Zu den Begriffen Realität und Wirklichkeit

Der Text ist eine Überarbeitung und substantielle Ergänzung des Textes zur Analyse der Begriffe Realität und Wirklichkeit vom 26.5.2021. Mit der von mir entwickelten Kategorie des äußerten Mentalen können zahlreiche bisher ungelöste oder unklare Fragen der Begriffsbildung in neuer Weise bearbeitet werden. Es wird eine ausführliche Explikation der beiden Begriffe angegeben, bei der viele in der Literatur gefundenen Aspekte berücksichtigt werden.

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Zu den Begriffen Realität und Wirklichkeit

Hans-Dieter Sill,  10.10.2022

Analysen zu den Begriffen „Realität“ und „Wirklichkeit“

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Inhalt

Vorbemerkungen

Realität, real

Wirklichkeit, wirklich

Auswertungen und Schlussfolgerungen zur Verwendung der Begriffe

Bedeutungen und Verwendungen in der Alltagssprache

Bedeutungen und Verwendungen in der Philosophie

Schlussfolgerungen

Literaturverzeichnis

Vorbemerkungen

Es wird ein Terminus für Gesamtheiten von Existierenden gesucht.  Dazu werden die Bedeutungen der Wörter Realität/real und Wirklichkeit/wirklich in der Philosophie und der Alltagssprache analysiert.

Zu Ermittlung der Bedeutungen der Wörter im Alltag wird das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (www.dwds.de/) verwendet (DWDS). Weiterhin werden die Eintragungen in den Internetenzyklopädien Wiktionary (Wiktionary) und Wikipedia (Wiki) herangezogen.

Um die Bedeutungen der Wörter in der Philosophie zu analysieren, werden die folgenden Wörterbücher und Enzyklopädien verwendet. Sie liegen auch in elektronischer Form vor, wodurch eine Suche nach den Wörtern im gesamten Text möglich ist.

  1. Ritter u. a. (2007): Historisches Wörterbuch der Philosophie, 17.144 Sp. (8.572 S.) (HWPh)
  2. Prechtl und Burkard (2008): Metzler Lexikon Philosophie, 705 S. (MLPh)
  3. Sandkühler (2010): Enzyklopädie Philosophie, 3.209 S. (EPh)

Weitere Informationen zu den Wortanalysen und Auswahlkriterien sind auf der Seite „Zu den Wortanalysen und Auswahlkriterien“ enthalten.

Realität, real

DWDS

Realität

Frequenz: 39,1

Kollokationen:  virtuell (8.2, 1249), Fiktion (8.1, 1048), gesellschaftlich (7.1, 984), vorbeigehen (7.1, 621), einholen (6.7, 516)

Bedeutungen

Wirklichkeit, Beispiele: die objektive Realität (= das außerhalb und unabhängig vom Bewusstsein Existierende, die materielle Welt); wirkliche Gegebenheit,

real

Frequenz: 40,3

Kollokationen:  ist Adjektivattribut von: Sozialismus (9.8, 1394), Bruttoinlandsprodukt (9.1, 747), Wachstum (8.6, 1233), Wirtschaftswachstum (8.5, 601), Gefahr (8.1, 773)

Bedeutungen

  1. bildungssprachlich: in der Wirklichkeit, nicht nur in der Vorstellung so vorhanden; gegenständlich
  2. mit der Wirklichkeit in Zusammenhang stehend, realitätsbezogen; realistisch, sachlich, nüchtern
  3. Wirtschaft: unter dem Aspekt der Kaufkraft, nicht zahlenmäßig, nicht dem Nennwert nach

Wiktionary

Realität: das, was tatsächlich ist

real:

[1] in materieller Form vorhanden

[2] auf die Wirklichkeit bezogen; den Tatsachen entsprechend

Wiki

Als Realität wird im allgemeinen Sprachgebrauch die Gesamtheit des Realen bezeichnet. Als real wird zum einen etwas bezeichnet, das keine Illusion ist und nicht von den Wünschen oder Überzeugungen einer einzelnen Person abhängig ist. Zum anderen ist real vor allem etwas, das in Wahrheit so ist, wie es erscheint, bzw., dem bestimmte Eigenschaften „robust“ – also nicht nur in einer Hinsicht und nicht nur vorübergehend – zukommen. Realität ist in diesem Sinne somit dasjenige, dem „Bestimmtheit“ zugeschrieben werden kann. Ein intentionales Objekt (z. B. eine Überzeugung, eine Einschätzung, eine Beschreibung, ein Bild, ein Film oder Computerspiel) gilt dann als realistisch, wenn es die Eigenschaften der darzustellenden Wirklichkeit in vielerlei Hinsicht und ohne Verzerrungen wiedergibt.

