Hans-Dieter Sill, 06.02.2023

Zitate und Gedanken zu Becker (1971): Hegels „Phänomenologie des Geistes“  – eine Interpretation

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Vorbemerkungen

Zur Zitierweise

Alle Texte mit linkem Einzug außer den Aufzählungen sind Zitate. Alle Seitenangaben bei den Zitaten ohne weiteren Quellennachweis beziehen sich auf Becker (1971).

Phänomenologie steht für „Phänomenologie des Geistes“, Hegel (1970). Bei Zitaten aus der Phänomenologie wird das Kürzel PhG verwendet. Die rekursiven Kapitelüberschriften stehen für die entsprechenden Kapitel in der Phänomenologie.

Generelles zur Publikation

Der Autor stellt in seiner Einleitung aus seiner Sicht die „Grundzüge der gegenwärtigen Hegel-Rezeption“ dar. Auf elf Seiten stellt er die Hegel Rezeption der letzten 140 Jahre vor. Er urteilt dabei über zahlreiche Autoren wie J. E. Erdmann, K. Fischer, A. Trendelenburg, L. Feuerbach, K. Marx, W. I. Lenin, W. Windelband, G. Lukács, R. Kroner, Th. Hering, H. Glockner, Th. Litt, M. Horkheimer, Th. Adorno, E. Bloch, H. G. Gadamer, J. Habermas, H. Marcuse und R. Garaudy meist in pauschaler und oft abwertender Weise. Er gibt, wie in seiner gesamten Schrift, keinerlei Literaturquellen an und belegt seine Behauptungen dementsprechend auch nicht mit Zitaten aus den Schriften der genannten Autoren. Dies ist für eine wissenschaftliche Publikation äußerst ungewöhnlich und außerhalb der wissenschaftlichen Normen. Möglicherweise orientiert er sich in anmaßender Weise an der Phänomenologie, die ebenfalls keine Literaturangaben enthält.

So behauptet er zum Beispiel:

  • „Seit den großen Hegel-Darstellungen von J. E. Erdmann und K. Fischer besitzt jedoch die philosophisch-hermeneutische Sinnerklärung der philosophischen Texte Hegels eindeutig das Übergewicht. … Sieht man von den Ansätzen ab, die mit Bezug auf Hegels Großer Logik bei A. Trendelenburg zu finden sind, so hat der logisch-systematischen Zugang zu Hegel kaum eine Rolle gespielt“ (S. 7)
  • „Von dieser Tradition [des Linkshegelianismus, „die wesentlich durch L. Feuerbach und K. festgelegt wurde“] war jedoch in Hinsicht auf die sachlich systematische Analyse der hegelschen Texte wenig zu erwarten, … Man braucht nicht sehr viele Zeilen von Feuerbach zu lesen, um zu merken, dass bereits dieser mit einer eigenständigen philosophischen Sachproblematik, … nichts Sinnvolles mehr zu verbinden vermochte“ (S. 8).
  • „Die Beschäftigung mit der Philosophie Hegels hat in der Gegenwart – im Neomarxismus wie in der Hermeneutik – den Stellenwert einer Alibifunktion hinsichtlich des jeweiligen philosophischen Selbstverständnisses. Das erklärt, warum die ausschließlich sachorientierten Analysen der hegelschen Texte in der Minderzahl sind. … Ein eklatanter Mangel an objektiver und eindringlicher Textanalyse der Hegelschen Werke herrscht … im Umkreis des marxistischen Linkshegelianismus. … Die Frankfurter Schule hat sich ihr Hegel Bild ebenfalls auf einem recht textfernen Abstraktionsniveau erstellt. Weder bei Horkheimer noch bei Adorno findet man … eine sachorientierte und genaue Analyse hegelscher Texte.

Becker stellt insgesamt ein „Defizit an Analysen” fest, „die Hegels dialektische Thesen an den zu ihnen gehörenden philosophischen oder wissenschaftlichen Sachproblemen messen” (S. 7). Es ist seine Absicht, sich generell von einer geistesgeschichtlichen Interpretation und einer hermeneutisch-philosophiehistorischen Relativierung zu distanzieren. Es besteht für ihn „nach wie vor das Gebot, eine anhand der systematischen Hauptschriften sich vollziehende sachlich-systematische Auseinandersetzung mit Hegel zu führen – und sei es nur, um beurteilen zu können, was Hegel z. B. in der ‚Phänomenologie des Geistes‘ nun wirklich ausgeführt hat. Aus manchen der vorliegenden Globalcharakterisierungen lässt sich nämlich kaum noch eine Verbindung zu dem herstellen, was in Hegels Texten faktisch steht. “ (S. 17).

