Hans-Dieter Sill, 27.01.2024
Momente des Begriffs „Eigenschaft“ in Schriften von Aristoteles[1]
Inhalt
Zum Wort idion (ἴδιον) in den Schriften von Aristoteles
Weitere Zitate von Aristoteles
Auswertung und Zusammenfassung der Literaturanalysen
Bedeutungen bei Aristoteles und in der weiteren Literatur
Vorschlag für einen philosophischen Begriff „Eigentümlichkeit“
Definierende Momente des Begriffs „Eigentümlichkeit“
Diskussion von Beispielen für eigentümliche Eigenschaften aus Schriften von Aristoteles
Zum Wort symbebêkos (συμβεβηκός) in den Schriften von Aristoteles
Weitere Zitate von Aristoteles
Auswertung und Zusammenfassung der Literaturanalysen
Vorschlag für eine Übertragung von symbebêkos ins Deutsche
Diskussion weiterer Aussagen zum Wort „symbebêkos“
Diskussion von Beispielen für mögliche Eigenschaften aus Schriften von Aristoteles
Zu den verschiedenen Übersetzungen
Zum Beitrag von Aristoteles zum Begriff „Eigenschaft“
Zu Besonderheiten der Schriften von Aristoteles
Vorbemerkungen
Mein eigentliches Anliegen der Analyse von Schriften des Aristoteles war es, Aussagen zu den Begriffen „Merkmal“ und „Eigenschaft“ zu finden. Es stellte sich dann aber heraus, dass es keine direkten Entsprechungen der Wörter „Merkmal“ und „Eigenschaft“ im Altgriechischen gibt. Ein Vergleich von verschiedenen Übersetzungen gleicher Texte zeigte zudem, dass die Verwendung dieser Wörter in den Übersetzungen stark vom jeweiligen Übersetzer abhängig ist. Auch die im deutschen verbreitete Synonymität der beiden Wörter spiegelt sich in den Übersetzungen wider.
Die Textanalysen ergaben dann aber, dass Aristoteles mit den beiden Wörtern ἴδιος (lat. Proprium) und συμβεβηκός (lat. accidens) interessante Momente des Begriffs „Eigenschaft“ beschrieben hat, die nicht oder selten in der Literatur zu dem Begriff zu finden sind. Deshalb habe ich die Analyse auf diese Wörter beschränkt.
Eine weitere Beschränkung erfolgte auf die Schriften, in denen diese Wörter vor allem zu finden sind: Kategorien (Cat.), Topik (Top.), Metaphysik (Met.) und Physik (Phys.).
Um die teilweise erheblichen Unterschiede in den Übersetzungen zu verdeutlichen, werden zu einigen ausgewählten Textstellen die verschiedenen Übersetzungen miteinander verglichen.
Im Unterschied zu meinen sonstigen Begriffsanalysen ist eine Angabe von Häufigkeiten der Wörter und Analysen wörtlicher Formulierungen nicht sinnvoll. Es können nur Grundgedanken und Herangehensweisen von Aristoteles dargestellt werden.
Die auszugsweise Lektüre der philosophischen Schriften von Aristoteles haben mich zu allgemeinen Überlegungen zu den philosophischen Arbeiten von Aristoteles angeregt, die am Ende der Analysen dargelegt werden sollen.
Zum Wort idion (ἴδιον)[2] in den Schriften von Aristoteles
Literaturanalysen
Wörterbücher
(Bonitz 1961 [Original: 1870])
- Ubi de civitate agitur, vocabulo ἴδιον Privatum a publico distinguitur. Übers. (Google): Wo es um den Staat geht, bedeutet der Begriff ἴδιον: das Private wird vom Öffentlichen unterschieden.
- Omnino vocc ἴδιος, ίδία ea, quae ad unum pertinent hominem rem genus, ab iis distinguuntur, quae latius patent. Übers. (Google): Im Allgemeinen sind die Wörter ἴδιος, ίδία diejenigen, die einer einzelnen Person, einer Art Sache, gehören und sich von denen unterscheiden, die weiter gefasst sind.
- ἴδιον dicitur quod peculiari quodam et insigni discrimine ab aliis distinguuntur vel eminet. Übers. (Google): ἴδιον soll sich durch eine besondere und bemerkenswerte Unterscheidung von anderen unterscheiden.
Liddell and Scott. An Intermediate Greek-English Lexicon. Oxford. Clarendon Press. 1889. (https://www.perseus.tufts.edu/hopper/morph)
- one’s own, pertaining to oneself: and so,
- private, personal, πρῆξις ἥδ᾽ ἰδίη οὐ δήμιος this business is private, not public,
- τὰ ἴδια, either private affairs, private interests,
- peculiar, separate, distinct,
III. regul. comp. is ἰδιώτερος.; Sup. ἰδιώτατος,
- adv. ἰδίως, especially, peculiarly,
(Benseler und Kaegi 1990)
ἴδιος: abgesondert, eigen 1) dem einzelnen angehörig, also: privat, besonders eigentümlich, persönlich, … 3) Subst. τὀ ἴδιον: der eigene Vorteil, die Eigentümlichkeit, dass persönliche, Privatverhältnisse, Privatprozesse, Privateigentum, 4) adv.: α) ιδια eigens, für den einzelnen, für eine Person, persönlich, für sich selbst, besonders, im besonderen β) ιδιως auf eigene Weise, seltsam, im engeren, eigentlichen Sinn
(Menge 2001)
ἴδιος: 1. den einzelnen oder die eigene Person betreffend, dem einzelnen gehörend, eigen, eigentümlich, persönlich, individuell. – übertr. eigentümlich – ungewöhnlich, eigenartig, absonderlich, merkwürdig, seltsam 2. einen einzelnen betreffend, einem Privatmann dazu kommend privativ, von Privatpersonen, als Privatperson, häuslich, im Hause. 3. adv.: α) ιδιως auf eigene – eigentümlich aber besondere Weise, seltsam, im eigenem, eher besonderen Namen, im besonderen, im eigentlichen Sinne β) ιδια eigens, für den einzelnen, für eine Person, persönlich, für sich allein, an und für sich, besonders, apart, im besonderen
Lexika und weitere Literatur
(Höffe 2005) Autor: Tim Wagner
Idion / eigentümlich, Eigentümlichkeit (ἴδιον, lat. proprium). Im gewöhnlichen Sprachgebrauch bezeichnet idion das private Eigentum oder persönliche Züge, durch die jemand sich von anderen unterscheidet. Aristoteles versteht unter einem idion eine Eigenschaft, die einer Sache exklusiv zukommt, ohne ihr wesentlich zu sein. (1) Das idion im strengen Sinne wird definiert als das „was zwar nicht das Wesen erklärt aber allein (dieser Sache) zukommt und an ihrer Stelle ausgesagt werden kann“ (Top. I 5, 102a18-20). … Das klassische, allerdings nicht auf Aristoteles, sondern auf Porphyrius (Einleitung in die Kategorien) zurückgehende Beispiel für eine eigentümliche, aber nicht definitorische Eigenschaft des Menschen ist dessen Fähigkeit, lachen zu können. … Im fünften Buch der Topik, dass dem idion gewidmet ist, verwendet Aristoteles den Terminus sowohl im engen, von der Definition und ihren Bestandteilen abgegrenzten (Top. V 4, 132b19-34) als auch in einem weiten, die Definition einschließenden Sinn (Top. V 4, 132b8-18; vgl. An.post. II 4, 91a15-18). Nicht schlechthin, aber in gewisser Weise idion sind auch Eigenschaften, die nur zeitweilig oder relativ zu etwas anderem eigentümlich sind (Top. I 5, 102a25-30; V 1, 128b25). (2) Adjektivisch gebraucht Aristoteles idion als Gegenbegriff zu koinon. So werden in der Rhetorik Topen, die nur für einen bestimmten Gegenstandsbereich gelten, als Idion bezeichnet und von den gattungsübergreifend verwendbaren Verfahrensanleitungen unterschieden. In Abgrenzung von den mit allen Sinnen wahrnehmbaren Eigenschaften definiert Aristoteles als Idion, „was nicht mit einem anderen Sinnesorgan wahrgenommen werden kann und worüber man sich nicht täuschen kann“ (An. II 6, 418a11f.) (S. 291-292)
HWPh (Ritter et al. 2007) Autoren: Hans-Michael Baumgartner, Petra Kolmer
Proprium (griech. ἴδιον Merkmal, das Eigentümliche) ist ein von ARISTOTELES in seiner die logischen Grundlagen der Argumentationstechnik explizierenden ‹Topik› eingeführter Terminus zur Kennzeichnung derjenigen Prädikate in Aussagen, die ihrem Subjekt zwar nicht wesentlich, jedoch – im Sinne wechselseitiger Implikation – notwendig zukommen. In einer frühen Abhandlung dieser Schrift noch in unspezifischer, sowohl permanente wie relative Attribute und das Akzidens umfassender Bedeutung verwendet (Top. V, 1, 128 b 13ff.), findet sich der Ausdruck zuletzt in – für die Ausbildung der aristotelischen Lehre von den Prädikabilien wichtiger – terminologischer und sachlicher Präzisierung auf dasjenige eingeschränkt, «was zwar nicht das Wesen (τὸ τί ἦν εἶναι) eines Dinges bezeichnet, aber nur ihm zukommt und in der Aussage mit ihm vertauscht wird. So ist es eine Eigentümlichkeit des Menschen, daß er der Grammatik fähig ist; denn wenn er ein Mensch ist, ist er der Grammatik fähig, und wenn er der Grammatik fähig ist, ist er ein Mensch» (Top. I, 5, 102 a 19–22. Übers. E. ROLFES).
Bezeichnet das Proprium wie das Definiens Prädikate, die mit ihrem Subjekt umfangsgleich und daher vertauschbar sind, so benennt es diesem gegenüber unter intensionalem Aspekt eine nicht-essentielle, bloß zusätzliche Bestimmung (accidens proprium), deren Prädikation jedoch anders als die des Akzidens Notwendigkeit beansprucht, insofern einem Subjekt Eigenschaften zugesprochen werden, die ihm nicht nur zeitweilig, sondern an ihm selbst, d.h. aufgrund bzw. infolge einer Wesensbestimmung eignen. Trotz bestehender Unklarheiten bezüglich des Verhältnisses von Proprium und Akzidens per se (συμβεβηκὸς καθ’αὑτό), dem charakteristischen Gegenstand der beweisenden Wissenschaft, weist der Proprium-Begriff jedenfalls die durch ihn klassifizierten Prädikate, da sie in notwendigem Zusammenhang mit dem Wesen des Subjekts stehen, zumindest in ihrer Tauglichkeit für wissenschaftliche Aussagen aus (HWPh Bd. 7, S. 1525).