HWPh

Realität: 1525 (17,8) Ergebnisse

  • Doch Kant ist auch derjenige, der durch ergänzende adjektivische Bestimmungen (objektive R., empirische R., subjektive R. usw.) Ausgangspunkt für die heute vorherrschende Bedeutung ist: Real im prägnanten Sinn des Terminus Realität ist das, was in sich selbst steht, was autonom, unabhängig von subjektiven Bedingungen und vom Erkenntnisprozeß ist, mit einem Wort das, was dem erkennenden Subjekt äußerlich ist. Aber Kant – und das ist ein Punkt, den zu unterstreichen ebenfalls wichtig ist – inauguriert wohl indirekt eine wesentliche Unterscheidung, die den germanischen Sprachen eigentümlich und den romanischen Sprachen ebenso unbekannt ist wie der englischen, nämlich die Unterscheidung zwischen Realität und Wirklichkeit. Im Französischen z.B. begegnet einem keine so markante Entgegensetzung, denn der Begriff effectivité (oder actualité) erhält, wenn er nicht einfach Übersetzer-Französisch ist, eine philosophische Bedeutung, die bestimmt ist von dem deutschen Begriff her, den der französische angeblich wiedergibt. Dasselbe ließe sich hinsichtlich des Italienischen oder des Englischen sagen. (Bd. 8, S. 189)
  • Nimmt man Realität in der gewöhnlichen Bedeutung, so ist durch den Begriff ausgezeichnet, was Widerstand leistet, was sich aufdrängt, was auf permanente und geregelte Weise verharrt, und dadurch auch das, worauf man sich innerhalb definierter Grenzen verlassen kann. In diesem Sinne steht Realität im Gegensatz zu Erscheinung. Kraft dieser Konnotationen oder dieser wesentlichen Kennzeichen des Begriffs Realität konnte der intelligible Charakter des Seienden (die Realität der Ideen in der platonischen Tradition) als ‚realer gelten als dessen sinnlicher Aspekt. (Bd. 8, S. 189)
  • Obgleich Kant in aller Regel und besonders dann, wenn er Realität mit Substantialität und Kausalität in Verbindung bringt, diesen Begriffen jede Bedeutung, die einen Gegenstand außerhalb ihres Gebrauchs in der möglichen Erfahrung bestimmen könnte, abspricht, so kommt es doch auch vor, daß er, wenn er an die platonischen Ideen denkt, die Realität der idealen Begriffe dadurch definiert, daß er sie von Gedankendingen oder bloßen Hirngespinsten unterscheidet (Bd. 8, S. 190)
  • Damit ist die Realität, die im übrigen der Kausalität gleichzustellen ist – «Erkenntnis von Realität und Erkenntnis von Kausalität [ist] untrennbar eins» (Ideen 3, § 1. Hua. 5 (1952) 3f.) –, immer nur «relativ» und muß somit zurückgeführt werden auf das Bewußtsein als ihre wahrhafte Quelle, gleichgültig welche Regionen der Realität betrachtet werden (materielles Ding, Leib, Seele). Aber diese grundlegende Unterscheidung zwischen realen und idealen Objektivitäten muß wiederum vervollständigt werden durch sekundäre Unterscheidungen, wie z.B. diejenige zwischen den «freien Idealitäten» der mathematischen Gebilde oder der wesentlichen formalen Strukturen einerseits und den «gebundenen Idealitäten», die «in ihrem Seinssinn Realität mit sich führen und damit der realen Welt zugehören» andererseits. Man unterscheidet z.B. die mathematische Idee eines Theorems von dem idealen Gegenstand, der Raffaels Madonna ist; und man unterscheidet die ideale Realität eines Verfassungsgesetzes von der weltlichen Realität eines Staates. (Bd. 8, S. 192)
  • Heute bezeichnet objektive Realität die Wirklichkeit der Dinge, insofern sie unabhängig von unserem Denken existieren. (Bd. 8, S. 193)
  • Im 19. und 20. Jh. wird der Ausdruck objektive Realität in einer grundlegend gewandelten Bedeutung verwendet. Er steht nicht mehr für den kantischen Begriff einer durch die Notwendigkeit der apriorischen Erkenntnisformen verbürgten Realität, die insofern ‚objektiv heißen kann. Er bezeichnet nun vielmehr, abgesehen von seiner Verwendung im Neukantianismus, die Wirklichkeit von Gegenständen außerhalb des Bewußtseins. Der Begriff der physischen bzw. objektiven Realität taucht schließlich in den Debatten über den durch die Naturwissenschaften problematisierten Wirklichkeitsbegriff auf. Im Rahmen der Auseinandersetzungen um die sog. Kopenhagener Deutung der Quantentheorie äußerten A. EINSTEIN, B. PODOLSKY und N. ROSEN 1935 den Verdacht der Unvollständigkeit der Quantentheorie. Dem lag EINSTEINS nie revidierte Grundüberzeugung zugrunde, es gebe eine (objektive) Realität hinter den Erscheinungen. Als ein «Kriterium der objektiven Realität» formulierten Einstein und seine Mitarbeiter die in ihren Augen hinreichende Bedingung für physikalische Theoriebildung: «Wenn wir, ohne irgendwie störend in ein System einzugreifen, mit Sicherheit (d.h. mit einer an Einhelligkeit grenzenden Wahrscheinlichkeit) den Wert einer physikalischen Größe voraussagen können, dann existiert ein Element der physikalischen Realität, das dieser physikalischen Größe entspricht» A. EINSTEIN/B. PODOLSKY/N. ROSEN: Can quantum-mechanical description of phys. reality be considered complete. Phys. Review 47 (1935) 777–780, hier: 777. (Bd. 8, S. 199)
  • Ein allgemein verbindliches Abgrenzungskriterium des Psychischen von anderen ‚Gegenständlichkeiten (‚materielle, ‚geistig-ideale) ist bis heute nicht gefunden. Die unspezifische Verwendung der Begriffe psychische Realität, psychisch Reales, seelische Wirklichkeit, psychisches Sein scheint darauf hinzuweisen, daß der intendierte Bedeutungsgehalt und/oder der Seins- bzw. Wirkungsbereich sich nur schwer in eine alle Aspekte vereinigende Nomenklatur einarbeiten lassen, während das Insistieren auf dem Realitäts-Gehalt, d.h. das Herausheben des Psychisch-Geistigen gegen den ‚Schein bloßer Fiktionalität, wohl das Unverzichtbare des im Begriff Intendierten zum Ausdruck bringen soll. (Bd. 8, S. 201)

real: 1527 (17,8) Ergebnisse

MLPh

Realität: ca. 138 (19,6) Ergebnisse, Realität ist kein Stichwort.