Der Grundgedanke von Beckers Ansatz zur Interpretation der Phänomenologie besteht offensichtlich darin, eine sachliche Auseinandersetzung mit Hegel zu führen, das Adjektiv „sachlich“ wird von ihm in seiner Einleitung permanent verwendet. Es gelingt Becker aber nicht, in der Einleitung zu erklären, was er genau unter sachlicher Auseinandersetzung versteht. Im alltäglichen Sprachgebrauch hat das Adjektiv „sachlich“ nach dem DWDS folgende Bedeutungen:

  1. eine bestimmte Sache, Angelegenheit betreffend, sachbezogen
  2. nicht von Gefühlen und persönlichen Interessen beeinflusst, objektiv
  3. ohne schmückendes, das Gefühl ansprechendes Beiwerk, wenig Behaglichkeit verbreitend, nüchtern

Die Häufigkeit der Verwendung des Wortes „sachlich“ in der Alltagssprache hat in den letzten Jahrzehnten erheblich abgenommen. Während die Frequenz (pro 1 Mill. Tokens) von „sachlich“ 1965 noch 37,9 betrug, sank sie 1970 auf 29,5 und beträgt 1922 nur noch 9,1, also etwa ein Viertel der Häufigkeit von 1965. Was das für die Alltagssprache heißt, wird deutlich, wenn man die Wörter mit den engsten Beziehungen (Kollokationen mit den höchsten logDice-Werten) betrachtet: Argument, Diskussion, rechtfertigen, Auseinandersetzung, Grund und „unsachlich“ als das Negat von „sachlich“. Es ist ein erschreckender Hinweis auf die Art der gegenwärtigen Diskussionen und Auseinandersetzungen. Eine größere Sachlichkeit, wie sie von Becker angestrebt wird, ist also heute noch mehr berechtigt als zu seiner Zeit.

Was Becker unter „Sache“ versteht, wird aus der Einleitung nicht klar. Unter „sachlich“ könnte er eine Interpretation verstehen, die frei ist von eigenen philosophischen, politischen, religiösen, moralischen, begrifflichen oder sonstigen Auffassungen. Das mag durchaus als eine gewisse Orientierung gelten, scheint mir aber in der reinen Form eine Illusion zu sein. Jeder Wissenschaftler hat einen eigenen theoretischen Hintergrund, von dem aus er ein Text beurteilt. Für wichtiger halte ich vielmehr, dass der Interpret seine theoretischen Positionen möglichst klar artikuliert.

Ein Mangel der Arbeit ist die fehlende typografische Hervorhebung der sehr umfangreichen Zitate von Hegel aus der Phänomenologie.

Bezüge zu anderen Interpretationen

Wie schon erwähnt, gibt es kein Literaturverzeichnis, keine Anmerkungen und auch im laufenden Text keine konkreten Bezüge oder gar Auseinandersetzungen mit bisherigen Interpretationen.

Rezeption der Arbeit

In den 23 auf die Arbeit von Becker folgenden, in meiner Analyse ausgewerteten Publikationen zur Interpretation der Sinnlichen Gewissheit wird in 7 auf seine Arbeit verwiesen. Nur Kettner (1990) setzt sich auf fünf Seiten mit den Auffassungen von Becker zur sinnlichen Gewissheit auseinander.

Nach Google-Scholar wird die Arbeit in 29 Quellen zitiert.

Zitate und Gedanken

Die folgenden Zitate und Gedanken beziehen sich nur auf die sinnliche Gewissheit.

