Hans-Dieter Sill, 21.04.2022

PDF-Datei

Zur Bestimmung grundlegender Termini

Inhalt

Bedeutungen eines Terminus in der Alltagssprache und der Philosophie

Philosophische Theorien haben naturgemäß den Anspruch, für alle anderen Wissenschaften und auch für das tägliche Leben von Menschen von Bedeutung zu sein. Dies setzt voraus, dass sie eine Sprache verwenden, die im Wesentlichen allgemein verständlich ist. Dies betrifft insbesondere die grundlegenden Termini dieser Philosophie. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten.

  1. Es werden Wörter verwendet, die bereits im Alltag oder anderen Wissenschaften eine oder mehrere Bedeutungen haben. In diesem Fall sollte darauf geachtet werden, dass die Anzahl der unterschiedlichen Bedeutungen eines Wortes möglichst gering ist bzw. dass eine der Bedeutungen deutlich dominiert. Die Bedeutung des Wortes in der Philosophie sollte dann möglichst im Kern der bisherigen dominierenden Bedeutungen entsprechen.
  2. Es werden neue Wörter oder Wortkombinationen gebildet (Neologismen) und mit den gewünschten Bedeutungen belegt. In diesem Fall sollte es keine bereits bekannten Wörter geben, die die gleiche oder eine verwandte Bedeutung haben.

Für die leichtere Anwendung der Philosophie ist der Fall A günstiger, da keine Gewöhnung an neue Termini erforderlich ist. Im Fall B müssen die neugebildeten Wörter durch möglichst häufige Verwendung in Medien und Publikationen bekannt gemacht werden, damit sie zum Allgemeingut gehören. Für den geplanten Aufbau der Neuen Philosophie wird die erste Möglichkeit verwendet.

Vermieden werden sollte, dass in der Philosophie Wörter aus der Alltagssprache mit völlig neuen Bedeutungen belegt werden. Dies ist aus meiner Sicht einer der Gründe, weshalb Hegel bei vielen Menschen auf Unverständnis stieß. Er hat dies bewusst getan und auch begründet: „Die Philosophie hat das Recht, aus der Sprache des gemeinen Lebens, welche für die Welt der Vorstellungen gemacht ist, solche Ausdrücke zu wählen, welche den Bestimmungen des Begriffs nahezukommen scheinen. Es kann nicht darum zu tun sein, für ein aus der Sprache des gemeinen Lebens gewähltes Wort zu erweisen, daß man auch im gemeinen Leben denselben Begriff damit verbinde, für welchen es die Philosophie gebraucht, denn das gemeine Leben hat keine Begriffe, sondern Vorstellungen, und es ist die Philosophie selbst, den Begriff dessen zu erkennen, was sonst bloße Vorstellung ist“ (Hegel 2003, S. 406). Die Bedeutungen zentrale Termini bei Hegel wie Begriff, Bewusstsein, Geist oder Verstand unterscheiden sich erheblich von der üblichen Verwendung im Alltag unter anderen Wissenschaften.

Minimalprinzip der Verwendung von Termini

Ein Problem in vielen Geisteswissenschaften und insbesondere auch in der Philosophie ist aus meiner Sicht die Fülle von unterschiedlichen Termini bzw. die vielen Fälle von polysemen, homonymen oder synonymen Termini. Ein Grund ist offensichtlich, dass sich jede neue philosophische Richtung von den bisherigen abgrenzen möchte, indem Wörter mit neuen Bedeutungen belegt oder auch viele Neologismen geschaffen werden.

Ein Merkmal der Neuen Philosophie ist ein terminologisches Minimalprinzip: Es sollten möglichst wenige Termini mit einem möglichst geringen Umfang verwendet werden. Dieses Prinzip war für mich eine der Grundlagen für mein Lehrbuch zur Didaktik des Mathematikunterrichts (Sill 2019).

Das Minimalprinzip knüpft an das Sparsamkeitsprinzip des englischen Philosophen Wilhelm von Ockham (1288-1347) an, das unter dem Namen „Ockhams Rasiermesser“ (Ockham’s razor) bekannt geworden ist und auch als Ökonomieprinzip bezeichnet wird. Das Prinzip besagt, die Annahme von Entitäten möglichst gering zu halten (Prechtl und Burkard 2008, S. 428) und in Aussagen unnötige Vervielfachungen zu vermeiden. Damit will Ockham verhindern, dass die Schaffung und Verwendung eines überflüssigen Begriffsinstrumentariums zur Entstehung ontologischer Vorstellungen beiträgt, die für die wissenschaftliche Erkenntnis nicht hilfreich sind (Leppin 2003, S. 63).  