MLPh (Prechtl und Burkard 2008), Autor: Ulrich Baltzer
Proprium (lat. von griech. idion: Merkmal, Eigentümliches), neben Definition, Gattung und Art ein aristotelischer Grundtyp prädikativer Aussagen. Proprium ist jedes Prädikat, »was zwar nicht das Wesen eines Dinges bezeichnet, aber nur ihm zukommt und in der Aussage mit ihm vertauscht wird. So ist es eine Eigentümlichkeit des Menschen, dass er der Grammatik fähig ist; denn wenn er ein Mensch ist, ist er der Grammatik fähig, und wenn er der Grammatik fähig ist, ist er ein Mensch« (Topik I 5, 102a 19–22). Durch die Umfangsgleichheit von Prädikat und Subjekt kann das Proprium wie ein definitorisches Prädikat mit dem Subjekt vertauscht werden, nennt dabei aber keine wesentliche, sondern eine zusätzliche Bestimmung, die freilich, anders als ein Akzidens, mit dem Subjekt notwendig verbunden ist. Das Proprium ist durch seine modifizierte Fassung in der Isagoge des Porphyrios (Einleitung in die Kategorien) historisch wirksam geworden. Dort ist Proprium auf eine Art sowie die unter sie fallenden Individuen bezogen und klassifiziert in allgemeiner Weise neben Gattung, Art, Differenz und Akzidens prädikative Aussagen. Proprium bezeichnet eine Qualität, die zwar nicht als Wesensbestimmung, aber als eine natürliche Eigenschaft einer ganzen Art, und ihr allein, immer zukommt (Isagoge IV). (S. 488)
EPh (Sandkühler et al. 2010), Stichwort „Ding/Eigenschaft“, Autor: Angelica Nuzzo
In der griech. Philosophie verweist das Ding/Eigenschaft-Verhältnis – als das Problem von idion und hypokeimenon – sowohl auf das Problem der logischen Prädikation als auch auf die Frage nach dem ontologischen Status der Eigenschaft (als Attribut oder accidens). Aristoteles – und nach ihm Porphyrios – analysiert in der Topica die verschiedenen Bedeutungen des idion als eines der Prädikabilien. Allgemein heißt es: »Eigenschaft ist etwas, das, wenn es auch das Wesen eines Dinges nicht aufweist, dem Ding allein angehört und von ihm umgekehrt prädiziert wird – z.B. es ist eine Eigenschaft des Menschen, dass er die Grammatik lernen kann«. Speziellere Bestimmungen sind: (a) Eigenschaft ist bestimmter das, was einer einzigen Art, aber nicht allen ihrer Individuen angehört (z.B. dem Menschen die Eigenschaft, ein Geometer zu sein); die Eigenschaft drückt in diesem Sinne das eigene Vermögen des Ding aus; (b) Eigenschaft ist das, was allen Individuen einer Art, aber nicht jener Art allein, angehört (z.B. dem Menschen die Eigenschaft, zweifüßig zu sein); (c) Eigenschaft ist das, was einer ganzen Art, und ihr allein, jedoch nur vorübergehend angehört (z.B. dem Menschen die Eigenschaft, im Alter weise zu werden); ›Eigenschaft‹ bezeichnet damit eine bestimmte Fähigkeit eines Ding; (d) Eigenschaft ist das, was einer ganzen Art, ihr allein und stets angehört (z.B. dem Menschen die Eigenschaft, dass er lächeln kann); Eigenschaft wird hier im Sinne der bloßen Möglichkeit verstanden (S. 428b-429).
(Simon 2021)
„Das idion bedeutet bei Aristoteles im engeren Sinne ein Merkmal, das einerseits exklusiv ist, also eine Differenz zeichnet, die das konkrete Seiende von allen anderen trennt, gibt aber das Wesen dieses Seienden nicht an (Topik 102a 18–20)“ (Simon 2021, S. 208).
Vergleiche von Übersetzungen
Topik I 5, 102a18-21
(Nuzzo 2010)
Eigenschaft ist etwas, das, wenn es auch das Wesen eines Dinges nicht aufweist, dem Ding allein angehört und von ihm umgekehrt prädiziert wird – z.B. es ist eine Eigenschaft des Menschen, dass er die Grammatik lernen kann (S. 128b)
(Höffe 2005)
Das idion im strengen Sinne wird definiert als das „was zwar nicht das Wesen erklärt aber allein (dieser Sache) zukommt und an ihrer Stelle ausgesagt werden kann“ (S. 291).
(Aristoteles 2019b) Übersetzer: Hans Günter Zekl
Eigentümlich ist, was zwar nicht das »was-es-sein-sollte« bezeichnet, doch dem (in Frage stehenden) Gegenstand allein zukommt und es wechselweise voneinander ausgesagt wird. Z. B. ist es Eigentümlichkeit des Menschen, der Schriftkunst fähig zu sein: Wenn er denn Mensch ist, so ist er der Schriftkunst fähig, und wenn er der Schriftkunst fähig ist, so ist er ein Mensch.
(Aristoteles 2021) Übersetzer: Tim Wagner und Christof Rapp
Eine Eigentümlichkeit ist das, was zwar nicht das Was-es-hieß-dies-zu-sein bezeichnet, was aber ausschließlich dieser Sache zukommt und an ihrer Stelle ausgesagt werden kann. Beispielsweise ist es eine Eigentümlichkeit des Menschen, dass er Lesen und Schreiben lernen kann. Denn wenn etwas ein Mensch ist, dann kann es Lesen und Schreiben lernen; und wenn es Lesen und Schreiben lernen kann, dann ist es ein Mensch.
Bemerkungen zu Unterschieden:
- Es entspricht nicht den Intensionen von Aristoteles, die in dem Wort „idion“ enthalten sind, es mit „Eigenschaft“ zu übersetzen, wie es Angelica Nuzzo in der Enzyklopädie der Philosophie tut. Eine Eigenschaft kommt in der Regel nicht exklusiv einer einzigen Sache zu und kann deshalb auch nicht an ihrer Stelle ausgesagt werden. So ist es auch eine Eigenschaft des Menschen, dass er auf zwei Beinen laufen kann, was aber auch für andere Lebewesen zutrifft.
- Höffe verwendet bei seinen Erklärungen primär das griechische Wort idion, daneben aber auch eigentümlich, Eigentümlichkeit und eigentümliche Eigenschaft. Mit der Verwendung des originalen griechischen Wortes bleibt man nahe am Text von Aristoteles. Bei der Verwendung der dominierenden Übersetzung Eigentümlichkeit muss noch ein Vergleich der aktuellen Bedeutungen des Wortes und der Bedeutung von idion Aristoteles erfolgen.
- Nuzzo und Wagner/Rapp sprechen im Unterschied zu Zekl, von der Eigenschaft des Menschen, dass er Grammatik bzw. Lesen und Schreiben lernen kann, während Zekl davon spricht, dass der Mensch der Schriftkunst fähig ist, was für ein Kleinkind oder einen Analphabeten nicht zutrifft.
Topik V 1, 128b16-26
(Aristoteles 1995a) Übersetzer: Eugen Rolfes
Man stellt etwas in dem Sinne als Proprium auf, dass es einem Subjekt entweder an sich und immer, oder im Verhältnis zu einem anderen und zeitweilig zukommen soll. So ist z. B. Proprium an sich für den Menschen das Merkmal: von Natur zahmes Sinnenwesen; Proprium im Verhältnis zu einem anderen ist z. B. für die Seele im Verhältnis zum Leibe, dass das eine herrscht, das andere dient; ein immer vorhandenes Proprium ist zum Beispiel für Gott das Merkmal: unsterbliches Lebewesen; und endlich ist ein zeitweilig vorhandenes proprium z. B. für einen einzelnen Menschen, dass er auf dem Übungsplatz spazieren geht (und sonst niemand).
(Aristoteles 2019b) Übersetzer: Hans Günter Zekl
Ob nun aber das je Behauptete eine eigentümliche Eigenschaft ist oder nicht eigentümlich, ist mittels folgender (Gesichtspunkte) zu prüfen. Die Eigentümlichkeit wird gegeben (a) als »an sich« (bestehend) und (b) »immer« (zutreffend), (c) »im Verhältnis zu einem anderen« und (d) »auf Zeit«, z. B.: An und für sich von »Mensch« (die Eigentümlichkeit) »Lebewesen, gesittet nach Naturanlage«; im Verhältnis zu einem anderen z. B. das von »Seele« zu »Leib«: Das eine ist »Anordnung gebend«, das andere »dienend«; (Beispiel für) immer : (Eigentümlichkeit) von »Gott« (ist) »Lebewesen, unsterblich«, (für) auf Zeit : (Eigentümlichkeit) »dieses bestimmten Menschen« (ist) »auf dem Sportplatz herumlaufen« (S. 101).
(Aristoteles 2021) Übersetzer: Tim Wagner und Christof Rapp
Angegeben wird die Eigentümlichkeit entweder an sich und immer oder in Bezug auf anderes und manchmal. An sich ist es zum Beispiel dem Menschen eigentümlich, das von Natur aus zahme Lebewesen zu sein, in Bezug auf anderes dagegen ist es zum Beispiel der Seele gegenüber dem Körper eigentümlich, dass sie gebietend, er aber gehorchend ist; immer ist es zum Beispiel wiederum Gott eigentümlich, ein unsterbliches Lebewesen zu sein, manchmal ist dagegen zum Beispiel irgendeinem Menschen eigentümlich, im Gymnasium herumzugehen (S. 145).
Bemerkungen zu Unterschieden:
- Generell kann man feststellen, dass sich die Übersetzungen dieser zentralen Stelle im Werk von Aristoteles zur Erklärung des Begriffs „idion“ sowohl in der Wortwahl als teilweise auch im Inhalt erheblich unterscheiden.
Die Interpretation der Werke von Aristoteles ist also abhängig von der Art der Übersetzung, insbesondere, wenn es um die Wortwahl geht. - Rolfes verwendet nur das Wort „Proprium“ und nicht wie die anderen Übersetzer das Wort Eigentümlichkeit bzw. eigentümlich.
- Rolfes spricht vom Proprium als einem Merkmal eines Subjektes, wobei noch zu untersuchen wäre, was er unter einem Subjekt versteht. Die anderen Übersetzer verwenden das Adjektiv eigentümlich bzw. die Eigentümlichkeit von …
Bemerkung: Es ist fraglich, ob Aristoteles neben dem Wort „Proprium (idion)“ noch ein Wort für „Merkmal“ verwendet. Die Formulierungen von Zekl und Wagner/Rapp scheint mir angemessener zu sein. - Die Übersetzung von Zekl fällt sowohl von der äußeren Form her als auch von ihrer Logik aus dem Rahmen. Bei Aristoteles sind mit Sicherheit nicht die Untergliederung a) bis d) und die Hervorhebungen und Einschübe zu finden. Problematischer ist jedoch, dass die logische Struktur der Alternative (entweder … oder) von Aristoteles nicht erfasst wird. Die vier Unterpunkte sind nicht als gleichwertig anzusehen. Es gibt entsprechend der beiden anderen Übersetzungen nur zwei Fälle: entweder an sich und immer oder in Bezug auf anderes und manchmal.
Weitere Zitate von Aristoteles
Topik, Übersetzer: Tim Wagner und Christof Rapp
Niemand bezeichnet nämlich als Eigentümlichkeit etwas, dass auch anderen zu kommen kann, beispielsweise „Schlafen“ als Eigentümlichkeit eines Menschen, selbst dann nicht, wenn es zufällig zu einer bestimmten Zeit ausschließlich ihm zukäme. Wenn also auch etwas Derartiges als Eigentümlichkeit bezeichnet wird, dann nicht schlechthin, sondern man müsste es „zeitweilige“ oder „relative“ Eigentümlichkeiten nennen. Denn auf der rechten Seite zu sein ist eine zeitweilige Eigentümlichkeit, und Zweibeinigkeit ist gelegentlich eine relative Eigentümlichkeit, beispielsweise für den Menschen relativ zu Pferd und Hund. Das von dem, was auch auf etwas anderes zutreffen kann, nichts anstelle der Sache ausgesagt werden kann, ist klar. Denn es ist nicht notwendig, dass, wenn etwas schläft, dies ein Mensch ist (I 5, 102a24-31).
Die Eigentümlichkeit an sich ist aber das, was in Bezug auf alles angegeben wird und von allem trennt, zum Beispiel die Eigentümlichkeit des Menschen, ein sterbliches und für Wissen empfängliches Lebewesen zu sein (V I, 128b34-37).
Metaphysik, Übersetzer: Herrmann Bonitz, bearb. Host Seidl
Denn wie die Zahl als Zahl besondere Eigenschaften hat, z. B. Ungeradheit und Geradheit, Verhältnis und Gleichheit, Übermaß und Mangel, was den Zahlen sowohl an sich als in Beziehung auf einander zukommt; und ebenso das Solide, das Unbewegte und das Bewegte, das Schwerelose und das Schwere andere Eigenschaften hat: ebenso hat auch das Seiende als solches gewisse eigentümliche Merkmale, und sie sind es, hinsichtlich deren der Philosoph die Wahrheit zu erforschen hat (1004b16-24).