Becker beginnt mit einem Zitat aus der Vorrede, in dem Hegel sich zum „königlichen Weg zur Wissenschaft“ äußert und schreibt: „Wahre Gedanken und wissenschaftliche Einsicht ist nur in der Arbeit des Begriffs zu gewinnen“ (PhG, S. 65). Darauf bezugnehmend schreibt Becker:

Damit gibt Hegel den Leitgedanken seines Philosophieverständnisses an: nicht auf die abstrakten Resultate philosophischer Erörterungen, nicht auf deren Resümees kommt es an, sondern auf die Entwicklung der konkreten Argumentationen, die zu bestimmten Resultaten führt. Aus eben diesem Grund nehme ich ‚Vorrede‘ und ‚Einleitung‘ in die ‚Phänomenologie des Geistes‘ von meiner Interpretation aus.

Klaus Hartmann äußert in seiner Rezension zu dem Buch von Becker (Hartmann 1973) seine Verwunderung über die Nichtbehandlung der Vorrede und Einleitung, „… handelt es sich bei der Phänomenologie doch um ein Werk, das das Wissen des Philosophen vom thematischen Bewußtsein unterscheidet, so daß Vorrede und Einleitung eben nicht Resümee sind, sondern Erklärung des philosophischen Standpunkts, der die Deutung des thematischen Bewußtseins leitet“ (Hartmann 1973, S. 197).  Dieser grundlegenden Kritik des Rezensenten kann nur zugestimmt werden. Hegel erläutert in der Vorrede und der Einleitung umfassend und aus mehreren Gesichtspunkten sein Anliegen, also die Sache, um die es ihm in der Phänomenologie geht. Für eine sachliche Erörterung der folgenden Kapitel wäre also eine Auseinandersetzung mit Vorrede und Einleitung erforderlich.

Diese Kritik betrifft auch andere Publikationen. So beschäftigen sich Kettner (1990) und Bowman (2003) in ihren Monographien ebenfalls nur mit dem Kapitel zur sinnlichen Gewissheit, ohne die Vorrede und Einleitung eingehender zu analysieren.

Aus diesem Zitat [PhG, S. 82, 2. Abs.] geht dreierlei hervor: 1. Hegel behandelt unter dem Titel ‚sinnliche Gewissheit‘ in der Tat das vermittelst der Sinne sich auf empirisch gegebene Gegenstände richtende Bewusstsein. 2. Er beansprucht – das gilt für sein Theorieverständnis überhaupt –, dass seine Theorie eine Selbstdarstellung der ‚sinnlichen Gewissheit‘ gibt; das nicht etwa nur eine vergleichsweise subjektive Theorie über die sinnliche Gewissheit vorgelegt werden soll, die, eben weil sie eine ‚Theorie über …‘ wäre, ihren Sachverhalt als etwas Äußerliches behandeln müsste. … [Zitat PhG. S. 82, 1. Abs.] 3. Folglich muss das, was Hegel in jenem zuerst wiedergegebenen Zitat über die Erscheinungsweise der ‚sinnlichen Gewissheit‘ sagt, zum Sachgehalt der ‚sinnlichen Gewissheit‘ selber gehören (S. 20).

Hegel beginnt die ‚Phänomenologie des Geistes‘ nicht nur deshalb mit der ‚sinnlichen Gewissheit‘, weil diese das vergleichsweise niederste und unmittelbarste Erkenntnisvermögen darstellt. Er hat daneben noch die durch seinen Begriff von philosophischer Systematik motivierte Absicht, die erste = unmittelbarste Stufe im Entwicklungsgang des ‚Geistes‘ zum ‚absoluten Wissen‘ hin darzustellen (S. 21).

Gedanken:

  • Eine bestimmte sinnliche Gewissheit ist Bestandteil des Mentalen eines bestimmten Menschen. Die sinnliche Gewissheit ist kein Subjekt, kann sich also nicht selbst darstellen. Becker meint offensichtlich, dass man sich bei der Interpretation möglichst eng an die Merkmale dieser mentalen Struktur anlehnen und keine abgehobenen Theorien über die sinnliche Gewissheit entwickeln sollte. Aber schon beim Sprechen über die sinnliche Gewissheit ist man auf einer Metaebene.
  • Er ordnet die Ausführungen von Hegel zur sinnlichen Gewissheit in zutreffender Weise als Betrachtungen zu einer ersten Phase eines Erkenntnisprozesses ein.