Zum Vorgehen bei der Bestimmung der Termini

In der Mathematik werden die grundlegenden Termini durch ein axiomatisches Vorgehen gewonnen. Diese Grundtermini und ihre Zusammenhänge werden durch ein Axiomensystem festgelegt. Die Festlegung erfolgt also nicht durch eine Definition, in der etwa ein Oberbegriff und artspezifische Merkmale angegeben werden. Deshalb bezeichnet man die so axiomatisch festgelegten grundlegenden Termini auch als nicht definierbare Grundbegriffe. So steht zum Beispiel der Terminus „Wahrscheinlichkeit“ für alles das, was die drei Axiome von Kolmogorov erfüllt. Alle weiteren Termini werden dann auf der Basis der axiomatisch festgelegten Grundtermini definiert.

Auch in der Geschichte der Philosophie gibt es Versuche zu einem ähnlich gearteten Aufbau der Wissenschaft. Dazu gehört das Wissenschaftsmodell von Aristoteles. Er legte seinen Aussagen unbeweisbare Prinzipien zugrunde, aus denen sich alle weiteren Aussagen ableiten lassen. Auch der Cartesianismus sowie das von Hegel entworfene System der philosophischen Wissenschaften können als Versuche in diese Richtung angesehen werden.

Auch in anderen Wissenschaften gibt es Beispiele dafür, dass grundlegende Begriffe nicht definiert werden können, sondern durch ihre Verwendung in Bezug auf andere Begriffe festgelegt werden. Ein Beispiel ist der Begriff Kraft in der Mechanik.

Mir ist kein Versuch einer axiomatischen Grundlegung der Philosophie im exakten Sinne bekannt. Ich halte als Ergebnis meiner Begriffsanalysen einen axiomatischen Zugang auch bei philosophischen Grundbegriffen für sinnvoll.

Die aktuellen Begriffe in der Philosophie sind in einem längeren historischen Zeitraum entstanden. Eine Analyse ihrer Bedeutungen kann auf der Basis von philosophischen Wörterbüchern und Lexika erfolgen. Dabei werden nicht nur die möglicherweise vorhandenen Erklärungen der Termini untersucht, sondern der Gebrauch des betreffenden Terminus im gesamten Werk. Eine solche Vorgehensweise hat sich bei meinen Analysen von Grundbegriffen der Beschreibenden Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung bewährt. Grundlage sind also nicht kurze prägnante Erklärungen oder Definitionen, sondern der Gebrauch des Terminus in der Alltagssprache und der Sprache der Wissenschaft.

Zu den verwendeten Quellen bei den Wortanalysen

Zu Ermittlung der Bedeutungen der Wörter im Alltag wird das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (www.dwds.de/) verwendet (DWDS). Den Ergebnissen liegen Analysen in 27 Milliarden Belege aus historischen und gegenwartssprachlichen Textkorpora zugrunde. Um einen Eindruck von der Häufigkeit der Verwendung des Wortes im Alltag zu bekommen wird für die letzten fünf Jahre die Häufigkeit pro 1 Million Token (Frequenz) im DWDS-Zeitungskorpus angegeben. Das Korpus enthält 15 überregionale Tageszeitungen und hatte 2020 einen Umfang von 5,36 Mrd. Token.

Weiterhin werden signifikante[1] Kollokationen mit anderen Wörtern angeben. Als Assoziationsmaß wird logDice[2] verwendet. Dieser statistische Kennwert beruht auf dem Verhältnis der Häufigkeit der Kollokation zur Summe der Häufigkeiten der beiden beteiligten Wörter. Der maximale Wert ist 14, der dann erreicht wird, wenn beide Wörter immer zusammen auftreten. Bei dem Wert von 10 ist die Häufigkeit des gemeinsamen Auftretens  -tel der Summe der Häufigkeiten der beiden Wörter und bei einem Wert von 5 nur  -tel. Der Kennwert logDice ist unabhängig von der Größe des Korpus und berücksichtigt die unterschiedlichen Häufigkeiten der beiden Wörter. Dies ermöglicht eine Vergleichbarkeit der Stärke der Verbindungen.

Es werden die Kollokationen mit den höchsten logDice-Werten sowie ihre Frequenzen (in Klammern) angegeben. Die Kollokationen werden bei DWDS nach verschiedenen grammatischen Funktionen bestimmt und es wird jeweils eine Übersicht über alle Funktionen erstellt. Wenn keine grammatische Funktion angegeben ist, wurden die Daten aus der Übersicht verwendet.

Datengrundlage für die Ermittlung der Kollokationen ist das „Wortprofil 2014“. Dieses basiert auf Korpora im Umfang von etwa 1,8 Milliarden Textwörtern und enthält 11,9 Millionen verschiedene Kollokationen.

Als weiteres Wörterbuch wird in einigen Fällen Wiktionary (https://de.wiktionary.org/wiki/Wiktionary:Hauptseite) herangezogen (Wiktionary), das vor allem Fremd- und Fachwörter enthält und 124.703 Einträge umfasst (Stand: 15. Januar 2021). 