Auswertung und Zusammenfassung der Literaturanalysen
Bedeutungen in Wörterbüchern
Die Analysen von Wörterbüchern und die Vergleiche von Übersetzungen haben ergeben, dass es für die Wörter „Merkmal“ und „Eigenschaft“ keine Entsprechungen bei Aristoteles gibt. Sie treten nur in wenigen Übersetzungen, insbesondere bei den von Zekl auf und werden dann meist synonym verwendet.
Das Adjektiv bzw. substantivierte Adjektiv ἴδιος bzw. in seiner sächlichen Form ἴδιον hat entsprechend den gesichteten Wörterbüchern mehrere Bedeutungen.
- Privates im Unterschied zum Öffentlichen (Bonitz, Liddell & Scott), entsprechend auch Privateigentum, Privatverhältnisse (Benseler & Kaegi, Wagner), dem einzelnen gehörend (Bauer, Menge), privativ, von Privatpersonen, als Privatperson (Menge)
- einer Person oder einer Sache zugehörend (Bonitz, bauer, Benseler & Kaegi), das eigene, sich selbst betreffend (Liddell & Scott, Menge), persönlich, individuell (Menge),
- soll sich durch eine besondere und bemerkenswerte Unterscheidung von anderen unterscheiden (Bonitz), eigenartig, getrennt, deutlich, besonders (Liddell and Scott), dem einzelnen eigentümlich (Bauer), eigentümlich, ungewöhnlich, eigenartig, absonderlich, merkwürdig, seltsam (Menge 2001), besonders eigentümlich (Benseler und Kaegi 1990)
Die ersten beiden Bedeutungen haben viele gemeinsame Seme. In der dritten Bedeutung kommen neben dem Bezug zu einer Person oder Sache durch die Adjektive eigenartig, ungewöhnlich, eigentümlich u. a. hinzu, und dass es sich um etwas Besonderes handelt.
Bedeutungen bei Aristoteles und in der weiteren Literatur
In den gesichteten Schriften von Aristoteles, den Lexika und der weiteren Literatur sind unter anderem folgende Formulierungen zum Wort „ἴδιον/ ἴδιος“ enthalten.
Dabei bedeuten A … Aristoteles (Übersetzungen nach Rolfes, Wagner/Rapp, Bonitz), W … Wagner in Höffe 2005, B/K … Baumgarten und Kolmer in HWPh 2007, B … Baltzer in MLPh 2008, N … Nuzzo in EPh 2010, S … Simon 2021
- eigentümlich/Eigentümlichkeit (W)
- Merkmal, das Eigentümliche (B/K, B)
- Eigenschaft (N)
- im gewöhnlichen Sprachgebrauch das private Eigentum oder persönliche Züge (W)
- eine Eigenschaft, die einer Sache exklusiv zukommt, ohne ihr wesentlich zu sein (W)
- was zwar nicht das Wesen erklärt aber allein (dieser Sache) zukommt und an ihrer Stelle ausgesagt werden kann (A, W, B/K, B, N)
- Merkmal, das einerseits exklusiv ist, also eine Differenz zeichnet, die das konkrete Seiende von allen anderen trennt, gibt aber das Wesen dieses Seienden nicht an (S)
- Durch die Umfangsgleichheit von Prädikat und Subjekt kann das Proprium wie ein definitorisches Prädikat mit dem Subjekt vertauscht werden, nennt dabei aber keine wesentliche, sondern eine zusätzliche Bestimmung, die freilich, anders als ein Akzidens, mit dem Subjekt notwendig verbunden ist (B).
- Nicht schlechthin, aber in gewisser Weise idion sind auch Eigenschaften, die nur zeitweilig oder relativ zu etwas anderem eigentümlich sind (A, W)
- Idion ist Gegenbegriff zu koinon (gemeinsam) (A, W).
- Prädikate in Aussagen, die ihrem Subjekt zwar nicht wesentlich, jedoch – im Sinne wechselseitiger Implikation – notwendig zukommen (B/K)
- eine nicht-essentielle, bloß zusätzliche Bestimmung (accidens proprium), deren Prädikation jedoch anders als die des Akzidens Notwendigkeit beansprucht, insofern einem Subjekt Eigenschaften zugesprochen werden, die ihm nicht nur zeitweilig, sondern an ihm selbst, d.h. aufgrund bzw. infolge einer Wesensbestimmung eignen (B/K)
- Eine Eigentümlichkeit ist das, was zwar nicht das Was-es-hieß-dies-zu-sein bezeichnet, was aber ausschließlich dieser Sache zukommt und an ihrer Stelle ausgesagt werden kann. (A)
- Angegeben wird die Eigentümlichkeit entweder an sich und immer oder in Bezug auf anderes und manchmal. (A)
- Niemand bezeichnet nämlich als Eigentümlichkeit etwas, dass auch anderen zu kommen kann, beispielsweise „Schlafen“ als Eigentümlichkeit eines Menschen, selbst dann nicht, wenn es zufällig zu einer bestimmten Zeit ausschließlich ihm zukäme. Wenn also auch etwas Derartiges als Eigentümlichkeit bezeichnet wird, dann nicht schlechthin, sondern man müsste es „zeitweilige“ oder „relative“ Eigentümlichkeiten nennen (A)
- Die Eigentümlichkeit an sich ist aber das, was in Bezug auf alles angegeben wird und von allem trennt, zum Beispiel die Eigentümlichkeit des Menschen, ein sterbliches und für Wissen empfängliches Lebewesen zu sein (A)
- Ebenso hat auch das Seiende als solches gewisse eigentümliche Merkmale, und sie sind es, hinsichtlich deren der Philosoph die Wahrheit zu erforschen hat. (A)
- Speziellere Bestimmungen sind: (a) Eigenschaft ist bestimmter das, was einer einzigen Art, aber nicht allen ihrer Individuen angehört (z.B. dem Menschen die Eigenschaft, ein Geometer zu sein); die Eigenschaft drückt in diesem Sinne das eigene Vermögen des Ding aus; (b) Eigenschaft ist das, was allen Individuen einer Art, aber nicht jener Art allein, angehört (z.B. dem Menschen die Eigenschaft, zweifüßig zu sein); (c) Eigenschaft ist das, was einer ganzen Art, und ihr allein, jedoch nur vorübergehend angehört (z.B. dem Menschen die Eigenschaft, im Alter weise zu werden); ›Eigenschaft‹ bezeichnet damit eine bestimmte Fähigkeit eines Ding; (d) Eigenschaft ist das, was einer ganzen Art, ihr allein und stets angehört (z.B. dem Menschen die Eigenschaft, dass er lächeln kann); Eigenschaft wird hier im Sinne der bloßen Möglichkeit verstanden (N nach Porphyrios)
Aus den Formulierungen ist erkennbar, dass Aristoteles das Wort „ἴδιον“ in der dritten, in denen Wörterbüchern angegebenen Bedeutung verwendet. Wagner (Höffe 2005) weist auf die beiden anderen Bedeutungen hin, die er als gewöhnlichen Sprachgebrauch bezeichnet.
Baumgarten und Kolmer (HWPh 2007), Baltzer (MLPh 2008) und Simon (2021) verwenden den Oberbegriff „Merkmal“ und Wagner (Höffe 2005) sowie Nuzzo (EPh 2010) den Oberbegriff „Eigenschaft“. Beides ist nicht durch die Übersetzungen in den Wörterbüchern gedeckt. Die Wörter „Merkmal“ und „Eigenschaft“ werden zudem oft synonym gebraucht. In den verwendeten Übersetzungen treten sie bis auf wenige Ausnahmen („gewisse eigentümliche Merkmale“, Übersetzung von Bonitz) nicht auf. Lediglich Nuzzo verwendet in ihrer Übersetzung aus Porphyrios das Wort „Eigenschaft“ ohne Quellennachweis. In der Übersetzung des Textes (Porphyrios IV, 4a14ff.) sowohl von Rolfes als auch von Zekl tritt das Wort „Eigenschaft“ nicht auf, Rolfes spricht von „Proprium (Die Eigentümlichkeit)“ und Zekl von „Das Eigentümliche“ und „Eigentümlichkeit“.
Die von Nuzzo wiedergegebene Zusammenfassung der Auffassungen von Aristoteles durch Porphyrios entspricht nicht den Verwendungen des Wortes idion bei Aristoteles und wird auch von Nuzzo z. T. nicht immer richtig kommentiert. So ist die Zweifüßigkeit nach Aristoteles gerade kein Proprium des Menschen und das oft als Musterbeispiel genannte Eigentümlichkeit des Menschen, dass er lachen kann, ist nicht als mögliche Eigenschaft zu verstehen, es geht vielmehr um die Fähigkeit lachen zu können, die eine notwendige Eigenschaft ist.
Insgesamt kann festgestellt werden, dass mit den wenigen, genannten Ausnahmen die Übertragung von „ἴδιον“ bzw. „ἴδιος“ ins Deutsche mit den Worten „Eigentümlichkeit“ bzw. „eigentümlich“ erfolgt. Die angeführten Beschreibungen lassen in folgenden Punkten zusammenfassen.
- Die Eigentümlichkeit kommt einem Seienden, insbesondere einer Sache oder Person zu.
- Eine Eigentümlichkeit kommt ausschließlich der jeweiligen Sache zu und kann an ihrer Stelle ausgesagt werden.
- Eine Eigentümlichkeit gibt nicht das Wesen eines Seienden an.
- Die Eigentümlichkeit kann auch nur zeitweilig oder relativ zu etwas anderem bestehen.
Die letzte Aussage, die Aristoteles durch „in gewisser Weise“ und „Eigentümlichkeit nicht schlechthin“ relativiert, wird nicht von allen geteilt. Nach Baumgarten und Kolmer (HWPh 2007) wird eine Eigentümlichkeit einem Subjekt nicht nur zeitweilig zugesprochen.
Vorschlag für einen philosophischen Begriff „Eigentümlichkeit“
Die Wörter „Eigentümlichkeit“ und „eigentümlich“ sind bisher keine philosophischen Fachtermini, sie sind als Stichworte nicht im HWPh enthalten, werden aber durchaus, wenn auch selten verwendet, wie die folgenden Häufigkeiten im HWPh zeigen (in Klammern: Ergebnisse pro 100 Seiten).
- Eigentümlichkeit: 187 (2,2) Ergebnisse
- eigentümlich: 247 (2,9) Ergebnisse
- Eigentümliches: 36 (0,4) Ergebnisse
In der Alltagssprache haben die Wörter nach dem DWDS folgende Bedeutungen:
- Eigentümlichkeit: 1. Seltsamkeit, Merkwürdigkeit; 2. charakteristischer Zug
- eigentümlich: 1. seltsam, merkwürdig, verwunderlich; 2. jmdm. allein gehörend, für jmdn. charakteristisch
Die Wörter sind also in der Alltagssprache verständlich und die jeweils zweite Bedeutung kann als Grundlage für einen philosophischen Begriff gewählt werden. Sie werden allerdings sehr selten verwendet, die Frequenz von „eigentümlich“ ist 1,5 und von „Eigentümlichkeit“ 0,2.
Im Folgenden wird ein Vorschlag für einen philosophischen Begriff „Eigentümlichkeit“ unterbreitet. Mit dem dabei verwendeten Begriff „Objekt“ ist ein beliebiges Existierendes gemeint, also nichtmentale Objekte wie Gegenstände oder Lebewesen und mentale Objekte wie Gedanken oder Zusammenhänge. Es kann sich um einen Zustand oder einen Vorgang, um ein singuläres Objekt wie ein bestimmter Mensch oder um eine Klasse von Objekten wie der Mensch im Allgemeinen handeln (vgl. https://philosophie-neu.de/analyse-zu-den-termini-ding-sache-gegenstand-und-objekt/).