Ebenso kann man verstehen, was es heißt, dieses Bewusstsein sei „als Beziehung unmittelbar reine Beziehung“, denn es muss in der Tat als eine unmittelbare Beziehung auf seine Gegenstände interpretiert werden. Hegels Behauptung aber, die ‚sinnliche Gewissheit‘ sei allein beim ‚reinen Sein der Sache‘, bleibt als Interpretation des Selbstverständnisses einer solchen ‚sinnlichen Gewissheit‘ durchaus unklar. Es bieten sich zwei Interpretationsmöglichkeiten an: einmal kann man ‚Sein der Sache‘ im Sinne von ‚Existenz der Sache‘ lesen, zum anderen kann man es als den Terminus für die absolut individuelle Bestimmtheit einer ‚Sache‘ nehmen. … Was die erste Möglichkeit anbelangt, so ist sie abzulehnen, denn es widerspricht der Bedeutung des Terminus ‚Existenz‘, wenn er in Relation zur Wahrnehmung gesetzt wird. Zwar ist in der sinnhaften Vergewisserung von Gegenständen die Existenz notwendigerweise mitgemeintes Moment. Gleichwohl bezeichnet der Ausdruck ‚Existenz‘ die Seite der prinzipiellen Subjektunabhängigkeit der wahrgenommenen Gegenstände: wird von diesen ‚Existenz‘ ausgesagt, dann heißt das, dass ihr Sein in gar keiner wesentlichen Beziehung auf ein wahrnehmendes bzw. erkennendes Subjekt steht. (S. 22-23).

Gedanken:

  • Es bleibt unverständlich, warum Becker die Formulierung „das Sein der Sache“ derart ausführlich diskutiert und infrage stellt. Die Formulierung stammt aus dem folgenden Zitat: „Sie [die sinnliche Gewissheit] sagt von dem, was sie weiß, nur dies aus: es ist; und ihre Wahrheit enthält allein das Sein der Sache; …“ (PhG, S. 82). Die hervorgehobenen Wörter „ist“ und „Sein“ lassen klar erkennen, dass es um die reine Existenz der Sache geht. Der Argumentation von Becker gegen das Wort „Existenz“ kann nicht gefolgt werden. Die subjektunabhängige Existenz einer Sache ist wiederum selbst unabhängig davon, ob sie wahrgenommen wird.

Becker argumentiert dann wiederum sehr ausführlich gegen die zweite Interpretationsmöglichkeiten und stellt zusammenfassend fest:

Wenn nun die beiden vorgeschlagenen Interpretationsmöglichkeiten den Sinn des Terminus ‚Sein der Sache‘ nicht erhellen, was bedeutet er dann? Ich behaupte: sachlich lässt er sich überhaupt nicht rechtfertigen, denn er ist in Wahrheit das Ergebnis einer philosophischen Konstruktion.
Die Dialektik, in welche die ‚sinnliche Gewissheit‘ geraten soll, kommt in Wirklichkeit dadurch zustande, dass Hegel generell den sprachlichen Ausdruck zum Kriterium des ganzen Sachgehalts der ‚sinnlichen Gewissheit‘ macht. Das hat zur Folge, dass sowohl die Bestimmtheit überhaupt als auch die Individuiertheit der Gegenstände der ‚sinnlichen Gewissheit‘ alleine in ihrer subjektiv-sprachlichen Reproduzierbarkeit gemessen werden: wie die Bestimmtheit des Gegenstandes in der Sprache erscheint, so soll sie ihm auch in seiner sprach- und subjektunabhängigen Existenz zukommen. … Wie soll ich meinen Sehen dieses Hauses in eine sprachlich adäquate Form umsetzen – und zwar dergestalt, dass sowohl die unmittelbare Beziehung auf den Gegenstand, die dem Sehakt eignet, ausgedrückt wird, als auch die dem Gegenstand zukommende Individuiertheit? Stünde mit dieser Frage nicht eine philosophische Intention Hegels zur Diskussion, dann wäre sie leicht zu beantworten. Man müsste nämlich sagen, dass Sehen, Fühlen, Hören usw. eben andere Vermögen des Menschen als das Sprechen sind; dass es demzufolge sinnlos sei zu fordern, man solle Sehen und Gesehenes in Sprache transformieren. (S. 24-25).