real: 116 (16,5) Ergebnisse

EPh

Realität: ca. 499 (15,6) Ergebnisse

siehe Wirklichkeit

real: 465 (14,5)

Wirklichkeit, wirklich

DWDS

Wirklichkeit

Frequenz: 35,8

Kollokationen: Traum (7.5, 1600), gesellschaftlich (7.3, 1326), Fiktion (6.9, 583), Anspruch (6.8, 1424), rauh (6.5, 444)

Bedeutungen: das tatsächlich Existierende, die Tatsachen, Realität; Beispiel: die bunte, raue Wirklichkeit

wirklich

Frequenz: 219,7

Kollokationen: ist Adjektivattribut von: Leben (9.2, 5513), Gefahr (7.4, 589), Alternative (7.4, 496), Problem (7.4, 1490), Reform (7.3, 641)

Bedeutungen:

  1. den Tatsachen, der Wirklichkeit entsprechend, tatsächlich, real, Bsp.: das wirkliche Leben
  2. im eigentlichen, erklärten Sinne der Sache, dem Wesen der Sache entsprechend, Bsp.: mein wirklicher Freund
  3. dient zur Verstärkung, Bekräftigung; wahrhaftig, in der Tat

Wiktionary

Wirklichkeit: Plural selten: die auf Tatsachen beruhende äußere Welt

wirklich:

 [1] tatsächlich existierend und nicht nur in der Einbildung vorhanden seiend

 [2] den Erwartungen und Wertvorstellungen entsprechend

 [3] Verstärkungswort: wahrhaftig, echt, ganz

Wiki

Mit dem Begriff Wirklichkeit soll das bezeichnet werden, was der Fall ist. Die Frage, was Wirklichkeit sein soll, ob der Mensch also die Wirklichkeit erkennen kann oder ob es nur kulturell bedingte Formen von Wirklichkeitsbewusstsein gibt, beschäftigte die Philosophiegeschichte seit ihren Anfängen. Philosophische Gegenbegriffe zur Wirklichkeit sind Schein, Traum oder Phantasie.

Oft wird zwischen Wirklichkeit und Realität nicht unterschieden. Es gibt aber auch Begriffsverwendungen, in denen mit dem Begriff „Wirklichkeit“ eine Realität gemeint ist, die auf Dinge eingeschränkt ist, die eine Wirkung haben oder ausüben können, also physikalische Gegenstände (siehe Wechselwirkung). In dieser Unterscheidung sind gedankliche Gegenstände wie Zahlen oder Theorien zwar Bestandteil der Realität, aber nicht der Wirklichkeit.