Um einen ersten Überblick zu den Verwendungen der Wörter, ihrer Geschichte und Bezüge zu anderen Inhalten in der Philosophie zu gewinnen, werden in einigen Fällen die Einträge in der Internetenzyklopädie Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Hauptseite) gesichtet (Wiki), die 2.535.573 Artikel in deutscher Sprache enthält (Stand: 13. Juli 2020).

Um die Bedeutungen der Wörter in der Philosophie genauer zu analysieren, werden die folgenden Wörterbücher und Enzyklopädien verwendet. Sie liegen auch in elektronischer Form vor, wodurch eine Suche nach den Wörtern im gesamten Text möglich ist.

  1. Ritter u. a. (2007): Historisches Wörterbuch der Philosophie, 17.144 Sp. (8.572 S.) (HWPh)
  2. Prechtl und Burkard (2008): Metzler Lexikon Philosophie, 705 S. (MLPh)
  3. Sandkühler (2010): Enzyklopädie Philosophie, 3.209 S. (EPh)

Mit den Suchfunktionen wird im Volltext (außer im Sachregister) nach den betreffenden Worten und ihren Wortformen gesucht. Es wird die Anzahl der jeweiligen Ergebnisse absolut und pro 100 Seiten (in Klammern) angegeben.

In den Zitaten aus den Fachbüchern sind die die Angaben zu den Fachbegriffen in anderen Sprachen, die Hinweise auf Abbildungen und Tabellen sowie die Literaturverweise nicht enthalten. Die Abkürzungen der Stichwörter werden ersetzt. Als Quellenangabe erfolgt nur die Seitenzahl.

Kriterien für die Auswahl von Termini

Zur Auswahl eines geeigneten Terminus werden folgende Kriterien herangezogen.

  • Es soll möglichst wenige bisherige Bedeutungen dieses Wortes geben.
  • Hat das Wort mehrere Bedeutungen, sollten sich diese nicht erheblich unterscheiden. Wenn das Wort trotzdem verwendet werden soll, soll nach Möglichkeit eine Beschränkung auf eine oder wenige Bedeutung vorgenommen werden.
  • Die verwendeten Bedeutungen sollen sich möglichst wenig von den alltagssprachlichen Bedeutungen des Wortes unterscheiden. Wenn der Terminus in der Alltagssprache sehr selten verwendet wird, sollte er aufgrund der sprachlichen Bestandteile verständlich sein.
  • Das Wort sollte keine speziellen Bedeutungen in der Theologie oder in philosophischen Theorien mit einem hohen Grad der Transzendenz haben.
  • Die geringe Frequenz eines Wortes im Alltag oder in der Philosophie ist kein generelles Ausschlusskriterium für seine Auswahl als Terminus. Bei geeigneten Alternativen sollten aber Wörter mit geringer Frequenz vermieden werden.

Literaturverzeichnis

  • Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (2003): Wissenschaft der Logik, Bd. 2. In: Georg W. Hegel: Werke. In 20 Bänden und 1 Registerband, Bd. 6. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Leppin, Volker (2003): Wilhelm von Ockham. Gelehrter, Streiter, Bettelmönch. Darmstadt: Primus Verl.
  • Prechtl, Peter; Burkard, Franz-Peter (Hg.) (2008): Metzler Lexikon Philosophie. Begriffe und Definitionen. 3., erw. und aktualisierte Aufl. Stuttgart: Metzler. Online verfügbar unter https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/.
  • Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried; Gabriel, Gottfried (Hg.) (2007): Historisches Wörterbuch der Philosophie. 13 Bände ; 1971 – 2007. Basel: Schwabe.
  • Rychlý, Pavel (2008): A Lexicographer-Friendly Association Score. In: Petr Sojka und Aleš Horák (Hg.): Recent Advances in Slavonic Natural Language Processing. RASLAN 2008. Brno.
  • Sandkühler, Hans Jörg; Borchers, Dagmar; Regenbogen, Arnim; Schürmann, Volker; Stekeler-Weithofer, Pirmin (Hg.) (2010): Enzyklopädie Philosophie. In drei Bänden mit einer CD-ROM. Hamburg: Meiner.
  • Sill, Hans-Dieter (2019): Grundkurs Mathematikdidaktik. 1. Auflage. Paderborn: Ferdinand Schöningh (StandardWissen Lehramt, 5008).

[1] Das Wort „signifikant“ wird hier nicht im mathematischen Sinne der statistischen Signifikanz verwendet, sondern im bildungssprachlichen Sinne als in besonderer Weise wesentlich, typisch, kennzeichnend.

[2] Das Assoziationsmaß logDice wurde von Rychlý (2008) vorgeschlagen und wird mit folgender Formel berechnet: 14 + log2 2fxy/(fx + fy) , wobei fxy die Frequenz des gemeinsamen Auftretens der beiden Wörter sowie fx und fy die Frequenzen der Wörter x und y sind.

Kontaktformular

Ich freue mich über kritische Hinweise!