Definierende Momente des Begriffs „Eigentümlichkeit“
Die Eigentümlichkeit ist eine besondere Art von Eigenschaften eines Objektes. Die Eigenschaft der Eigentümlichkeit beinhaltet einen Bezug des betreffenden Objektes mit dieser Eigenschaft zu einer Menge von Objekten derart, dass ausschließlich das betreffende Objekt die Eigenschaft hat, d. h alle anderen Objekte der Menge haben sie nicht. Ein Objekt kann eine eigentümliche Eigenschaft auch nur zeitweise haben.
Aus diesen definierenden Momenten des Begriffs kann man weitere ableiten.
- Im Unterschied zu der üblichen Angabe einer Eigenschaft eines Objektes ist es bei einer eigentümlichen Eigenschaft erforderlich, eine Bezugsmenge von Objekten anzugeben.
- Neben der Angabe einer Bezugsmenge ist im Prinzip auch die Angabe eines Zeitraums erforderlich, in dem dieser Eigenschaft eigentümlich ist. Auf die Angabe eines Zeitraums kann verzichtet werden, wenn dieser aus dem Kontext hervorgeht.
- Da es in der gegebenen Menge von Objekten nur ein einziges Objekt gibt, das die eigentümliche Eigenschaft hat, ist durch die Angabe dieser Eigenschaft zugleich eindeutig das betreffende Objekt festgelegt.
- Für die Existenz des Objektes ist die eigentümliche Eigenschaft notwendig. Dies gilt ebenfalls für wesentliche Eigenschaften eines Objektes. Eine eigentümliche Eigenschaft kann zu den wesentlichen Eigenschaften gehören, muss es aber nicht.
Man kann bei einer eigentümlichen Eigenschaft nicht davon sprechen, dass sie charakteristisch ist. Eine charakteristische Eigenschaft eines Objektes können durchaus auch andere Objekte der betreffenden Menge besitzen.
Das zum Teil in den philosophischen Schriften genannte Moment der Eigentümlichkeit, dass sie auch in Bezug auf andere Objekte gelten könne, ist kein Moment der Eigentümlichkeit im oben erklärten Sinne. Es geht immer um den Bezug eines Elementes einer Menge zu allen anderen Elementen der Menge. Dies wurde möglicherweise von Aristoteles so nicht gesehen. Bei dem dafür genannten Beispiel, dass die Seele in Bezug auf den Körper die eigentümliche Eigenschaft hat, gebietend zu sein, geht es um den Spezialfall einer Menge von zwei Objekten, Seele und Körper. Bei zwei unterschiedlichen Objekten ist jede Eigenschaft des einen immer eigentümlich, es sein denn, es ist eine gemeinsame Eigenschaft.
Dies betrifft auch das Beispiel, dass der Mensch gegenüber dem Pferd die eigentümliche Eigenschaft hat, zweibeinig zu sein. Man könnte in Bezug auf die Menge der Säugetiere sagen, dass der Mensch die eigentümliche Eigenschaft hat, gewohnheitsmäßig auf zwei Beinen laufen zu können (Bipedie). Andere Säugetiere wie etwa Kängurus oder Schimpansen können zwar auch zeitweilig auf zwei Beinen laufen, sind jedoch morphologisch nicht vollständig an diese Fortbewegungsform angepasst. In der Biologie wird zwischen habitueller (obligater, gewohnheitsmäßiger) Bipedie und fakultativer (möglicher) Bipedie unterschieden (Wikipedia).
In den philosophischen Schriften wird als ein Moment der Eigentümlichkeit oft hervorgehoben, dass sie zwar notwendig ist aber nicht das Wesen charakterisiert. Dies trifft für die angegebenen Beispiele, etwa die eigentümliche Eigenschaft eines Menschen, lachen zu können, zwar zu, ist aber generell keine notwendige Bedingung für eine eigentümliche Eigenschaft in dem definierten Sinne.
Ich halte es für sinnvoll, die Eigentümlichkeit im Anschluss an Aristoteles als eine besondere Art von Eigenschaften im oben genannten Sinne zu erklären. Im Unterschied zu den übrigen Eigenschaften ist man in diesem Fall gezwungen, einen Bezug zu einer Menge von Objekten bzw. einem bestimmten Zeitraum anzugeben. Die zeitliche Abhängigkeit der Eigentümlichkeit ist ein generelles Moment des Eigenschaftsbegriffs, das in seinem dynamischen Charakter zum Ausdruck kommt. Dieser dynamische Charakter wird heute nach meinen Literaturanalysen oft nicht berücksichtigt. Insbesondere in der Psychologie werden Persönlichkeitseigenschaften als stabil angesehen, was für empirische Untersuchungen dieser Eigenschaften eine notwendige Voraussetzung ist. Es sollte aber beachtet werden, dass es sich um ein Realmodell handelt.
Diskussion von Beispielen für eigentümliche Eigenschaften aus Schriften von Aristoteles
Es sollen einige Beispiele diskutiert werden, die Aristoteles im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zum Wort idion verwendet.
- Die Fähigkeit eines Menschen lachen zu können, wurde bis in die Neuzeit als eigentümliche Eigenschaft eines Menschen Bezug auf die Menge der Lebewesen angesehen. Neuere Forschungen haben aber gezeigt, dass es auch viele Tiere gibt, die lachen können. Die Fähigkeit lesen und schreiben lernen zu können ist für einen geistig gesunden Menschen eigentümlich in Bezug auf die Menge aller Menschen. Die Eigenschaft, dass der Mensch der Grammatik fähig ist, ist für einen geistig gesunden Menschen eigentümlich für den Zeitraum nach dem Erlernen der Grammatik.
- Sterblich zu sein ist für den Menschen in Bezug auf alle Lebewesen keine eigentümliche Eigenschaft, da auch andere Lebewesen sterblich sind.
- Auch das Schlafen ist für einen Menschen nicht eigentümlich, da auch andere Lebewesen schlafen können.
- Auf dem Sportplatz herumzugehen kann für einen Menschen in Bezug auf eine Gruppe von Menschen eine zeitweilig eigentümliche Eigenschaft sein, wenn er aus dieser Gruppe der Einzige ist, der in einem bestimmten Zeitraum auf dem Sportplatz herum geht.
Zum Wort symbebêkos (συμβεβηκός[3]) in den Schriften von Aristoteles
Literaturanalysen
Wörterbücher
(Bonitz 1961 [Original: 1870])
συμβαίνειν
- Convenire, quadrare Übers.: treffen, quadrieren
- Evenire Übers.: passieren
- Ab eveniendi serie et ordine saepe transfertur ad concludendi necessitatem Übers. (Google): Es wird oft von der Abfolge und Reihenfolge der Ereignisse auf die Notwendigkeit übertragen, einen Schluss zu ziehen.
- συμβεβηκός, id quod fortuito alicui substantiae inhaeret ac vere de ea praedicatur. Übers. (Google): συμβεβηκός, ist das, was nebenbei an einer Substanz haftet und wirklich davon ausgesagt wird.
Liddell and Scott. An Intermediate Greek-English Lexicon. Oxford. Clarendon Press. 1889. (https://www.perseus.tufts.edu/hopper/morph)
συμβαίνω
- Pass., to stand with the feet together,
- to stand with, so as to assist,
- to meet,
- metaph. to come together, come to an agreement, come to terms, Lat. convenire,
- of things, to coincide or correspond with,
- to fall to one’s lot,
III. of events, to come to pass, happen, Lat. contingere, τὸ συμβεβηκός a chance event, contingency
- joined with Adverbs or Adjectives, to turn out in a certain way
- of consequences, to result, follow
(Benseler und Kaegi 1990)
συμβαίνω:
1) zusammen gehen, zur Seite gehen, übertr. zusammenpassen. 2) übereinkommen, eine Übereinkunft treffen, einen Vertrag schließen, … eingehen, sich vertragen, sich einigen, etwas ausmachen, übereinstimmen, … 3) Zusammentreffen, gelingen, in Ordnung sein, folgen, dabei herauskommen, hervorgehen, sich ergeben, … Sich ereignen, eintreten, widerfahren. Im bes. a) ausfallen, einen Ausgang haben, eintreffen … b) von Messungen u. Ähnl. Ausmachen, betragen …
Oft unpersönlich συμβαίνει, der Anlass dazu tritt ein, es trifft sich, folgt, gelingt, … συμβαίνον das was folgt, … τό συμβεβηκός das Zufällige, die Nebensache, … (S. 859)
(Menge 2001)
συμβαίνω:
- mit-, zusammen gehen – 2. Zusammenkommen, – treten, sich vereinigen. … 3. zutreffen, eintreffen. insb. a) (von Rechnungen , Messungen) zusammen ausmachen … b) folgen, sich ergeben c) gelingen, in Erfüllung gehen d) sich ereignen, sich zutragen, geschehen, … τό συμβεβηκός Geschehenes, Ereignis, Vorgang, Begebenheit, (zufälliger) Umstand, etwas Nebensächliches
συμ-βεβηκότως, adv. part. perf. act. zu συμβαίνω, zufälligerweise,
Lexika und weitere Literatur
(Höffe 2005), Autor: Michael-Thomas Liske
Symbebêkos/akzidentell: (συμβεβηκός, lat. accidens). Von seiner Etymologie her bezeichnet symbebêkos das, was sich faktisch ergeben hat, was gerade so zusammengekommen ist. Der Gegensatz kath‘ hauto – kata symbebêkos (lat. per se – per accidens; an sich – akzidentell) bezeichnet daher das, was an sich oder Kraft eines begrifflichen Zusammenhanges gilt, im Unterschied zu dem bloß faktisch geltenden. Darauf zielen auch Aristoteles‘ Definitionen des symbebêkos. Zwei finden sich in Top. I 5, 102b4-7: „Akzidentell ist, was … (1) weder eine Definition noch eine eigentümliche Bestimmung noch eine Gattung ist, was der Sache aber [faktisch] zukommt und was (2) ein und demselben sowohl zukommen wie nicht zukommen kann“. (1) grenzt das Akzidentelle von verschiedenen Formen einer an sich zukommenden Bestimmung ab: dem Wesensbegriff (Definition), der Gattung als dem allgemeinen Element innerhalb der Wesensbestimmung und dem Proprium, das zwar nicht als ein wesentliches Merkmal in die Definition seines Objekts eingeht, umgekehrt aber in seinem Begriff ein so und so definiertes Objekt voraussetzt. Damit ist das symbebêkos als eine bloß faktisch zukommende Bestimmung erwiesen. Dies präzisiert (2) als kontingentes Gelten im Sinne der zweiseitigen Möglichkeit, dass eine Bestimmung ihrem Subjekt gleichermaßen beiwohnen wie abgehen kann, ohne dass dies seine Identität gefährdet. Nur akzidentelle Bestimmungen lassen graduelle Vergleiche zu, ob ein Prädikat in höherem oder geringerem Grad zukommt (102b14-20); Wesensbestimmungen kommen einem Subjekt entweder zu oder nicht zu.
Met. V 30 entwickelt einen Begriff des symbebêkos, der zum Zufälligen zugespitzt ist: Hier wird das symbebêkos als das definiert, „was einem Subjekt zwar zukommt und [daher] wahrheitsgemäß [von ihm] Aussage bei ist, freilich weder notwendig noch meistenteils“ (1025a14f.). Darüber hinaus „gibt es keine wohldefinierte Ursache für das Akzidentelle, sondern Ursache ist das, was sich zufällig ergibt (24f.). Ein Geschehen, das einem Subjekt bloß akzidentell zugeschrieben wird, ist zwar nicht völlig unverursacht. Seine Ursache ist aber eine Konstellation, die sich bloß zufällig oder faktisch im Einzelfall ergeben hat. Damit ist die Ursache nicht genau abgegrenzt, wohl bestimmt, wo definiert; definieren lässt sich nämlich nur die Art. Aus diesem Typ von Ausgangsbedingungen, wie sie im Subjekt impliziert sind, folgt das im Prädikat beschriebene Geschehen nicht einmal meistenteils als regelmäßiges Naturgeschehen, geschweige denn immer oder mit Notwendigkeit (a17f.).
