Hans-Dieter Sill, 02.01.2021
Zitate und Gedanken zu Albert (2018): Die machbare Utopie. Strategien für eine Gesellschaft der Zukunft.
Generelle Gedanken und Informationen
Michael Albert stellt sich das Ziel, die Grundstrukturen einer postkapitalistischen Gesellschaft zu entwerfen und Strategien des Übergangs zu dieser Gesellschaft vorzuschlagen. Das ist ein äußerst ambitioniertes Vorgehen, was kaum ein deutscher Philosoph oder Wissenschaftler bisher in dieser konzentrierten Form in Angriff genommen hat.
Seine Vorschläge sind sehr radikal und weitgehend. So will er das Privateigentum an Produktionsmitteln abschaffen, weder Markt noch Planwirtschaft zulassen und sämtliche Bereiche der Gesellschaft umstrukturieren.
Er ist politischer Aktivist in der anarchistisch-sozialistischen Selbstverwaltungs-Bewegung, Herausgeber der Internetplattform ZNet sowie Mitherausgeber und Mitbegründer des politischen Webmagazins Z-Magazine (Z-Mag), Gründer des Verlags South End Press und Verfasser einer Vielzahl von Büchern und Artikeln. Weiter ist er Mitglied im vorläufigen Ausschuss der Internationalen Organisation für eine Partizipatorische Gesellschaft.
Sein Buch ist ein Beispiel für das Denken einer Gruppe amerikanischer Linker, die antikapitalistisch orientiert sind und eher anarchistische Ziele verfolgen. Es ist in einem sehr verständlichen und sprachlich einfachen Stil gehalten. Typischerweise für amerikanische Literatur verwendet er viele Beispiele und konkrete Gedankengänge. Häufig konstruiert er irgendeinen besonderen Fall, zum Beispiel wenn in der Familie sexistische Einstellungen vorherrsch, in der Ökonomie aber nicht und was sich dann daraus ergeben würde. Häufig gebraucht er die Begriffe Sexismus, Feminismus, Rassismus und Klassismus. Letzteres bedeutet wohl eine Anhängerschaft an der Klassenstruktur.
Seine Vorschläge haben einen außerordentlich hohen Grad an Utopie. Dies ist angesichts der extremen kapitalistischen Verhältnisse in den USA fast anachronistisch. Es ist kaum vorstellbar, dass sich diese Ideen in der Gesellschaft der USA tatsächlich durchsetzen. Er macht sich auch weiter keine Gedanken darüber, wie etwa das Privateigentum an Produktionsmitteln in den USA abgeschafft werden sollte, wie also eine Enteignung der großen amerikanischen Konzerne und überhaupt aller Betriebe möglich ist. Eine Erklärung für diesen offensichtlichen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis sehe ich in der Tatsache, dass es in den USA eine große Diversität von politischen Bewegungen gibt und die Bedingungen vorhanden sind, dass sich solche Gruppen von Menschen zusammenfinden können. So gibt es ja auch zahlreiche Sekten oder religiöse Bewegungen größeren Umfangs, wie die Anglikaner, die einen Einfluss auf weite Kreise der Bevölkerung haben.
Trotz dieser einschränkenden Bemerkungen ist es schon interessant, zu welchen Ideen und Vorschlägen kluge, linksorientierte Amerikaner in dem entsprechenden Umfeld kommen. Das Buch von Albert wird durch eine Einleitung und einen positiven Kommentar des bekannten Amerikaners Noam Chomsky hervorgehoben. Er ist der der Meinung, dass nur wenige so lange und gründlich über diese Fragen nachgedacht und gleichzeitig konstruktiv daran gearbeitet haben, die Saat der Zukunft in der Gegenwart zu legen. Nach seiner Meinung bedarf das Buch großen Respekts und einer aufmerksamen Lektüre.
Ein weiteres generelles Merkmal des Buches ist die fast völlige Abwesenheit von dialektischen Betrachtungen. Die neue Gesellschaft wird als eine ideale Ansammlung von positiven Werten aufgefasst. Das einzige Problem wäre, dass es zu einzelnen konkreten Fragen verschiedene Ansichten gibt, die dann aber auf demokratische Weise ausdiskutiert werden könnten.
Im Vorwort weist Chomsky auf zwei existenzbedrohende Krisen hin, die die Menschheit vor noch nie dagewesene Herausforderungen stellen. Die erste ist die Krise des Atomzeitalters, die mit dem 6. August 1945 begann. Er zitiert William Perry, der nicht begreifen könne, warum nicht alle ebenso entsetzt wie er über die Erkenntnis seien, dass „die Gefahr irgendeiner Form von Atomkatastrophe heute größer ist als während des kalten Krieges.“ Die zweite bedrohliche Krise ist die Umweltkrise.
Einzelne Gedanken von Albert
In einem kurzen einleitenden Abschnitt charakterisiert er drastisch die aktuellen Probleme der kapitalistischen Gesellschaft. Dazu zählt er auf:
- Milliarden Menschen leben in erbärmlichen Verhältnissen, Milliarden hungern.