Was immer ich auch sprachlich als Ausdruck des Geschehens anführen: es erreicht nie die unmittelbare Gewissheit des Sehaktes selber. Die Sprache bleibt entweder auf allgemeine Bestimmungen angewiesen, die von vielem Gleichartigem gelten, oder sie bietet Ausdrücke an, welche gerade wegen ihrer auf äußere Spezifikationen hinweisenden Bedeutung als Ausdrücke uns spezifisch allgemein sind. Dies gilt vor allem dann, wenn man mit Hegel den Versuch macht, die Individuiertheit eines sinnhaft wahrgenommenen Gegenstandes mittels des gestisch-deiktischen Wortes ‚dieses‘ aufzuzeigen. Von dessen unspezifischer Inhaltslosigkeit lässt sich jedoch nur reden, wenn man ausschließlich an seine sprachliche Gestalt denkt. Man unterschlägt dabei, dass man diesen Ausdruck sinnvollerweise nur gebraucht, sofern der damit bezeichnete Gegenstand dem Angesprochenen in seiner ganzen Bestimmtheit im genauen Sinn des Wortes ‚vor Augen steht‘. Gemäß jener hegelschen Unterstellung aber soll der gesehene Gegenstand gerade nur das sein, als was er in der Sphäre seiner sprachlichen Reproduktion erscheint: von seiner gesehenen Individuiertheit bleibt folglich der als Wort völlig unspezifisch allgemeine Terminus ‚dieses‘ zurück.
Mit dem Postulat der sprachlichen Reproduktion der sinnlichen Gewissheit verbindet sich eine folgenschwere Verwechslung: durch Hegels Forderung, die ja zur Selbstdarstellung der ‚sinnlichen Gewissheit‘ gehörend begriffen wird, kommt die sprachliche Artikulation, in der die Unmittelbarkeit der sinnlichen Hinbeziehung auf den je individuell bestimmten Gegenstand ausgedrückt werden soll, selber in den Rang des ‚Gegenstandes‘ der ‚sinnlichen Gewissheit‘ (S. 25).

Warum aber verschwindet mit der Reduktion der ‚sinnlichen Gewissheit‘ auf ihre sprachliche Reproduktion auch jegliche Bestimmtheit eines wahrgenommenen Gegenstandes? Die Frage lässt sich nur durch die Bezugnahme auf das Sprachlichkeitspostulat allein noch nicht klären. Sie wird erst durch eine weitere Prämisse beantwortet, die Hegel ebenfalls unlegitimiert für die Selbstdarstellung der sinnlichen Gewissheit in Ansatz bringt. Diese Prämisse beinhaltet die Übernahme der idealistischen Generalsthese, derzufolge jede Bestimmtheit eines existierenden Gegenstandes bzw. eines objektiven Sachverhalts durch Subjektivität produziert ist, d. h. durch subjektive Begriffe zustande kommt. … Beides: Sprachlichkeit und Idealismusthese ziehe ich von jetzt an im Ausdruck ‚Idealismus der Sprache‘ zusammen (S. 26).

Gedanken:

  • Im Ergebnis seiner an der ‚Sache‘ orientierten Überlegungen hält Becker die Betrachtungen von Hegel in dem Kapitel zur sinnlichen Gewissheit für eine reine philosophische Konstruktion ohne Bezug zur Realität. Grundlage seiner Auffassung ist die nach seiner Ansicht nicht vorhandene Möglichkeit, die von Hegel als sinnliche Gewissheit bezeichneten mentalen Zustände adäquat sprachlich alleine mit deiktischen Ausdrücken zu formulieren.
  • Bei einer wörtlichen Auffassung des Hegelschen Textes, was Becker wahrscheinlich unter einer sachbezogenen Herangehensweise versteht, ist seine Kritik durchaus verständlich. Zum einen unterstellt er Hegel damit, dass dieser nicht in der Lage war, die von Becker angegebenen trivialen Gegenargumente zu erfassen. Zum anderen bringt er ein Anliegen von Hegel selber zum Ausdruck, nämlich, dass Sprache nicht geeignet ist das auszudrücken, was man eigentlich meint.
  • Wie viele andere Interpreten ist Becker trotz seiner scharfsinnigen Überlegungen nicht in der Lage, das von Hegel Gemeinte zu erfassen. Die Ursache dafür liegt zum großen Teil bei Hegel selbst, der es nicht verstanden hat, sein eigentliches Anliegen in verständlicher Weise zum Ausdruck zu bringen. Die von ihm gewählte Form der Überspitzung ist dafür offensichtlich nicht geeignet.
  • Die von Hegel gemeinte Unbestimmtheit der sinnlichen Gewissheit bezieht sich auf Zeit-, Orts- und Personenangaben. Seine Formulierung „es ist“ bedeutet in diesen Fällen z. B.:
    • Das ist passiert.
    • Es existiert so ein konkretes Objekt.
    • Diese Person hat es gesagt.
  • Der von Becker als Ausweg aus dem von ihm konstruierten Dilemma gedachte Vorschlag eines „Sprachlichkeitspostulates“ ist abwegig. Es ist eine Fehldeutung, wenn man Hegel unterstellt, dass er den „sprachlichen Ausdruck zum Kriterium des ganzen Sachgehalt der sinnlichen Gewissheit macht“ (Becker 1971, S. 24). Kettner (1990) hat dies aus seiner sprachanalytischen und diskurstheoretischen Sicht ausführlich begründet. Es trifft nicht zu, dass Hegel in seinen „Gedankenexperimenten“, gemeint sind von Kettner die Beispiele „Das Hier ist der Baum“ usw., auf die inhaltsleere und sprachliche Unbestimmtheit des Ausdrucks ‚dieses‘ reflektiert (Kettner 1990, S. 81).
  • Die von Becker so bezeichnete „idealistische Generalsthese“ Hegels bleibt auch nach Auffassung von Kettner unverständlich, Becker ist nicht in der Lage, sie zu erklären.

Worauf begründet Hegel den Wahrheitsanspruch der Aussage ‚Jetzt ist Nacht‘? Einzig und allein darauf, dass die Aussage als sprachlicher Satz aufgeschrieben wird. Nur wenn dieser Anspruch erhoben wird, hat es einen Sinn, ihn am neu eingetretenen Sachverhalt, im ‚Mittag-Sein‘ zu messen. Es muss nicht herausgestellt werden, dass diese Auffassung sinnlos ist. Gleichwohl ist sie der konsequente Ausdruck des von Hegel in Ansatz gebrachten ‚Idealismus der Sprache‘. Der Widerspruch, in den eine Aussage von der Art ‚Jetzt ist Nacht‘ geraten soll, ergibt sich nämlich nur durch den konstruierten Konflikt zwischen dem ursprünglichen Aussagesinn und seiner Reduktion auf die sprachliche Formulierung. … So erklärt sich, dass der Bestimmungsgegenstand des Satzes ‚Jetzt ist Nacht‘ bei ihm nicht die den Sinn der Aussage erfüllende Zeitspanne ist, sondern das an der Stelle des Satzsubjektes stehende ‚Jetzt‘. Auf diese Weise kommt er dazu, von dem ‚Diesen‘, dem ‚Jetzt‘, dem ‚Hier‘ als von substantivischen Satzsubjekten zu sprechen (S. 28).

Hegel tut so, als sei das Wort ‚Jetzt‘ auch noch im Sinn eines Seienden zu verstehen. Dabei kann er aber aufgrund der stillschweigend gemachten Voraussetzungen nur noch meinen, dass der sprachliche Ausdruck ‚Jetzt‘ selber bereits das ‚Seiende‘ ist, dass durch die Prädikatsbestimmungen wie ‚Nacht‘, ‚Mittag‘ oder ‚Tag‘ bestimmt wird. …

Zwar macht Hegel auf diese Weise die Sprache durch eine sinnlose Konstruktion zum Wahrheitskriterium. Gleichwohl stellt die Art, wie er sprachlich-grammatikalische Zuordnungen trifft, eine offensichtliche Vergewaltigung sprachliche Prinzipien dar. In Wirklichkeit repräsentieren die Sätze ‚Jetzt ist Nacht‘ und ‚Jetzt ist Mittag‘ nichts weiter als Existenzialurteile von der Art ‚Es ist Nacht‘ und ‚Es ist Mittag‘, … Grammatikalisch abwegig wäre es, den Ausdruck ‚Nacht‘ als das Prädikatswort zu deuten, durch welches das zum Subjektswort uminterpretierte ‚Jetzt‘ bestimmt würde. … Das ist aber grammatikalischer Nonsens, weil der Ausdruck ‚Nacht‘ natürlich als Subjektswort zu nehmen ist, ‚jetzt‘ als adverbiale Zeitbestimmung und ‚ist‘ als Prädikat (S. 28).