Das symbebêkos ist neben dem kath‘ hauto noch aus einem zweiten Gegenbegriffe heraus zu verstehen, dem der Substanz. Hierzu ist Met. IV 4, 1007a33-b18 bemerkenswert: Ein Akzidens kann nicht einem anderen Akzidens zugeschrieben werden. Dies ergäbe eine beliebige Häufung bloß faktisch zukommende Bestimmungen, ohne dass eine genuine Einheit zustande käme, weil ja jeder begriffliche Zusammenhang fehlt. Vielmehr müssen die Akzidentien auf die ousia als Zentrum bezogen werden, die – als wesentlich bestimmt – den Maßstab bildet, welche beiläufigen (akzidentielle) Bestimmungen ihr zukommen können, sodass eine begriffliche Einheit entsteht, und die – als letztes Substrat – einen unendlichen Regress fortgesetzt voneinander auszusagender Akzidentien verhindert.
(Ritter et al. 2007) HWPh, Stichwort: Accidens praedicabile, Autor: Hans-Michael Baumgartner
Accidens praedicabile (griech. συμβεβηκός, das Zufällige, Unwesentliche) ist ein von ARISTOTELES in seiner Schrift Topik, welche die Grundlagen von Begriffsbildung und Argumentation erörtert, in kritischer Absicht eingeführter Terminus zur Bezeichnung derjenigen allgemeinen Prädikate, die, sofern sie in keinem angebbaren inneren und notwendigen Zusammenhang mit dem Wesen des Subjekts der Aussage stehen, zur Bestimmung des Wesensbegriffs, zur Definition und mithin für wissenschaftliche Aussagen überhaupt unbrauchbar sind. Der Begriff des Accidens ist sonach kritisches Instrument der Unterscheidung wissenschaftlicher und sophistischer Begriffsbildung bzw. Disputation. (HWPh Bd. 1, S. 72)]
(Ritter et al. 2007) HWPh, Stichwort: Substanz; Substanz/Akzidens, Autor: Jens Halfwassen
Eine Speusipp eng verwandte οὐσία-Konzeption vertritt der frühe ARISTOTELES in der ‹Kategorienschrift›. Mit Platon unterscheidet er zwischen Substanzen (οὐσίαι), die begrifflich und seinsmäßig selbständig (χωριστόν) sind, und unselbständigen Akzidenzien (συμβεβηκότα); neu ist, daß diese einer Substanz als Substrat inhärieren (ἐν ὑποκειμένῳ εἶναι), ferner ihre Gliederung in neun Akzidens-Kategorien (HWPh Bd. 10, S. 497)
(Prechtl und Burkard 2008) MLPh, Stichwort: Akzidens, akzidentell, Autor: Martin F. Meyer
das Nicht-Notwendige, Zufällige im Gegensatz zum Wesentlich-Substantiellen. … Es sind verschiedene Bedeutungsebenen zu unterscheiden: (1) Im logischen (für die Begriffsgeschichte primären, weil gegen die sophistischen Fehlschlüsse gewandten) Sinn ist akzidentell das von etwas nicht notwendig zur Definition gehörende Ausgesagte. Die verschiedenen sprachlichen Bedeutungen des Akzidentellen sind bei Aristoteles in der Kategorienschrift (als Lage, Habitus, Quantität, Qualität, etc.) systematisiert. – (2) Im ontologischen Sinne ist mit akzidentell das zufällige, nicht notwendige (an) einer Sache gemeint, das im Unterschied zu seinem So-Sein (Form) wandel-, austauschbar (z.B.: krank/gesund) und vergänglich ist. Das Akzidentelle korrespondiert hier zugleich mit dem Materiellen. In seiner wesentlichen Bestimmung des An-der-Ousia-Haftens liegt bei allem Seiendem stets eine notwendige Zweierkette von Substanz und Akzidenz vor. – (3) Die epistemologisch-erkenntniskritische Absicht des Begriffes ist von Aristoteles in De anima und An. p. zwar entwickelt (die Wahrnehmung erkennt nur Akzidentelles als Besonderes, der Verstand die Definition als Allgemeines ), aber in ihrer vollen Relevanz erst in Folge der scholastischen Aristotelesrezeption durch Thomas und Duns Scotus herausgehoben. Thomas (S.Th. I 3.4) unternimmt eine weite Ausdifferenzierung (etwa in akzidentell commune und akzidentell a proprium). Wesentlich bei Scotus ist die Unterscheidung zwischen Nominal- und Real-Azidens – (4) In einem weiteren theologischen Kontext, etwa bei Leibniz (Theodizee. S.329 ff.), wird alles außer Gott als akzidentell bezeichnet (MLPh, S. 16).
(Sandkühler et al. 2010) EPh, Stichwort Substanz/Akzidenz, Autor: Detlev Pätzold
Der Ausdruck ›Akzidenz‹ … wird, wenn er nicht in seiner latinisierten Form gebraucht wird, im Dt. mit ›Hinzukommendes‹, im Sinne von zufällig, nicht notwendig, wiedergegeben. Schon Aristoteles definiert symbebêkos entsprechend als das, »was weder immer noch in der Regel stattfindet« und
damit nicht in die Wissenschaft gehört: »Denn jede Wissenschaft hat zu ihrem Gegenstande, was immer oder doch in den meisten Fällen stattfindet«. Diese Auffassung vom Akzidenz ist weitgehend opinio communis in der gesamten Geschichte der Philosophie (EPh, S. 2640bu-2641).
(Thiel 2004)
Das Wort Akzidenz (συμβεβηκός) kommt überhaupt nur an zwei Stellen jeweils zweimal vor und ist dort überall Gegenbegriff zu „von sich selbst her“ (καθ‘ αὑτό) oder zu „im eigentlichen Sinne“ (κυρίως) aber niemals zu Wesen (ούσία). In der Kategorienschrift verwendet also Aristoteles „Akzidenz“ nicht als zusammenfassenden Begriff für die generell letzten Seinsgattungen, die nicht Substanz sind, obwohl gerade hier der Unterschied zwischen Substanz und Akzidens der Sache nach so genau bestimmt wird wie wollen nirgendwo sonst. Auch in der „Metaphysik“ tritt das Akzidens als Gegensatz zur Substanz eher zurück, sondern wird vielmehr allgemeiner als das Zufällige gegenüber dem Notwendigen oder Überwiegenden gefasst oder auch wie überhaupt häufig, als Gegenbegriff zudem, was von sich selbst her etwas ist (Thiel 2004, S. 70).
(Heinemann 2021, S. CLXXXII)
symbainô: „sich zusätzlich ergeben“, „überdies der Fall sein“ – davon abgeleitet:
symbebêkos (Partizip, terminus technikus): „was tatsächlich zutrifft/der Fall ist“
kata symbebêkos (terminus technikus): „(nur) aufgrund zusätzlicher Umstände“ (Gegenbegriff: kath‘ hauto: „an sich“)
(Bärthlein 1968)
Nirgends also in Met. V 13 und in Cat. 6 wird das Quantitative ein σνμβεβηκός der Substanz genannt oder sonstwie von der Substanz abhängig gemacht. Von einer Beziehung auf eine Substanz ist gar nicht die Rede; es geht immer nur um die Bestimmtheit des Quantitativen als solchen und um dessen mögliche Einteilungen (Bärthlein 1968, S. 207).
Im Kapitel 8 der nämlichen Schrift [Kategorienschrift], sowie in Met. V 14 liegt eine Auffassung der Qualitätskategorie vor, nach welcher die Qualitäten nirgends für zufällig anhaftende Eigenschaften gehalten werden, sondern für jene Unterschiede im Bereich des Prozeßfreien und Prozeßhaften, die eine weitere Eingrenzung, eine Fortbestimmung der jeweiligen Gattung zu einer der nächsten Arten ermöglichen (Bärthlein 1968, S. 230).
Nachdem sich uns gezeigt hat, daß die Kategorie der Quantität in Cat. 6, die der Qualität in Cat. 8 und die der Relation in der vorderen Hälfte von Cat. l nicht als Akzidentien gefaßt sind, da diese Stücke der Kategorienschrift ohne die Substanz-Akzidens-Lehre konzipiert worden sein mußten, lassen sich diese Stücke (wenigstens in ihrem Gedankengang — über den faktischen Entstehungsvorgang der Kategorienschrift soll damit nichts ausgesagt sein) auch als Stücke einer anderen Kategorien-Abhandlung denken, die anstelle des 5. Kapitels (und vielleicht auch des 2. Kapitels der uns erhaltenen Kategorienschrift) eine anderslautende Partie mit jenen Begriffspaaren enthielt, aus welchen nach einigen Veränderungen die Substanz-Akzidens-Lehre entstehen konnte (Bärthlein 1968, S. 250).
Vergleiche von Übersetzungen
Kategorien VI, 5a39-5b1, 8-10
(Aristoteles 1995c) Übersetzer: Eugen Rolfes
Im eigentlichen Sinne wird nur dieses bisher Genannte als quantitativ bezeichnet, alles andere dagegen heißt nur mitfolgend so.
Also wird eigentlich und an sich nur das Genannte als quantitativ bezeichnet, und sonst heißt nichts an sich so, sondern wenn es ja so heißt, so gilt dies nur mitfolgend.
(Aristoteles 2006) Übersetzer: Klaus Oehler
Hauptsächlich aber wird nur dieses Genannte Quantitatives genannt, alles andere akzidentell.
Somit wird nur das Genannte hauptsächlich und an sich Quantitatives genannt, von dem anderen dagegen ist nichts so an sich, sondern, wenn überhaupt, akzidentell.
Bemerkungen zu Unterschieden:
- Während Rolfes das Wort „mitfolgend“ verwendet, übersetzt Oehler symbebêkos mit „akzidentell“.
- Dies sind zwei von vier Stellen, in denen Aristoteles in der Kategorienschrift das Wort Akzidenz (symbebêkos) verwendet, die anderen beiden sind 7a27 und 7a36 (Thiel 2004, S. 70). An diesen Stellen verwenden sowohl Oehler als auch Rolfes in ihren Übersetzungen das Wort „Akzidenz“.
Topik I 5, 102b4-10
(Aristoteles 1995c) Übersetzer: Eugen Rolfes
Akzidenz ist was keines von diesen ist, nicht Definition, nicht Proprium, nicht Gattung, aber dem Dinge zukommt, und was einem und demselben, sei es was immer, zukommen und nicht zukommen kann, wie es zum Beispiel einem und demselben zukommen und nicht zukommen kann, dass es sitzt. Gleiches gilt von dem Weißen. Nichts hindert ja, dass dasselbe Ding bald weiß, bald nicht weiß ist. …
(Thiel 2004) Übersetzer: Rainer Thiel
Akzidens aber ist, was nichts von dem Genannten ist, weder Inbegriff noch Eigentümliches noch Gattung, gleichwohl aber der Sache zukommt, und das irgendeinem Einen und demselben zukommen und nicht zukommen kann; wie etwa das Sitzen einem Selben zukommen und nicht zukommen kann. Ebenso aber auch das Weiße; denn nichts hindert, dass dasselbe bald weiß, bald nicht weiß ist (S. 71).
(Höffe 2005) Autor: Michael-Thomas Liske
Akzidentell ist, was … (1) weder eine Definition noch eine eigentümliche Bestimmung noch eine Gattung ist, was der Sache aber [faktisch] zukommt und was (2) ein und demselben sowohl zukommen wie nicht zukommen kann (S. 549).
(Aristoteles 2019b) Übersetzer: Hans Günter Zekl
Nebenbei zutreffend ist, was nichts davon ist, weder Begriffsbestimmung noch eigentümlich noch Gattung, aber doch dem Gegenstande zutrifft, und was jedem beliebigen Einen- und-demselben zukommen und nicht zukommen kann; z. B. »sitzen« – das mag auf irgendein mit sich Selbiges zutreffen, es kann aber auch nicht zutreffen; ähnlich auch mit »weiß«: Es hindert nichts, daß derselbe Gegenstand zu einer Zeit einmal weiß ist, ein andermal nicht weiß.
