächlich einen neuen Gegenstand meint, dem der begriffliche Status verliehen wird (S. 148-176).
Brandom setzt sich ausführlich mit der Sinnlichen Gewissheit auseinander (S. 184-221). Dabei ist mit seinem „exegetischen Instrumentarium“ der Gedankenführung von Hegel „nicht beizukommen“ (Koch 2021, S. 326). „Die sinnliche Gewissheit kann weder Indikatoren noch Anaphora mit Sinn versehen, da sie mit ihren reinen Indikatoren gar keine Einzelnen, etwa diesen Baum, in ihr „Denken“ einzuführen vermag, auf die sie sich anschließend anaphorisch, im Fall eines Baumes mittels des Pronomens „er“, erneut beziehen könnte. Brandom überinterpretiert die sinnliche Gewissheit, so scheint mir, weil er aus Sellars’ pragmatistischer Perspektive die Wichtigkeit des Normativen für Kant und Hegel überschätzt“ (Koch 2021, S. 326–327).
Zusammenfassende Einschätzung
Das Buch von Brandom hat grundlegende Mängel, die für mich eine weitere Verwendung bei der Analyse von Literatur zur Phänomenologie ausschließen. Es seien nur die wichtigsten Gründe genannt.
Hegel wird eine Sprache untergeschoben, die er nicht spricht. Damit sind Aussagen, die Gedanken von Hegel betreffen, nicht direkt verwendbar. Sie müssten selbst erst auf dem Hintergrund der Theorie der inferentiellen Semantik interpretiert werden.
Brandom bewegt sich nur auf den Bahnen sprachanalytischer Betrachtungen. In mehreren Beispielen habe ich gezeigt, dass er damit nicht in der Lage ist, den Reichtum der philosophischen Gedanken von Hegel zu erfassen. Er bewegt sich mit seinen Überlegungen auf der Ebene der äußeren Erscheinungen, insbesondere der sprachlichen Äußerungen von Menschen.
Auf den 1196 Seiten geht Brandom nicht auf die sonstige sehr umfangreiche Literatur zur Interpretation der Phänomenologie des Geistes ein. Dies zeugt von wissenschaftlicher Arroganz und Selbstüberschätzung.
Literaturverzeichnis
Brandom, Robert (2019): A spirit of trust. A reading of Hegel’s Phenomenology. Cambridge, Massachusetts, London, England: The Belknap Press of Harvard University Press. Online verfügbar unter https://www.degruyter.com/isbn/9780674239067.
Brandom, Robert (2021): Im Geiste des Vertrauens. Eine Lektüre der „Phänomenologie des Geistes“. Erste Auflage. Berlin: Suhrkamp.
DeVries, Willem A. (2021): Hegel Today. Hg. v. Aeon Media Group Ltd. Online verfügbar unter https://aeon.co/essays/how-the-anglophone-world-is-rediscovering-hegels-philosophy, zuletzt geprüft am 08.01.2023.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Phänomenologie des Geistes. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3. 1. bis 10. Tausend. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Theorie Werkausgabe).
Koch, Anton Friedrich (2021): Hegel zum 250sten. Neues aus der Forschung. In: Philosophische Rundschau 68 (4), S. 317–366. Online verfügbar unter https://www.uni-heidelberg.de/md/philsem/texte/koch_rez_hegeliana__text_2021_neu.pdf.
Müller, Ernst; Schmieder, Falko (2019): Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium. 2. Auflage, Originalausgabe. Berlin: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 2117).
Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried; Gabriel, Gottfried (Hg.) (2007): Historisches Wörterbuch der Philosophie. 13 Bände. Basel: Schwabe.
Stekeler-Weithofer, Pirmin (2014a): Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar. Band 1: Gewissheit und Vernunft. Hamburg: Meiner (Philosophische Bibliothek, Bd. 660a).
Stekeler-Weithofer, Pirmin (2014b): Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar. Band 2: Geist und Religion: Meiner. Online verfügbar unter http://www.meiner.de.