- Selbst da, wo größerer Wohlstand herrscht und die Menschen ein längeres erträgliches Leben haben, gibt es wenig Würde, Lug und Betrug, Selbstüberhöhung der Herrschenden und sogar Mord als wesentliche Bestandteile eines Großteils des Alltagslebens.
- Reiche werden reicher, Arme werden ärmer.
- Es werden Bomben geworfen, Politiker erweisen den Trümmern ihre Ehre, Waffenhersteller feiern exorbitante Gewinne.
- Die Produzenten von Medikamenten, Häusern und anderen Produkten streben nach Gewinn für einige wenige auf Kosten des Wohlstandes der restlichen Gesellschaft.
- Die Erderwärmung bringt uns einer endgültigen Katastrophe immer näher.
- Jeder Mensch auf diesem Planeten, der an einer vermeidbaren Krankheit oder Hunger stirbt wurde in Wirklichkeit von der Gesellschaft ermordet.
Er stellt dann Elemente seiner Gesellschaftstheorie vor. Zentrale Begriffe sind der Begriff der Institutionen, zu denen er politische aber auch ökonomische Institutionen zählt. Weiterhin sind die Überzeugungen der Mitglieder einer Gesellschaft das sie verbindende Glied. Die Gesellschaft strukturiert er in 4 Teilsysteme: das politische System, die Wirtschaft, die Familie und die Kultur.
Er untersucht dann der einzelnen Sphären und beschäftigt sich insbesondere mit der Sphäre der Wirtschaft. Hier vertritt er die Auffassung dass es nicht nur 2 sondern 3 Klassen gibt, die Klasse der Eigentümer oder Kapitalisten, die Klasse der Arbeiter und dazwischen die Klasse der Koordinatoren. Zu der Klasse der Koordinatoren, die nach seiner Ansicht etwa 20 % der lohnabhängigen Beschäftigten umfassen, gehören Ärzte, Buchhalter, Ingenieure, Wissenschaftler und andere.
Er akzeptiert die Ansätze, die bisher im Kampf für die Interessen unterdrückter Teile der Bevölkerung gewonnen wurden, nämlich den Feminismus, den Interkommunalismus und Anarchismus.
Er zählt dann folgende Werte auf, die helfen sollen, die wichtigsten Institutionen einer wünschenswerten Gesellschaft der Zukunft zu konzipieren:
- Solidarität der Menschen untereinander
- Vielfalt von Möglichkeiten
- gerechte Verteilung
- Selbstverwaltung
- als Beziehung zur Natur: Treuhandschaft
- Internationalismus
- die eigene Rolle: Partizipation
Ausführlich geht er dann auf die wünschenswerte Organisation der Wirtschaft ein. Dabei bezieht er sich auf die wirtschaftliche Vision, die sich im Laufe der ungefähr letzten 20 Jahre entwickelt hat, die partizipatorische Ökonomie oder abgekürzt Parecon, von engl. participatory economy. Eine solche Ökonomie hat folgende Merkmale:
- Sie ist auf Solidarität und sozialverträgliches Verhalten statt auf antisozialer Gier gerichtet.
- Sie zeichnet sich durch eine enorme Vielfalt von Produkten aus, die den Geschmäckern, Vorlieben und Präferenzen der Menschen entsprechen und nicht durch den Kapitalismus auf konform mystische Muster zurechtgestutzt sind.
- Sie zeichnet sich durch eine faire Bezahlung aus. Die Entlohnung sollte sich nach dem der Mühe und dem Verzicht richten, die in die Produktion gesellschaftlich erwünschter Güter eingehen. Dabei sollte nicht berücksichtigt werden, ob jemand bessere Werkzeuge zur Verfügung hat, angeborenes Talent besitzt und durch erlernte Fähigkeiten einen größeren Output ermöglicht. So sollen etwa Ärzte nicht mehr als Arbeiter verdienen. (Dies war z. B. in der DDR der Fall und wenige hat es gestört.)
- Als Institutionen zur Verwaltung der Wirtschaft werden Arbeiter- und Konsumentenräte eingerichtet. In ihnen werden die Entscheidungen über die zu produzierenden Waren getroffen.
- Als Mittel zur Allokation von Ressourcen werden Märkte und zentrale Planung abgelehnt. Gegen Märkte werden folgende Gründe angegeben.
- Märkte würden das angedachte Entlohnungssystem zerstören, weil Märkte Output und Verhandlungsmacht belohnen und nicht Mühe und Verzicht.
- Märkte zwingen Käufer und Verkäufer dazu, billig ein- und teuer zu verkaufen, wobei sie den jeweiligen Gegenpart so weit wie möglich übervorteilen wollen. Damit würden Märkte antisoziales Verhalten statt Solidarität hervorbringen.
- Märkte streben nach der Erzeugung von Unzufriedenheit, damit Menschen ständig etwas Neues kaufen. Der Direktor des Forschungslabors von General Motors drückte des so aus, Unternehmen müssen unzufriedene Konsumenten schaffen, sie haben die Aufgabe, die organisierte Erzeugung von Unzufriedenheit vorzunehmen.