(Aristoteles 2021) Übersetzer: Tim Wagner und Christof Rapp
Ein Akzidens ist (erstens) das, was zwar keines von diesen ist, weder Definition noch Eigentümlichkeit noch Gattung, der Sache aber zukommt, und (zweitens) das, was einer und derselben Sache zukommen und auch nicht zukommen kann. Zum Beispiel kann derselben Sache „sitzt“ zukommen und nicht zukommen; mit „ist weiß“ verhält es sich ähnlich. Denn es spricht nichts dagegen, dass dieselbe Sache zu einem Zeitpunkt weiß und zu einem anderen nicht weiß ist. …
Bemerkungen zu Unterschieden:
- Rolfes, Thiel, Wagner/Rapp: Akzidenz, Akzidens; Liske: akzidentell; Zekl: nebenbei Zutreffendes
Bemerkung: Außer der Verwendung von „nebenbei“ bei Bonitz (1961), „was nebenbei an einer Substanz haftet“, habe ich die Formulierung „nebenbei“ in keiner anderen Quelle in Zusammenhang mit „Akzidenz“ gefunden. Offensichtlich übersetzt Zekl als Einziger das Wort „symbebêkos“ mit „nebenbei Zutreffendes“. Dahinter steht möglicherweise sein Bestreben (als Gymnasiallehrer), das in der Alltagssprache ungebräuchliche Wort „Akzidenz“ in verständlicher Weise zu übertragen. Dabei bleibt allerdings genauso unklar, was man sich unter „nebenbei zutreffend“ vorstellen soll. - Rolfes, Thiel, Liske, Wagner/Rapp: ein Akzidens kommt einer Sache zu; Zekl: es trifft dem Gegenstande zu
Bemerkung: Bei Akzidenz handelt es sich um eine Eigenschaft eines Objektes. Deshalb ist es sinnvoller davon zu sprechen, dass diese dem Objekt zukommt, als dass sie für das Objekt zutrifft. - Rolfes: Akzidenz; Thiel, Wagner/Rapp: Akzidens
Bemerkung:Die Schreibweise „Akzidens“ verwenden auch (Höffe 2005), (Grumach et al. 2007), (Aristoteles 2019a) und die Autoren in Wikipedia, sie ist also offensichtlich üblicher.
Weitere Zitate von Aristoteles
Metaphysik, (Aristoteles 2019a) Übersetzer: Herrmann Bonitz, bearb. von Horst Seidl
Denn dadurch sind ja Wesenheit und Akzidens voneinander geschieden; Weiß z. B. ist ein Akzidens für den Menschen, weil er zwar weiß ist, aber nicht das Weiße an sich. Wird aber alles nur in akzidentellem Sinne ausgesagt, so gäbe es ja gar nichts Erstes, wovon ausgesagt würde, wenn anders das Akzidens immer das Prädikat eines Subjekts bedeutet. Es müßte also ins Unendliche fortgehen. Das ist aber nicht möglich, da nicht mehr als zwei miteinander verbunden werden; denn das Akzidens ist nicht Akzidens eines Akzidens, außer sofern beide Akzidenzien an demselben Ding sind. (1007a31-b4).
Aber auch das umfassende Allgemeine des Akzidens ist Ursache, z. B. der Mensch oder auch allgemein das Lebewesen ist Ursache der Bildsäule, weil Polykleitos ein Mensch und der Mensch ein Lebewesen ist. Es steht also von den Akzidenzien selbst das eine im Vergleich zu dem andern ferner und näher (zur Ursache), z. B. wenn man den Weißen oder den Musikalischen Ursache der Bildsäule nennte und nicht nur den Polykleitos oder den Menschen (Meta. 1014a1-6).
Ebenso verhält es sich auch, wenn man bei einer Gattung oder einer allgemeinen Benennung von Akzidens spricht, z. B. daß Mensch und gebildeter Mensch dasselbe sei; entweder nämlich ist dies der Fall, weil an Mensch als einem einzigen Wesen Gebildet ein Akzidens ist, oder weil beides Akzidens ist an irgendeinem individuellen Dinge ist, z. B. an Koriskos. Indes ist dies beides nicht in demselben Sinne Akzidens, sondern das eine etwa als Gattung und dem Wesen innewohnend, das andere als eine Haltung oder Eigenschaft des Wesens. (b) Dies sind also alle die verschiedenen Weisen, in welchen etwas in akzidentellem Sinne als Eines bezeichnet wird (1015b27-31).
Das Seiende wird teils in akzidentellem Sinne ausgesagt, teils an sich. In akzidentellem Sinne sagen wir z. B. „der Gerechte ist gebildet“, und „der Mensch ist gebildet“, und „ein Gebildeter ist ein Mensch“ in ähnlicher Weise, wie wenn wir sagen „der Gebildete baut“, weil es für den Baumeister ein Akzidens ist, gebildet, oder für den Gebildeten, Baumeister zu sein; denn „dies ist dies“ bedeutet „dies ist ein Akzidens von diesem“ (1017a7-14).
Akzidens nennt man (1.) dasjenige, was sich zwar an etwas findet und mit Wahrheit von ihm ausgesagt werden kann, aber weder notwendig noch in den meisten Fällen sich findet, z. B. wenn jemand beim Graben eines Loches für eine Pflanze einen Schatz fand. Dies also, einen Schatz zu finden, ist ein Akzidens für den, der ein Loch gräbt; denn weder folgt mit Notwendigkeit das eine aus dem anderen oder das eine nach dem anderen, noch findet auch in den meisten Fällen jemand einen Schatz, wenn er ein Loch für eine Pflanze gräbt. So kann auch der Gebildete weiß sein, aber da dies weder notwendig noch in den meisten Fällen stattfindet, so nennen wir es Akzidens. Indem also das, was existiert, etwas und an etwas, und manches davon auch irgendwo und irgendwann ist, so wird Akzidens heißen, was zwar existiert, aber nicht deshalb existiert, weil dies bestimmt war oder jetzt oder hier ist. Es gibt also für das Akzidens auch keine bestimmte, sondern nur eine zufällige Ursache, … (2.) In einer andern Bedeutung nennt man Akzidens auch das, was einem Gegenstand an sich zukommt, ohne in seinem Wesen zu liegen, z. B. dem Dreieck die Winkelsumme von zwei Rechten. Das Akzidens in diesem Sinne kann ewig sein, in jenem aber durchaus nicht. (1025a14-34).
Denn was in akzidentellem Sinne ist oder wird, hat auch eine Ursache, die es nur in akzidentellem Sinne ist. Da also nicht alles notwendig und immer ist oder wird, sondern das meiste nur in der Regel, so muß es notwendig auch ein akzidentelles Seiendes geben; z. B. nicht immer und nicht in der Regel ist der Weiße gebildet; wird er es aber in einem Falle, so wird er es in akzidenteller Weise sein. Wo nicht, so müßte alles notwendig sein. Der Stoff also, welcher neben dem in der Regel Stattfindenden auch etwas anderes zuläßt, ist die Ursache des Akzidentellen. Man muß aber davon ausgehen, ob es etwas gibt, das weder immer, noch in der Regel ist, oder ob dies unmöglich ist. Es gibt also etwas neben diesem, das Zufällige nämlich und Akzidentelle. Aber gibt es zwar etwas, das in der Regel, aber nichts, das immer stattfindet, oder gibt es vielmehr auch etwas Ewiges? Dies soll später untersucht werden. (c) Daß es aber keine Wissenschaft des Akzidentellen gibt, ist offenbar. Denn jede Wissenschaft hat zu ihrem Gegenstande das, was immer oder doch in den meisten Fällen stattfindet. Denn wie sollte man es sonst lernen oder einen andern lehren? (1027a7-19)
Es ist also das Akzidentelle dasjenige, was zwar geschieht, aber nicht immer, noch mit Notwendigkeit, noch auch meistenteils. Hiermit ist erklärt, was das Akzidens ist; es leuchtet aber ein, warum es von einem solchen Gegenstand keine Wissenschaft geben kann; denn jede Wissenschaft ist auf das gerichtet, was immer oder meistenteils ist, das Akzidentelle aber findet sich in keinem dieser beiden Gebiete. (1065a1-8).
Auswertung und Zusammenfassung der Literaturanalysen
Vorbemerkungen
Die Analyse der vier Wörterbücher zeigt, dass den Wörtern symbainein und symbainό eine große Anzahl von deutschen Wörtern entsprechen können. Da diese Wörter Grundlage für das Partizip symbebêkos sind, sollen die deutschen Entsprechungen kurz betrachtet werden. In einer ersten Bedeutungsgruppe geht es um das Zusammengehen, Zusammenstehen. In einer zweiten Gruppe von Bedeutungen wird das Übereinkommen, das Treffen von Vereinbarungen zum Ausdruck gebracht. In beiden Fällen geht es um eine Relation zwischen zwei Objekten. Eine dritte Bedeutung besteht in dem Zutreffen, Eintreffen, Ziehen von Folgerungen. Auch in diesem Fall geht es um eine Relation, einmal in zeitlicher Hinsicht der Aufeinanderfolge von Ereignissen oder in logischer Hinsicht eine Folge von Schlüssen. Eine vierte Gruppe von Bedeutungen, die zum Teil als Untergruppe der dritten angesehen wird, betrifft das Sich-ereignen, Passieren, einen Vorgang, eine Begebenheit, was sich in einer bestimmten Weise herausstellt. In diese Bedeutungsgruppe wird das Partizip „symbebêkos“ eingeordnet und als das Anhaftende, Nebensächliche, Zufällige übersetzt. Auch hier geht es wieder um eine Relation zwischen Objekten (das Anhaftende) oder einer zeitlichen Folge von Zuständen.
In Übersetzungen wird oft der lateinische Begriff „Akzidens/Akzidenz“ verwendet. Dies zeigt, dass die Übersetzer offensichtlich keine direkte oder einheitliche Übersetzung des Wortes symbebêkos gefudnen haben.
Die Analyse der drei philosophischen Lexika ergab, dass das Wort „Akzidens“ (bzw. Akzidenz) in allen Lexika in Stichwörtern aufritt. Im MLPh gibt das Stichwort „Akzidens, akzidentell“, im HWPh die Stichwörter „Accidens praedicabile“ und „Substanz; Substanz/Akzidens“ sowie im EPh das Stichwort „Substanz/Akzidenz“. In den obigen Auszügen zu den Lexika sind die wesentlichen Inhalte der Beiträge in Bezug auf das Wort „Akzidens“ enthalten.
Die Wörter Akzidens/Akzidenz, Akzidentien/Akzidenzien und akzidentell (mit ihren Wortformen) kommen durchaus in relevanter Weise in den Lexika vor, wie die Tabelle der Häufigkeiten zeigt (in Klammern: pro 100 Seiten).
Wort | HWPh | MLPh | EPh |
Akzidens/Akzidenz | 239 (2,8) | 18 (2,6) | 38 (1,2) |
Akzidentien/Akzidenzien | 244 (2,8) | 7 (1,0) | 8 (0,3) |
akzidentell | 254 (3,0) | 11 (1,6) | 19 (0,6) |
Gesamt | 737 (8,6) | 36 (5,1) | 65 (2,1) |
Bemerkungen:
- Die größere Häufigkeit im HWPh erklärt sich sicher durch die umfangreicheren Betrachtungen zur Begriffsgeschichte.
- Die Schreibweisen „Akzidens“ und „Akzidenz“ treten MLPh und EPh etwa gleich oft auf, im HWPh kommt „Akzidens“ 10mal so häufig vor wie „Akzidenz“.
Eine treffende, umfassende, intersubjektive Beschreibung der Bedeutungen von „Akzidens“ und die Einordnung in aktuelle Begriffe wäre angesichts der häufigen Verwendung wünschenswert. Das wird in keinem der Lexika geleistet.
Die gesichtete Sekundärliteratur lieferte ebenfalls keine befriedigende Lösung. Insgesamt ergibt sich also, dass der Inhalt dieses Begriffs von Aristoteles durch Analyse der Texte gewonnen werden muss.