HWPh

Wirklichkeit: 2967 (34,6) Ergebnisse

Aus dem Beitrag von T. Trappe zum Stichwort „Wirklichkeit“ im Bd. 12, S. 829-846

  • Spätestens seit der zweiten Hälfte des 17. Jh. meint wirklich umgangssprachlich vor allem ‚tatsächlich bestehend, und zwar regelmäßig im engeren Sinne handgreiflicher (körperlicher) Vorhandenheit, kann aber darüber hinaus auch die Bedeutung von wahr(haftig), eigentlich (wesenhaft), berechtigt oder echt annehmen. Ähnlich wie das häufig synonym gebrauchte Realität läßt sich Wirklichkeit auch universal verstehen und bezeichnet dann die Totalität dessen, was ‚wirklich ist‘. – Zwischen Realität und Wirklichkeit jedoch differenzieren zu können, bildet eine Eigentümlichkeit des Deutschen, die weder im Englischen noch in den romanischen Sprachen ein vergleichbares Gegenstück hat und daher regelmäßig zu Konfusionen in der Übersetzung führt (Bd. 12, S. 829)
  • Demgemäß ist wirklich, was «mit den materialen Bedingungen der Erfahrung … zusammenhängt». «Empfindung» bzw. der (den «Analogien der Erfahrung» entsprechend geregelte) Zusammenhang mit Wahrnehmung ist daher «der einzige Charakter der Wirklichkeit» Kant KrV A 225f./B 272f. (vgl. HWPh Bd. 12, S. 831)
  • Fichte zeigt: Primäres Kennzeichen, «Charakter der Wirklichkeit», ist das Selbstvergessen, Wirklichkeit daher nicht außerhalb aller Subjektivität, sondern nur eine bestimmte Modalität ihrer selbst. (vgl. HWPh Bd. 12, S. 833)
  • Dieser so verstandenen Wirklichkeit als (Selbst-)Manifestation bzw. -offenbarung ordnet Hegel neben den kantischen Relationskategorien in allerdings unterschiedlicher Weise auch die Modalitätsbestimmungen («die eigentliche Wirklichkeit») zu. Innerhalb dieser wiederholt sich der Gegensatz von Innerem und Äußerem noch einmal, so daß «Möglichkeit» und «Zufälligkeit» als «Momente der Wirklichkeit» begreifbar werden: Jene als das «nur Innere der Wirklichkeit», diese als «die nur äußere Wirklichkeit». Aus ihrem wechselseitigen «Sichübersetzen» ineinander resultiert «die Notwendigkeit», d.h. die «entwickelte Wirklichkeit», als deren vollständige Explikation dann die Relationskategorie Wechselwirkung gelten darf. ( HWPh Bd. 12, S. 834)
  • Seit der 2. Hälfte des 19. Jh. wird der Begriff Wirklichkeit mit der allgemeinen Abkehr vom Idealismus verschiedentlich zum Schlagwort für positivistische und materialistische Strömungen. Bezeichnenderweise hat die Reaktion gegen eine solche «Wirklichkeit-Philosophie» (E. DÜHRING) gerade das eingeleitet, was bis heute als «Auszug aus der Wirklichkeit» diagnostiziert wird. Auslöser ist die mit der «Rückkehr zu Kant» eingeleitete Wende zur Erkenntnistheorie, und zwar zunächst unter sinnesphysiologischen Bedingungen: «Welt der Empfindung» und «Welt der Wirklichkeit» treten auseinander, diese ist nur noch aus jener erschließbar (H. HELMHOLTZ), wird nicht durch den Menschen abgebildet, sondern mit Hilfe von «Fiktionen» verfälscht (H. VAIHINGER), ist bestenfalls «Inbegriff der notwendigen, durch Sinneszwang gegebenen Erscheinungen», also «Produkt der Organisation der Gattung» (F. A. LANGE). F. NIETZSCHE feiert diesen Verlust einer an-sich-seienden Wirklichkeit als Ausdruck der spontan-schöpferischen Leistung des Menschen: Zwischen Wirklichkeiten kann «gewählt» werden! Das hat zwei Konsequenzen: Ist die grob materialistische Identifikation des «Realen» mit dem «Wirklichen» als bloßem «Stoff» hinfällig geworden, dann wird auch (erstens) der Realismus einer ‚eigentlichen Wirklichkeit problematisch: «Es giebt für uns keine ‚Wirklichkeit», insofern in aller (vermeintlichen) ‚Wirklichkeit immer schon verborgene «Schätzungen der Dinge» wirksam sind. Das eröffnet (zweitens) die Möglichkeit zur «Kritik der ‚Wirklichkeit‘», die vor allem einen Betrug durchschaut: die «’wirkliche Wirklichkeit’». (vgl. HWPh Bd. 12, S. 837-838)
  • RICKERT ist es auch, der das Wertproblem für die Methodenlehre der Einzelwissenschaften fruchtbar macht. Weil «Begriff und Wirklichkeit» zu trennen sind, jener daher weder «Abbild» noch «Beschreibung» von der Wirklichkeit sein kann, ist das Problem der Wirklichkeit aus dieser Sicht das ihrer Irrationalität, und zwar aufgrund ihrer totalen Kontinuität wie Heterogenität gleichermaßen: «Alles fließt», aber «alles ist» auch «anders», Wirklichkeit daher «stetige Andersartigkeit», ein «heterogenes Kontinuum». «Macht über das Wirkliche» bekommen Wissenschaft und Begriff daher nur durch Prozeduren seiner Umformung und Vereinfachung, die an seiner «Unübersehbarkeit» und «Unerschöpflichkeit» indessen nichts zu ändern vermögen. (vgl. HWPh Bd. 12, S. 839-840)
  • Eine großangelegte Modalanalyse der Wirklichkeit findet sich jedoch erst bei N. HARTMANN. Im System der Ontologie ist dabei von vornherein einer Verwechslung von Dasein (im Unterschied zu Sosein), Realität (im Unterschied zu Idealität) und Wirklichkeit (im Gegensatz zu Möglichkeit und Notwendigkeit) durch die Unterscheidung von Seinsweisen, Seinsmomenten und den Seinsmodi vorgebeugt. Die Bedeutungsschwankungen des Begriffs Wirklichkeit werden dabei zum Indiz für die sie kennzeichnende Unfaßbarkeit bzw. Irrationalität: Nicht als Mitte zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit, sondern in ausgesprochener «Gegensatzstellung» zu beiden zeichnet sich Wirklichkeit in allen vier von Hartmann unterschiedenen Sphären des (irrealen, d.h. logischen, idealen und gnoseologischen und des realen) Seins durch «Relationslosigkeit und Abgelöstheit» aus: «wirklich» ist, was «rein in sich selbst», «rein ‚durch Nichts» ist, «’Sein schlechthin, das nicht weiter reduzierbar ist». Deswegen ist Wirklichkeit (bedingt auch die Unwirklichkeit) der einzige streng «’reine Seinsmodus», während es sich bei den übrigen Modalkategorien um «basierte», «relationale Modi» handelt, die von sich selbst her, ihrem eigenen «Sinn» nach an Wirkliches zurückgebunden sind («modales Grundgesetz»). Dementsprechend gilt etwa: «Wenn A notwendig ist, so ist es ‚auf Grund von etwas notwendig … Wenn A möglich ist, so ist es ‚vermöge gewisser Bedingungen möglich». (vgl. HWPh Bd. 12, S. 843-844)
  • Im Zuge einer um sich greifenden «Pathologisierung des Politischen» kann der «Wirklichkeitsverlust» spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs jedoch auch zur zeitdiagnostischen Kategorie avancieren. Hintergrund für diese Diskussion sind vor allem die sich ausbreitende «Medienwirklichkeit» sowie die Herausbildung eines eigenständigen Typs der virtuellen Realität. Jenseits der Frage, ob es sich dabei um ein «Verschwinden» (leibhaft erfahrener) Wirklichkeit oder bloß um deren ‚Verschwindeln‘ handelt, ermöglicht diese Entwicklung den pluralen Gebrauch von Wirklichkeit: Fortan sind es «Wirklichkeiten, in denen wir leben», «sub-universes», «multiple realities», eine Vielfalt von geschlossenen «Sinnbereichen», denen der Mensch jeweils einen «Wirklichkeitsakzent» verleihen kann. Mit diesem ‚Verlust der Einen Wirklichkeit, also einer Wirklichkeit in der «absoluten Bedeutung» des Wortes, zeigt sich Wirklichkeit als «gesellschaftliche Konstruktion», als Wirklichkeit in «Anführungsstrichen». Das ist (auch) philosophiekritisch gemeint und öffnet so das thematische Feld vor allem der Soziologie. Ob erfunden, konstruiert oder gar «phantomisiert»: Wirklichkeit ist klärungsbedürftig geworden, vor allem aber labil, kostbar und bedarf angesichts einer weitgehend durchfiktionalisierten Welt gerade nicht mehr der Überwindung im Schein, sondern muß überhaupt erst (wieder) erfahrbar werden. (vgl. HWPh Bd. 12, S. 845)