Es ist klar, wie sich dieses Resultat ergibt: sowohl mit Bezug auf den generellen Sachgehalt der ‚sinnlichen Gewissheit‘, der zunächst ja nichts anderes als derjenige der Wahrnehmung ist, als auch mit Bezug auf die herangezogenen Beispielsfälle geht Hegel zuerst immer vom normalen Selbstverständnis aus. Dieses Selbstverständnis misst er in einem zweiten Schritt an dem, was ich seinen ‚Idealismus der Sprache‘ nenne. So kommt sowohl das Resultat zustande, dass die sinnhafte Wahrnehmung generell ein unbestimmtes ‚Sein der Sache‘ zum Gegenstand hat, als auch das andere, wonach der Gebrauch des Zeitwortes ‚Jetzt‘ nicht eine definierte Zeitspanne meint, sondern sich selbst als den im Verfließen solche Zeitspannen sich erhaltenden identischen sprachlichen Ausdruck (S. 29).

Gedanken:

  • Becker bleibt bis zum Schluss seiner Interpretation des Kapitels zur sinnlichen Gewissheit bei der ständig wiederholenden Erörterung seiner Auffassung, dass ein geäußerter Satz der Gegenstand der sinnlichen Gewissheit ist.
  • Er unterstellt Hegel in drastischer Weise, dass dieser sprachliche Prinzipien vergewaltigt hat und grammatikalischen Nonsens schreibt. Man kann wohl eher davon ausgehen, dass Hegel im Unterschied zu Becker weiß, was er schreibt. So meint Hegel natürlich mit seiner Formulierung „Das Jetzt ist die Nacht.“ nicht die Aussage: „Jetzt ist Nacht.“, was ihm Becker ständig unterstellt.

Zusammenfassende Einschätzungen

Die mit einem großen Anspruch vorgetragene Hegelinterpretation von Becker als eine erstmalig sachliche Herangehensweise erweist sich zumindest in Bezug auf die Interpretation der sinnlichen Gewissheit als eine völlige Fehlinterpretation. Die abwegige Interpretation von Hegel, dass er in idealistischer Weise die sprachliche Äußerung einer sinnlichen Gewissheit als den Gegenstand der Reflexion ansieht, ist nicht nachvollziehbar.

Weiterhin ist festzustellen:

  • Andere Literatur zu Interpretation der sinnlichen Gewissheit werden von Becker weder diskutiert noch zitiert.
  • Er verwendet nur die von Hegel in seinem Text enthaltenen Beispiele.
  • Begriffe von Hegel werden nicht kritisch diskutiert.
  • Es findet kein Bezug zur Einleitung und zum Vorwort der Phänomenologie statt.

Literaturverzeichnis

Becker, Werner (1971): Hegels „Phänomenologie des Geistes“ : eine Interpretation. Stuttgart: Kohlhammer.

Bowman, Brady (2003): Sinnliche Gewißheit. Zur systematischen Vorgeschichte eines Problems des deutschen Idealismus. Berlin: Akademie Verlag (Hegel-Forschungen).

Hartmann, Klaus (1973): Review of Hegels Phänomenologie des Geistes. Eine Interpretation; Hegels Phänomenologie des Geistes. Die Bestimmung ihrer Idee in ‚Vorrede’ und ‚Einleitung’, by W. Becker & W. Marx. In: Hegel-Studien 8, S. 196–201. Online verfügbar unter http://www.jstor.org/stable/26595444, zuletzt geprüft am 13.01.2023.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Phänomenologie des Geistes. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3. 1. bis 10. Tausend. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Theorie Werkausgabe).

Kettner, Matthias (1990): Hegels „sinnliche Gewissheit“. Diskursanalytischer Kommentar. Zugl.: Frankfurt am Main, Univ., Diss. Frankfurt/Main: Campus-Verl. (Campus Forschung, 634).