Im Folgenden sollen auf der Grundlage von Aussagen in der gesamten Literatur Aspekte diskutiert werden, die mit den von Aristoteles im Zusammenhang mit dem Wort „Akzidens“ geäußerten Gedanken verbunden sind. Es werden dabei zunächst die betreffenden Aussagen zusammengestellt und danach Wertungen vorgenommen und eigene Vorschläge unterbreitet. In Klammern wird nach einem Zitat der jeweilige Autor angegeben. Dabei bedeuten:
A … Aristoteles; Bä … Bärthlein 1968; Ba … Baumgartner im HWPh; B/K … Benseler und Kaegi 1900; Bo … Bonitz 1961; Ha … Halfwassen im HWPh; He … Heinemann 2021; L … Liske in Höffe 2005; L/S … Liddell and Scott 1898; Men … Menge 2001; Mey … Meyer in MLPh; P … Pätzold in der EPh; T … Thiel 2004
Die angegebenen Zitate, die alle aus den obigen Texten entnommen sind, belegen, dass man sich in der aktuellen Literatur hauptsächlich an die Formulierungen von Aristoteles hält. Mit Ausnahme der Wertungen und der Einschätzung der Rolle der Akzidentien in der Kategorienschrift sind wenig neue Überlegungen hinzugekommen.
Vorschlag für eine Übertragung von symbebêkos ins Deutsche
Zitate:
- das, was nebenbei an einer Substanz haftet und wirklich ein Prädikator davon ist (Bo)
- die Nebensache, etwas Nebensächliches (B/K, Men)
- Geschehenes, Ereignis, Vorgang, Begebenheit (Men)
- beiläufig, kann beiwohnen wie abgehen (L)
- was tatsächlich zutrifft/der Fall ist (He)
- das, was sich faktisch ergeben hat, was gerade so zusammengekommen ist (L)
- das von etwas nicht notwendig zur Definition gehörende Ausgesagte (M)
- was weder eine Definition noch eine eigentümliche Bestimmung noch eine Gattung ist, was der Sache aber [faktisch] zukommt (A, L)
- was ein und demselben sowohl zukommen wie nicht zukommen kann (A, L)
- was sich zwar an etwas findet und mit Wahrheit von ihm ausgesagt werden kann, aber weder notwendig noch in den meisten Fällen sich findet (A, L)
- Indem also das, was existiert, etwas und an etwas, und manches davon auch irgendwo und irgendwann ist, so wird Akzidens heißen, was zwar existiert, aber nicht deshalb existiert, weil dies bestimmt war oder jetzt oder hier ist. (A)
- Man nennt Akzidens auch das, was einem Gegenstand an sich zukommt, ohne in seinem Wesen zu liegen. (A)
- Vielmehr müssen die Akzidentien auf die ousia als Zentrum bezogen werden, die – als wesentlich bestimmt – den Maßstab bildet, welche beiläufigen (akzidentielle) Bestimmungen ihr zukommen können, sodass eine begriffliche Einheit entsteht. (A, L)
Bemerkungen und Vorschläge
Bis auf die Formulierungen „Geschehenes, Ereignis, Vorgang, Begebenheit“ (Menge 2001) und „was tatsächlich zutrifft/der Fall ist“ (Heinemann 2021) kommt in allen anderen Formulierungen zum Ausdruck, dass symbebêkos etwas ist, was mit einer Sache, einem Gegenstand oder einer Substanz (ousia) verbunden ist. Diese Verbindung kann als Eigenschaft des betreffenden Objektes bezeichnet werden, dass Träger dieser Eigenschaft ist.
Die Formulierungen von Menge und Heinemann sind zu unspezifisch um wesentliche Momente des Wortes symbebêkos im Sinne von Aristoteles zu erfassen. In beiden Vorschlägen kommt der Bezug zu einem Objekt nicht zum Ausdruck und auch das Zukommen oder Nichtzukommen ist im Sinn Formulierungen nicht enthalten.
Eine zentrale Aussage, die auch in anderen Formulierungen anklingt, ist, dass symbebêkos etwas ist, das einem Objekt zu kommen oder auch nicht zukommen kann. D. h., dass ein symbebêkos nicht Bestandteil der Definition des Objektes sein kann und auch nicht zu seinem Wesen gehört. Diese Momente können durch den Begriff der Möglichkeit erfasst werden.
Aus beiden Feststellungen ergibt sich, dass mit der Formulierung „mögliche Eigenschaft eines Objektes“ eine geeignete Übertragung der wesentliche Gedanken von Aristoteles zum Wort „symbebêkos“ erfolgt.
Der Begriff „mögliche Eigenschaft eines Objektes“ beinhaltet im einzelnen folgende Momente des Wortes „symbebêkos“ bei Aristoteles.
- Eine mögliche Eigenschaft existiert wie jede Eigenschaft nicht für sich, sondern ist immer an ein Objekt gebunden.
- Einem Objekt kann eine mögliche Eigenschaft zukommen oder nicht zukommen.
- Eine mögliche Eigenschaft ist nicht notwendig für die Existenz des Objektes, d. h. es kann auch ohne diese Eigenschaft existieren.
- Da die mögliche Eigenschaft nicht notwendig ist, gehört sie auch nicht zum Wesen des Objektes.
Als Beispiel sei das von Aristoteles in Metaphysik 1025a14ff. dargestellte Beispiel des Findens eines Schatzes beim Graben eines Loches für eine Pflanze diskutiert. Aristoteles schreibt „Dies also, einen Schatz zu finden, ist ein Akzidens für den, der ein Loch gräbt; denn weder folgt mit Notwendigkeit das eine aus dem anderen oder das eine nach dem anderen, noch findet auch in den meisten Fällen jemand einen Schatz, wenn er ein Loch für eine Pflanze gräbt.“ Das Graben eines Loches ist ein Vorgang, der unter bestimmten Bedingungen verläuft. Je nach dem betrachteten Merkmal wie etwa dem Umfang der Arbeiten oder der benötigten Zeit hat dieser Vorgang verschiedene mögliche Ergebnisse, die die möglichen Eigenschaften des Vorgangs sind. Betrachtet man das Merkmal „Es wird ein Schatz gefunden“, gibt es zwei mögliche Ausprägungen „ja“ oder „nein“. Das Finden eines Schatzes ist also eine mögliche Eigenschaft des Vorgangs „Graben eines Loches“. Diese Eigenschaft gehört nicht zum Wesen des Vorgangs, da sie nur möglich ist.
Die Formulierung von Aristoteles, dass das Finden eines Schatzes ein Akzidens für denjenigen ist, der ein Loch gräbt, halte ich nicht für sinnvoll, da es nicht um den Menschen, sondern um das Graben geht. Das Graben kann auch durch einen Bagger oder ein Tier erfolgen.
Das lateinische Wort „Akzidens“ sollte als Übersetzung von „symbebêkos“ nicht als philosophischer Terminus verwendet werden, da es offensichtlich verschiedene Interpretationen gibt und zudem dieses Wort nicht zur Alltagssprache gehört.
Diskussion weiterer Aussagen zum Wort „symbebêkos“
Im folgenden sollen weitere Aussagen und Formulierungen zum Wort „symbebêkos“ aus der Literatur und ihre Erfassung durch die vorgeschlagene Übertragung „mögliche Eigenschaft eines Objektes“ untersucht werden.
Symbebêkos, Zufallsbegriff und Kausalität
Zitate
- ein zufälliges Ereignis, eine Kontingenz (L/S)
- das Zufällige (B/K)
- (zufälliger) Umstand (Men)
- Zufälligerweise (Men)
- das Zufällige, Unwesentliche (Ba)
- „Hinzukommendes“, im Sinne von zufällig, nicht notwendig (P)
- das Nicht-Notwendige, Zufällige im Gegensatz zum Wesentlich-Substantiellen (Mey)
- kontingentes Gelten im Sinne der zweiseitigen Möglichkeit, dass eine Bestimmung ihrem Subjekt gleichermaßen beiwohnen wie abgehen kann, ohne dass dies seine Identität gefährdet (L)
- Man muß aber davon ausgehen, ob es etwas gibt, das weder immer, noch in der Regel ist, oder ob dies unmöglich ist. Es gibt also etwas neben diesem, das Zufällige nämlich und Akzidentelle. (A, P)
- Es gibt es keine wohldefinierte Ursache für das Akzidentelle, sondern Ursache ist das, was sich zufällig ergibt. Ein Geschehen, das einem Subjekt bloß akzidentell zugeschrieben wird, ist zwar nicht völlig unverursacht. Seine Ursache ist aber eine Konstellation, die sich bloß zufällig oder faktisch im Einzelfall ergeben hat. (A, L)
- Es gibt also für das Akzidens auch keine bestimmte, sondern nur eine zufällige Ursache. (A)
- Denn was in akzidentellem Sinne ist oder wird, hat auch eine Ursache, die es nur in akzidentellem Sinne ist. Da also nicht alles notwendig und immer ist oder wird, sondern das meiste nur in der Regel, so muß es notwendig auch ein akzidentelles Seiendes geben. (A)
- Der Stoff also, welcher neben dem in der Regel Stattfindenden auch etwas anderes zuläßt, ist die Ursache des Akzidentellen. (A)
- das zufällige, nicht notwendige (an) einer Sache …, das im Unterschied zu seinem So-Sein (Form) wandel-, austauschbar (z.B.: krank/gesund) und vergänglich ist (Mey)
Bemerkungen und Vorschläge
Häufig wird, schon bei Aristoteles, symbebêkos in einen Zusammenhang mit Zufall/zufällig gebracht. Damit soll offensichtlich zum Ausdruck gebracht werden, dass die Eigenschaft nur möglich, aber nicht mit Sicherheit vorhanden ist. Diese Vorstellung, die besonders bei der Übertragung ins englische dominiert, hängt mit den Auffassungen zu den Worten „Ereignis“, „Geschehen“, „Begebenheit“ zusammen. So wird oft formuliert, dass ich ein Ereignis nicht mit Notwendigkeit, sondern nur zufällig einstellt.
Eine Diskussion zu den Begriffen „Zufall“ und „Wahrscheinlichkeit“ in ihrer Verwendung bei Aristoteles, soll an dieser Stelle nicht erfolgen. Nach meinen Auffassungen zu diesen Begriffen (vgl. https://philosophie-neu.de/der-begriff-zufall-2/ https://philosophie-neu.de/momente-des-wahrscheinlichkeitsbegriffs/), halte ich die Verwendung von „zufällig“ im Zusammenhang mit „mögliche Eigenschaft“ sowie auch generell nicht für sinnvoll. Aristoteles verwendet das Wort „zufällig“ (wenn denn die Übersetzung zutreffend ist) im Sinne von „es kann eintreten, muss aber nicht“. Das ist aber nur eine Art der Verwendung des Wortes „zufällig“. In der Alltagssprache, der Mathematik und anderen Wissenschaften in gibt es weitere, einander teilweise widersprechende Bedeutungen des Wortes. Man kann aus meiner Sicht alles, was mit dem Wort „Zufall“ ausgedrückt wird, weit besser und verständlicher unter Verwendung des Begriffs „Wahrscheinlichkeit“ formulieren.
Problematische scheint mir aus sprachlicher Sicht auch, dass dem Wort „Zufall“ im Griechischen τύχη oder σύμπτωση entspricht. Aristoteles hat sich ausführlich zum Zufall in (Phys. IV, 195b31ff.) geäußert.
Bezogen auf das Beispiel des Finden eines Schatzes ist die Verwendung des Wortes „zufällig“ abhängig von den konkreten Bedingungen. Wenn jemand ein Loch gräbt, ohne dass Ziel zu haben, ein Schatz zu finden, so wird man das mögliche Ergebnis „Finden eines Schatzes“ umgangssprachlich als zufällig bezeichnen. Wenn aber Archäologen nach bestimmten Plänen zielgerichtet nach Schätzen suchen, bezeichnet man das Finden eines Schatzes nicht als Zufall. Der letzte Fall verdeutlicht zudem, dass man den Begriff „Schatz“ genau definieren muss, bevor entsprechende Aussagen getroffen werden.