wirklich: 1767 (20,6) Ergebnisse

MLPh

Wirklichkeit: 338 (47,9) Ergebnisse, Wirklichkeit ist kein Stichwort.

wirklich: 126 (17,9) Ergebnisse

EPh

Wirklichkeit: 969 (30,2) Ergebnisse

Aus dem Beitrag von Pirmin Stekeler-Weithofer zum Stichwort „Realität/Wirklichkeit“, S. 2221u – 2230b

  • Mit den Begriffen ›Realität‹ und ›Wirklichkeit‹ bzw. den zugehörigen Bewertungsprädikaten ›real‹ und ›wirklich‹ verweisen wir auf das, was in der Welt Aussagen wahr machen bzw. was unseren Nennungen einen Bezug geben kann oder soll. Dies geschieht zumeist auf zwei verschiedene Weisen. Zunächst steht dabei das Wirkliche (bzw. Reale) dem bloß Möglichen gegenüber.
  • Andererseits stehen sich in der Philosophie traditionell Realität und Wirklichkeit auch terminologisch gegenüber. Aufgrund einer komplexen Sprachtradition ist diese Entgegensetzung aber diffus und oft konfus, und zwar weil die Realität als das Reich der Einzelphänomene unserer mehr oder minder unmittelbaren Einzelerfahrung im Volksmund das je gegenwärtig Aktuale ist. ›Wirklichkeit‹ aber ist die dt. Übersetzung des lat. Wortes actualitas. Das lat. Wort wiederum verweist auf das griech. energeia, das bei Aristoteles die Verwirklichung einer zunächst bloß möglichen Form ausdrückt, also die Aktualisierung eines Typus in einem Naturgeschehen oder einer generischen Handlung im tätigen Handeln.
  • Bei Hegel ist die Wirklichkeit, in gewisser Entwicklung dieses Gedankens, allgemeine Erklärung der bloßen Realität der Einzelerscheinungen. Wirklichkeit gehört daher zur Wesenslogik vernünftiger und als solcher immer schon allgemeiner Darstellung und Erklärung des realiter erfahrenen Einzelnen. Wirklichkeit geht damit über die bloße Wahrnehmung einer präsentischen und empirischen Realität weit hinaus, und wird als solche durch unsere allgemeinen Theorien ›beschrieben‹, in denen wir die wahrnehmbaren Phänomene auf angemessene, vernünftige, Weise erklären. Wirklichkeit ist damit – wie dann durchaus auch in der Entgegensetzung bloßer Phänomene der Ökonomie und ökonomischer Wirklichkeit bei Marx – die vernünftig begriffene und erklärte Realität. Als solche wird Wirklichkeit einer Realität gegenübergestellt, die als solche nur oberflächlich beschrieben bzw. statistisch aufgezählt wird.
  • Neuere Debatten zum Realismus unterscheiden nicht zwischen Realität und Wirklichkeit. Sie gehen eben deshalb an Heideggers Fundamentalkritik am Sinn der Frage nach der Existenz der Außenwelt bzw. der objektiven Wirklichkeit vorbei und ignorieren Hegels Zweifel am Sinn einer bloß vermeintlich philosophisch ernst zu nehmenden Skepsis.

wirklich: 557 (17,4) Ergebnisse

Auswertungen und Schlussfolgerungen zur Verwendung der Begriffe

In der folgenden Tabelle sind die relativen Häufigkeiten der Wörter in den einzelnen Quellen dargestellt.

 

Frequenz[1]

Häufigkeit pro 100 Seiten

Wort

DWDS

HWPh

MLPh

EPh

Realität

39,1

17,8

19,6

15,6

real

40,3

17,8

16,5

14,5

Wirklichkeit

35,8

34,6

47,9

30,2

wirklich

219,7

20,6

17,9

17,4

Bedeutungen und Verwendungen in der Alltagssprache

In der Alltagssprache werden die Wörter „Wirklichkeit“ und „Realität“ etwa gleich häufig verwendet. Ein Vergleich des Überblicks der Gemeinsamkeiten von signifikanten Kollokationen zeigt eine große Übereinstimmung. Deshalb kann man davon ausgehen, dass beide Wörter in der Alltagssprache in etwa die gleiche Bedeutung haben, also als Synonyme anzusehen sind.

 

logDice

Häufigkeit

Überblick

Realität

Wirklichkeit

Realität

Wirklichkeit

 1. Fiktion

8.1

6.9

1048

583

 2. gesellschaftlich

7.1

7.3

984

1326

 3. Traum

6.2

7.5

582

1600

 4. Vision

6.0

6.3

346

510

 5. einholen

6.7

5.8

516

336

Auch im Vergleich der Kollokationen von „real“ und „wirklich“ ist eine große Übereinstimmung ersichtlich.