- Märkte spiegeln in den Preisen nicht alle sozialen Kosten und Nutzen wider, sondern berücksichtigen nur den Einfluss, den Arbeiten und Konsum auf die unmittelbaren Käufer und Verkäufer haben.
- Märkte produzieren hierarchische Entscheidungen statt Selbstverwaltung nicht nur aufgrund der erzeugten Vermögensunterschiede, sondern auch, weil die Marktkonkurrenz selber von Räten verwaltete Betriebe zur Kostensenkung und zum Streben nach einem möglichst großen Marktanteil zwingt.
- Selbstverwaltung im Bereich der Allokation setzt Strukturen voraus, die jeden Einfluss privater Eigentümer auf die Produktionsmittel und Ressourcen beseitigen, indem sie diese Form des Eigentums abschaffen, aber die andererseits sämtliche betroffene Parteien bei ihren Entscheidungen auf angemessene Weise konsultieren.
- Es geht um eine partizipatorische Planung, bei der Arbeiter- und Konsumentenräte im Lichte beständig aktualisiert Erkenntnis über die persönlichen, örtlichen und nationalen Implikationen der sozialen Vor- und Nachteile ihrer Vorschläge ihre Präferenzen in Bezug auf Arbeit und Konsum darlegen.
Er tritt für eine partizipatorische Politik (Parpolicy) ein. Ein solches System muss eine Gesetzgebung, eine Gerichtsbarkeit und eine kollektivgeleitete Exekutive umfassen. Auf der primären Ebene sollte jedes erwachsene Mitglied der Gesellschaft in einem Rat sein, dessen Mitglieder zwischen 25 und 50 liegen sollten. In einem gestuften System würden dann immer wieder weitere Räte mit entsprechender Größe organisiert werden. Bei einer Gesellschaft mit 19 Millionen Einwohnern während 5 Ebenen der Räte ausreichend.
Er diskutiert dann die Themen Feminismus, Interkommunalismus, partizipatorische Ökologie und Internationalismus.
Im abschließenden Kapitel unterbreitet er Vorschläge für eine Strategie zur Durchsetzung seiner Ideen. Er unterscheidet 3 Phasen des revolutionären Kampfes: die Bewusstseinsbildung, der Kampf und der Aufbau einer neuen Gesellschaft. Zu Beginn geht es darum, große Teile der Bevölkerung für die neuen Ideen aufzuschließen und Engagement zur Durchsetzung der Ideen zu erzeugen. Er geht davon aus, dass es notwendig ist, etwa 1/3 der Betroffenen dazu zu bewegen, sich ernsthaft zu engagieren, sich zu informieren und zu beteiligen. Entsprechend seiner Erfahrungen in USA geht es nicht nur darum, Leute für die neue Idee zu gewinnen, sondern sie auch vor allen Dingen bei der Stange zu halten, weil offensichtlich viele nach der ersten Bekanntschaft mit neuen Ideen (wohl auch den seinen) wieder abspringen.
Er diskutiert dann die Bedeutung von Reformen, die er teilweise für nützlich hält, die aber letzten Endes nicht zum Sieg führen.
Ein weiteres Problem ist die Beteiligung an einer Regierung, die er letztlich nicht als sinnvoll ansieht, da man in der Regierung das Bestehende unterstützen muss. Er sieht auch den Weg des Aufstandes als eine mögliche Form des revolutionären Kampfes.
Abschließende Bemerkungen
Insgesamt zeigt sich die anarchistische Grundhaltung des Autors. Es lässt sich von der Vision leiten, dass die Ablehnung alles Bestehenden, die radikale Abkehr von den aktuellen Formen der Gesellschaft der einzige Weg zu einer neuen Gesellschaft ist. Damit verkennt er völlig, dass die Masse der Leute sich nur mit revolutionären und vagen Vorstellungen nicht für einen solchen Weg begeistern wird.
Die konkreten Vorstellungen zur Gestaltung der Gesellschaft sind weitgehend utopisch, sie klammern die wirtschaftlichen Notwendigkeiten und die Besonderheiten von Menschen aus den Gedanken aus.
Ungeachtet dieser Einschränkungen sind anarchistische Gruppierungen, von denen es auch in Europa zahlreiche gibt, ein potentieller Bündnispartner für gesellschaftliche Veränderungen. Sie sehen den Kapitalismus sehr kritisch und sind bereit ihre Kraft für revolutionäre Aktionen einzusetzen. Umso bedeutsamer ist, dass es eine fundierte theoretische Basis für eine neue Form der Gesellschaft und eine realistische Strategie zum Übergang in diese Gesellschaft gibt. Das kann nur die Aufgabe bewusster, theoretisch bewanderte linker Philosophen sein.
Literaturverzeichnis
Albert, Michael (2018): Die machbare Utopie. Strategien für eine Gesellschaft der Zukunft. 1. Auflage. Münster, Westf: Unrast.
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