 

logDice

Häufigkeit

ist Adjektivattribut von

real

wirklich

real

wirklich

 1. Gefahr

8.1

7.4

773

589

 2. Welt

7.9

7.0

2202

1257

 3. Leben

7.1

9.2

1170

5513

 4. Macht

6.7

6.6

334

369

 5. Bedrohung

7.5

6.0

372

172

Neben diesen Übereinstimmungen in den Bedeutungen und der Verwendung der Wörter gibt es aber auch einige Unterschiede, auf die im Folgenden eingegangen wird.

Während die relative Häufigkeit von „real“ und „Realität“ fast identisch ist, tritt das Wort „wirklich“ etwa sechsmal so häufig auf wie „Wirklichkeit“. Die mit Abstand höchsten Werte für den logDice-Index und die Frequenz gibt es in der Verbindung von „wirklich“ und „Leben“.

Das Attribut „real“ ist abgesehen von der politischen Bezeichnung „realer Sozialismus“, die den höchsten logDice-Wert die höchste Frequenz aufweist, vor allem mit den Wörtern Bruttoinlandsprodukt, Wachstum und Wirtschaftswachstum verbunden, die einen konkreten und sogar messbaren Inhalt haben. Im Vergleich dazu sind die mit dem Attribut „wirklich“ verbundenen Substantive Leben, Gefahr, Alternative, Problem und Reform eher unbestimmt.

Dies bestätigt die bei Wikipedia getroffene Einschätzung, dass etwas als real bezeichnet wird, wenn es in Wahrheit so ist wie es erscheint, dem eine robuste Bestimmtheit zugeschrieben werden kann. Auch die Bezeichnung realistisch für Kunstwerke oder Computerspiele, mit der eine unverzerrte Wiedergabe der Wirklichkeit gemeint ist, unterstützt diese Interpretation.

Die signifikanten Kollokationen von „Wirklichkeit“ mit „Traum“ und „Fiktion“ sowie die Bedeutung von „wirklich“ als den Erwartungen und Wertvorstellungen entsprechend, deuten darauf hin, dass die wahrgenommene Wirklichkeit und das tatsächlich Existierende, das Wesen der Sache oft nicht als übereinstimmend angesehen werden. Dies könnte auch eine Ursache für die hohe Frequenz von „wirklich“ im Vergleich mit „Wirklichkeit“ sein.

Die Anzahl der unterschiedlichen Bedeutungen der beiden Wörter in der Alltagssprache ist sehr gering. Sie sind verständlich und gehören beide zum alltäglichen Sprachgebrauch.

Bedeutungen und Verwendungen in der Philosophie

Im Vergleich der drei Lexika kommen alle vier Wörter etwa gleich häufig vor, mit Ausnahme der etwas höheren relativen Häufigkeit von „Wirklichkeit“ im MLPh. Dies zeigt eine erstaunliche Übereinstimmung der Verwendung der Wörter in der Philosophie. Ein Vergleich der Wörter untereinander ergibt eine fast übereinstimmende relative Häufigkeit der Wörter „Realität“, „real“ und „wirklich“. Im Unterschied zur Alltagssprache wird das Wort „Wirklichkeit“ mit Abstand am häufigsten verwendet, in EPh doppelt so häufig und im MLPh teilweise dreimal so häufig.

Im Ergebnis der Analyse der philosophischen Literaturquellen zeigt sich, dass beide Wörter in ihrer neuzeitlichen Verwendung nur eine dominierende Bedeutung haben. „Ähnlich wie das häufig synonym gebrauchte Realität läßt sich Wirklichkeit auch universal verstehen und bezeichnet dann die Totalität dessen, was ‚wirklich ist‘“ (Ritter et al. 2007, Bd. 12, S. 829). Damit ist allerdings keine konsistente Erklärung erfolgt, da „Wirklichkeit“ mit „was wirklich ist“ beschrieben wird.

Die Analysen der philosophischen Quellen haben ebenfalls einen hohen Grad der Übereinstimmung der Bedeutungen der Wörter „Realität“ und „Wirklichkeit“ ergeben. Während in der englischen und den romanischen Sprachen  unterschiedlichen Termini der gleichen Art nicht vorhanden sind, gibt es in der deutschsprachigen philosophischen Literatur auch einige Aspekte dieser Termini, die differenziert werden können. Eine synonyme Verwendung der beiden Termini ist analog zum alltagssprachlichen Gebrauch auch im philosophischen Kontext deshalb nicht immer angebracht. Auf einige spezifische Unterschiede und damit verbundene weitere Probleme soll im Folgenden eingegangen werden.

So gibt es zum Terminus „Realität“ adjektivische Bestimmungen wie „objektive Realität“, die von Kant mitgeprägt wurden und darauf hinweisen sollen, dass Realität „in sich selbst steht, autonom und unabhängig von subjektiven Bedingungen und vom Erkenntnisprozess … und dem erkennenden Subjekt äußerlich ist“ (Ritter et al. 2007, Bd. 8, S. 189).

Die Wortverbindung „objektive Wirklichkeit“ gibt es dagegen nicht. Weiterhin lässt sich neben „der natürlichen Realität … eine soziale, eine politische oder eine psychische Realität ausmachen“ (Sandkühler et al. 2010, 1353b).

Realität steht für das, „was Widerstand leistet, was sich aufdrängt, was auf permanente und geregelte Weise verharrt, und dadurch auch das, worauf man sich innerhalb definierter Grenzen verlassen kann“ (Ritter et al. 2007, Bd. 8, S. 189). Solche Aussagen werden für den Terminus „Wirklichkeit“ in der Regel nicht getroffen.

Es gibt Beziehungen zwischen den Termini „Realität“ und „Idealität“, die in dieser Form nicht für den Terminus „Wirklichkeit“ zutreffen. So lässt sich eine Relation zwischen der idealen Realität eines Verfassungsgesetzes und der weltlichen Realität eines Staates beschreiben.

Im Rahmen der Quantenmechanik wird über die physikalische Realität von Elementarteilchen als nichtbeobachtbaren Objekten diskutiert.

Ungeklärt ist auch die Frage, inwieweit Psychisches als real bezeichnet werden kann. „Ein allgemein verbindliches Abgrenzungskriterium des Psychischen von anderen ‚Gegenständlichkeiten‘ (‚materielle, ‚geistig-ideale) ist bis heute nicht gefunden“ (Ritter et al. 2007, Bd. 8, S. 201).

Im Unterschied zum Terminus „Realität“ wird „Wirklichkeit“ häufig mit subjektiven Faktoren wie Erfahrungen und Empfindungen in Verbindung gebracht. Nach Fichte ist „Wirklichkeit daher nicht außerhalb aller Subjektivität, sondern nur eine bestimmte Modalität ihrer selbst.“ (vgl. Ritter et al. 2007, Bd. 12, S. 833)

Hegel weist dem Terminus Wirklichkeit auch einen modalen Charakter zu, «Möglichkeit» und «Zufälligkeit» sind als «Momente der Wirklichkeit» begreifbar (vgl. Ritter et al. 2007, Bd. 12, S. 834 und Sandkühler et al. 2010, S. 1353) Eine umfassende Modalanalyse erfolgt durch Hartmann.

Beginnend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird der Unterschied zwischen der Wirklichkeit als solcher und ihrer Reflexion durch den Menschen thematisiert. Nietzsche feiert diesen Verlust einer an-sich-seienden Wirklichkeit als Ausdruck der spontan-schöpferischen Leistung des Menschen: Zwischen Wirklichkeiten kann «gewählt» werden. «Es giebt für uns keine ‚Wirklichkeit», insofern in aller (vermeintlichen) ‚Wirklichkeit immer schon verborgene «Schätzungen der Dinge» wirksam sind. Das eröffnet (zweitens) die Möglichkeit zur «Kritik der ‚Wirklichkeit‘», die vor allem einen Betrug durchschaut: die «’wirkliche Wirklichkeit’» (vgl. Ritter et al. 2007, Bd. 12, S. 837-838). Dieser Aspekt von „Wirklichkeit“ hat in heutiger Zeit durch die sich ausbreitende «Medienwirklichkeit» sowie die Herausbildung eines eigenständigen Typs der virtuellen Realität an Bedeutung gewonnen (vgl. Ritter et al. 2007, Bd. 12, S. 845). Inwieweit die wahrgenommene Wirklichkeit auch den tatsächlichen realen Gegebenheiten entspricht hängt „immer auch von den verfolgten Zielen, dem jeweiligen Problemvorverständnis und den Diskursmodalitäten, ab, kurz, von der vernünftigen Erklärung des Gegebenen unter dem Titel ›Wirklichkeit‹“ (Sandkühler et al. 2010, 1353b). Die Kluft zwischen der wahrgenommenen und der tatsächlichen Wirklichkeit ist eines der Hauptprobleme im gesellschaftlichen Leben und insbesondere in den politischen Debatten der heutigen Zeit.

Schlussfolgerungen

Insgesamt kann generell festgestellt werden, dass die Wörter „Realität“, „real“, „Wirklichkeit“ und „wirklich“ nach den aufgestellten Kriterien (s. „Zu den Wortanalysen und Auswahlkriterien“) als philosophische Begriffe geeignet sind.

Ihre Bedeutungen und Verwendungen in der „Neuen Philosophie“ können in folgender Weise angegeben werden:

  • Die Begriffe bezeichnen Nichtmentales. Dazu gehört auch entäußertes Mentales wie gesprochene oder geschriebene Worte oder Ideen, publizierte wissenschaftliche Theorien, oder Kunstwerke.
  • Mentale Zustände und Vorgänge wie Gedanken, Bedürfnisse, Überlegungen oder Lernen als innere Tätigkeit gehören nicht zum Umfang der Begriffe.
  • Sinneswahrnehmungen, Gefühle und Empfindungen sind sowohl mit physiologischen als auch mit mentalen Zuständen und Vorgängen verbunden. Es ist sinnvoll, sie als Bestandteil der Realität bzw. Wirklichkeit zu bezeichnen.
  • Realität und Wirklichkeit sind zwar dem erkennenden Subjekt äußerlich, aber in Bezug auf das entäußerte Mentale nicht unabhängig von ihm. Das entäußerte Mentale ist aber wie alles andere Nichtmentale nur ein potentieller Erkenntnisgegenstand und damit existiert es unabhängig davon, ob es Gegenstand der Erkenntnistätigkeit ist. Realität und Wirklichkeit sind in diesem Sinne objektiv, ein adjektivischer Zusatz ist also nicht erforderlich.
  • Die Begriffe „Realität“ und „real“ werden verwendet, wenn es um naturwissenschaftliche Objekte geht wie zum Beispiel physikalische oder biologische Körper, chemische Stoffe oder Wettererscheinungen. Zu Realität gehören auch solche physikalischen Objekte wie mechanische Kräfte oder magnetische Felder, die nur über ihre Wirkungen wahrnehmbar sind. Dabei steht Realität nicht nur für das, „was auf permanente und geregelte Weise verharrt“, auch Blitz und Donner gehören zu Realität.
  • Eine besondere Rolle nehmen Bestandteile von Theorien ein, mit denen reale Erscheinungen modelliert werden können. Dazu zählen etwa mathematische Begriffsbildungen wie Zahlen, Funktionen oder geometrische Figuren und physikalische Begriffe wie Elementarteilchen oder Atommodell. Zum Beispiel sind Punkt oder Würfel in der Geometrie Objekte, die nur im Denken existieren, mit denen aber ein realer Punkt und ein realer Würfel modelliert werden können. Auch die physikalischen Begriffe Elementarteilchen oder Atommodell sind Modelle, mit denen mikrophysikalische Zustände modelliert werden können. Als entäußertes Mentales werden Modelle durch geeignete verbale oder formalisierte Beschreibungen angegeben.
  • Auch gesellschaftliche Zustände und Beziehungen können als „Realität“ oder „real“ bezeichnet werden. Mit gesellschaftswissenschaftlichen Theorien kann die Realität erfasst und modelliert werden.
  • Im entäußerten Mentalen gibt es Aussagen bzw. Darstellungen, die nicht Zuständen oder Vorgängen im sonstigen Nichtmentalen entsprechen, wie zum Beispiel unreale Fantasien oder Utopien, Science-Fiction Werke, anthropomorphe Figuren, Zeichentrickfilme, Fake-Nachrichten oder reine „Hirngespinste“. Dieser Bereich des entäußerten Mentalen gehört aber auch zur Realität bzw. Wirklichkeit, auch wenn man die Aussagen und Darstellungen als nicht real oder sogar als falsch bezeichnen muss. Dies führt zu sprachlichen Schwierigkeiten, da man entäußertes Mentales, das nicht oder nicht in jeder Beziehung der Realität entspricht, als „unreal“ oder „nicht der Realität entsprechend“ bezeichnet, obwohl es wie jedes andere entäußerte Mentale zu Realität gehört. Eine Konsequenz ist, dass die Realität in dieser Gesamtheit nicht mit dem Problem der Wahrheit verbunden werden kann.
  • Dieses Problem betrifft auch Aussagen zur Wirklichkeit. So wird mit dem Begriff „Medienwirklichkeit“ die Darstellung der Wirklichkeit in den Medien bezeichnet, die in der heutigen Zeit großen Einfluss auf die entsprechenden Vorstellungen von Menschen zu Wirklichkeit hat. „Wirklichkeit ist in einer von Massenmedien geprägten Gesellschaft also zunehmend das, was wir unter Mediengebrauch als Wirklichkeit konstruieren, dann daran glauben und entsprechend handeln und kommunizieren“ (Berger et al. 2021, S. 18). Die Medienwirklichkeit führt zu einem „Wirklichkeitsverlust“ bei großen Teilen der Bevölkerung.
  • Es muss also unterschieden werden zwischen den verinnerlichten Kenntnissen und Vorstellungen zur Realität bzw. Wirklichkeit und der tatsächlichen Realität bzw. Wirklichkeit im Nichtmentalen außerhalb des entäußerten Mentalen.
  • Im Bereich der Kultur und Kunst spricht man von einem realistischen Kunstwerk, wenn es der Realität als Gesamtheit des entäußerten Mentalen und des weiteren Nichtmentalen weitestgehend entspricht. Der Begriff „realistisch“ ist Bestandteil der Theorie des Realismus, die über die hier dargestellten Betrachtungen zur Realität hinausgeht.
  • Ein weiterer Sonderfall im Bereich des entäußerten Mentalen sind Objekte, die Idealisierungen eines Objektes im Bereich des sonstigen Nichtmentalen sind. Dazu gehört die sixtinische Madonna von Raffael oder die Verfassung eines Staates.
  • Die Begriffe „Wirklichkeit“ und „wirklich“ haben einen modalen Charakter, sie können in Bezug auf die Begriffe „Möglichkeit“ und „möglich“ verwendet werden. Diese Bezüge ergeben sich als Folge einer Prozessbetrachtung des Existierenden. Alles Existierende, insbesondere auch das Nichtmentale ist Ergebnis von Vorgängen, die unter bestimmten Bedingungen ablaufen. Diese Vorgänge haben unterschiedliche mögliche Ergebnisse, die mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit eintreten können und damit wirklich werden. Dies betrifft auch die verzerrenden Darstellungen der „Wirklichkeit“ im Bereich des entäußerten Mentalen. Ein solches modales, auf einer Prozessbetrachtung beruhendes Moment besitzen die Begriffe „Realität“ und „real“ nicht.

Literaturverzeichnis

Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas; Plessner, Helmuth (2021): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 28. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch (Fischer, 26623).

Prechtl, Peter; Burkard, Franz-Peter (Hg.) (2008): Metzler Lexikon Philosophie. Begriffe und Definitionen. 3., erw. und aktualisierte Aufl. Stuttgart: Metzler. Online verfügbar unter https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/.

Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried; Gabriel, Gottfried (Hg.) (2007): Historisches Wörterbuch der Philosophie. 13 Bände. Basel: Schwabe.

Sandkühler, Hans Jörg; Borchers, Dagmar; Regenbogen, Arnim; Schürmann, Volker; Stekeler-Weithofer, Pirmin (Hg.) (2010): Enzyklopädie Philosophie. In drei Bänden mit einer CD-ROM. Hamburg: Meiner.

[1] Häufigkeit pro 1 Million Tokens