Die Probleme, die mit der Verwendung von „zufällig“ verbunden sind, zeigen sich auch in den Zitaten zum Problem der Ursache einer möglichen Eigenschaft. Aristoteles hat durchaus erkannt, dass auch eine mögliche Eigenschaft Ursachen hat. Was er unter einer „zufälligen Ursache“ versteht, wird aus den Zitaten aber nicht deutlich.
Für das Beispiel des Findens eines Schatzes beim Graben eines Loches hat das mögliche Ergebnis, einen Schatz zu finden, durchaus eine wohldefinierte Ursache, nämlich die, dass der Schatz an der Stelle früher einmal vergraben wurde.
Wissenschaften zu möglichen Eigenschaften
Zitate
- Terminus zur Bezeichnung derjenigen allgemeinen Prädikate, die, sofern sie in keinem angebbaren inneren und notwendigen Zusammenhang mit dem Wesen des Subjekts der Aussage stehen, zur Bestimmung des Wesensbegriffs, zur Definition und mithin für wissenschaftliche Aussagen überhaupt unbrauchbar sind. (Ba)
- Der Begriff des Accidens ist sonach kritisches Instrument der Unterscheidung wissenschaftlicher und sophistischer Begriffsbildung bzw. Disputation. (Ba)
- „was weder immer noch in der Regel stattfindet“ und damit nicht in die Wissenschaft gehört. Daß es aber keine Wissenschaft des Akzidentellen gibt, ist offenbar. Denn jede Wissenschaft hat zu ihrem Gegenstande das, was immer oder doch in den meisten Fällen stattfindet. Denn wie sollte man es sonst lernen oder einen andern lehren? (A, P)
Bemerkungen und Vorschläge
Der Auffassung von Aristoteles und auch von Pätzold, dass es „keine Wissenschaft des Akzidentellen gibt“, da „jede Wissenschaft … zu ihrem Gegenstande das [hat], was immer oder doch in den meisten Fällen stattfindet“, kann nicht zugestimmt werden. Die Untersuchung möglicher Eigenschaften von Menschen ist Gegenstand der Psychologie und Soziologie, die mathematischen Grundlagen werden durch die Statistik gelegt.
Für das Beispiel des Findens eines Schatzes beim Graben in der Erde könnte man durchaus eine wissenschaftliche Untersuchung durchführen, bei der die Wahrscheinlichkeit bestimmt wird, dass man unter bestimmten Bedingungen, insbesondere dem Ort der Grabungen, einen Schatz findet. Dies kann für archäologische Grabungen durchaus von Interesse sein, um zielgerichtet suchen zu können.
Zur Mehrstufigkeit möglicher Eigenschaften
Zitate
- Nur akzidentelle Bestimmungen lassen graduelle Vergleiche zu, ob ein Prädikat in höherem oder geringerem Grad zukommt. (L)
- Ein Akzidens kann nicht einem anderen Akzidens zugeschrieben werden. (A, L)
Bemerkungen und Vorschläge
Aristoteles hat ausführlich herausgearbeitet, dass ein „Akzidens … nicht einem anderen Akzidens zugeschrieben werden“ kann. Dies trifft generell auch für eine mögliche Eigenschaft zu, die nicht mögliche Eigenschaft einer möglichen Eigenschaft sein kann. Diese Fragestellung lässt sich aber durchaus in folgender Form weiterführen. Dass jemand beim Graben in der Erde einen Schatz findet, ist eine mögliche Eigenschaft des Vorgangs „Graben in der Erde“. Für die Menge der Objekte, die diese Eigenschaft haben, also die Vorgänge, bei denen ein Schatz gefunden wurde, können weitere Merkmale untersucht werden, z. B. von welcher Art dieser Schatz ist und welchen Wert er hat. Diese Merkmale haben wieder mögliche Ausprägungen, also mögliche Eigenschaften. Die möglichen Ausprägungen für das Merkmal „Wert des Schatzes“ lassen sich mit einer ordinalen Skala messen, sind also graduell verschieden.
Substanz und Akzidens in der Kategorienschrift
Zitate
- Mit Platon unterscheidet er [Aristoteles] zwischen Substanzen (οὐσίαι), die begrifflich und seinsmäßig selbständig (χωριστόν) sind, und unselbständigen Akzidenzien (συμβεβηκότα); neu ist, daß diese einer Substanz als Substrat inhärieren (ἐν ὑποκειμένῳ εἶναι), ferner ihre Gliederung in neun Akzidens-Kategorien. (Ha)
- Die verschiedenen sprachlichen Bedeutungen des Akzidentellen sind bei Aristoteles in der Kategorienschrift (als Lage, Habitus, Quantität, Qualität, etc.) systematisiert. (Mey)
- In seiner wesentlichen Bestimmung des An-der-Ousia-Haftens liegt bei allem Seiendem stets eine notwendige Zweierkette von Substanz und Akzidenz vor. (Mey)
- In der Kategorienschrift verwendet also Aristoteles „Akzidenz“ nicht als zusammenfassenden Begriff für die generell letzten Seinsgattungen, die nicht Substanz sind (T)
- Auch in der „Metaphysik“ tritt das Akzidens als Gegensatz zur Substanz eher zurück, sondern wird vielmehr allgemeiner als das Zufällige gegenüber dem Notwendigen oder Überwiegenden gefasst. (T)
- Nirgends also in Met. V 13 und in Cat. 6 wird das Quantitative ein σνμβεβηκός der Substanz genannt oder sonstwie von der Substanz abhängig gemacht. (Bä)
- Im Kapitel 8 der nämlichen Schrift [Kategorienschrift], sowie in Met. V 14 liegt eine Auffassung der Qualitätskategorie vor, nach welcher die Qualitäten nirgends für zufällig anhaftende Eigenschaften gehalten werden, (Bä)
Bemerkungen
Es gibt offensichtlich verschiedene Auffassung zur Rolle der Akzidenzien in der Kategorienschrift. Halfwassen im HWPh, Meyer in MLPh sowie auch die Autoren des umfangreichen Artikels in Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Kategorien) vertreten die Auffassung, dass die 9 Kategorien nach der ersten Kategorie (Ousia) als Akzidenzien im Sinne des Terminus Akzidens anzusehen sind. Bärthlein weist nach, „daß die Kategorie der Quantität in Cat. 6, die der Qualität in Cat. 8 und die der Relation in der vorderen Hälfte von Cat. l nicht als Akzidentien gefaßt sind …“ (Bärthlein 1968, S. 250). Erstaunlich ist für mich, dass sowohl Meyer als auch die Autoren in Wikipedia Bärthlein 1968 als Quelle angeben.
Diskussion von Beispielen für mögliche Eigenschaften aus Schriften von Aristoteles
Es sollen neben dem schon ausführlich betrachteten Beispiel des Findens eines Schatzes weitere diskutiert werden, die Aristoteles im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zum Wort symbebêkos verwendet. Dabei wird der Begriff „Merkmal“ in dem von mir definierten Sinne verwendet.
- Als Beispiel verwendet Aristoteles oft die Farbe weiß. Er bezieht sie u. a. auf Dinge: „Zum Beispiel kann derselben Sache „sitzt“ zukommen und nicht zukommen; mit „ist weiß“ verhält es sich ähnlich. Denn es spricht nichts dagegen, dass dieselbe Sache zu einem Zeitpunkt weiß und zu einem anderen nicht weiß ist“ (Topik I 5, 102b4-10, Übersetzer Wagner und Rapp). Es geht um das Merkmal „Farbe“ mit den möglichen Ausprägungen der einzelnen Farben. Das Merkmal „Farbe“ können nur nichtmentale Objekte besitzen aber auch nicht alle, wie etwa die Elementarteilchen.
Die Farbe eines Hühnereis ist eine mögliche Eigenschaft des Eis, ein Hühnerei kann z. B. weiß, braun oder grün sein. Eine wissenschaftliche Untersuchung zu den möglichen Farben ist durchaus denkbar, bei der etwa die Abhängigkeit der Farbe von der Art des Huhns und seine Ernährung mit Mitteln der Statistik untersucht werden kann. Es ist wenig sinnvoll, die Farbe eines Hühnereis als zufällig zu bezeichnen.
Aristoteles meint mit seiner Formulierung eventuell auch, dass dasselbe Ding seine Farbe wechseln kann, etwa wenn eine Wand einmal weiß und später dann farbig gestrichen wird. Die konkrete Farbe einer Wand in einem Zimmer ist also eine mögliche Eigenschaft der Wand. Wissenschaftliche Untersuchungen zur Häufigkeit einer Wandfarbe sind für Innenarchitekten durchaus denkbar. Die Farbe einer Wand als zufällig zu bezeichnen ist wenig sinnvoll. - In mehreren Beispielen kommt bei Aristoteles die Eigenschaft „gebildet“ vor. Damit meint er wahrscheinlich, dass ein Mensch eine höherwertige Bildung besitzt. Aristoteles schreibt z. B. in der Metaphysik: „In akzidentellem Sinne sagen wir z. B. „der Gerechte ist gebildet“, und „der Mensch ist gebildet“, und „ein Gebildeter ist ein Mensch“ in ähnlicher Weise, wie wenn wir sagen „der Gebildete baut“, weil es für den Baumeister ein Akzidens ist, gebildet, oder für den Gebildeten, Baumeister zu sein; denn „dies ist dies“ bedeutet „dies ist ein Akzidens von diesem“ (Met. 1017a7-14, Übersetzer Bonitz). Dass ein Mensch eine höhere Bildung besitzt, ist eine mögliche Eigenschaft, die mit der Herkunft und dem Bildungsweg zusammenhängt. Dass ein Baumeister eine höhere Bildung besitzt, war offensichtlich in der Antike nicht selbstverständlich. Auch in diesem Fall ist das nicht angebracht das Wort „zufällig“ zu verwenden. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Bildungsniveau sind durchaus sinnvoll.
Abschließende Bemerkungen
Zu den verschiedenen Übersetzungen
Bei meinen Vergleichen von verschiedenen Übersetzungen bin ich auf Problem gestoßen, die Heinemann (2021, S. CLIII–CLXXXIV) systematisch und ausführlich darstellt. So sollte etwa nichts in die Übersetzung eingeschleppt werden das nicht bereits im Original vorkommt (Heinemann 2021, S. CLXIV), wogegen, wie oben an Beispiel nachgewiesen, Zekl mehrfach verstoßen hat. Ein weiteres Problem sind nach Heinemann terminologische Anachronismen. „Sie unterstellen eine Berührung mit späteren oder heutigen Theorien, die für Verständnis und Würdigung aufschlussreich ist. Aber auch dann gehören sie in die Anmerkungen und nicht in die Übersetzung“ (Ebd.). Das betrifft in diesem Fall die Verwendung von zufällig bzw. Zufall im Zusammenhang mit Akzidens.
Heinemann stellt an vielen Beispielen dar, dass eine wörtliche Übersetzung, insbesondere aus dem Altgriechischen und insbesondere der Texte von Aristoteles, schwierig oder gar unmöglich ist. Als eine Möglichkeit sieht er sogenannte „Platzhalterübersetzungen“. Diese sollen „nicht die Bedeutung des griechischen Wortes wiedergeben, sondern nur dessen Verwendung an der entsprechenden Stelle des griechischen Textes anzeigen. Das Gemeintes ist den jeweiligen Erläuterungen zu entnehmen.“ (Heinemann 2021, S. CLXI). In diesem Sinne wäre die Formulierung mögliche Eigenschaft eine Platzhalterübersetzung für συμβεβηκός.
Generell gilt im Sinne von Heinemann, dass es bei der Interpretation der Übersetzungen der Texte von Aristoteles nicht darum gehen kann, die Verwendung bestimmter Wörter oder Formulierungen in den Übersetzungen zu untersuchen, insbesondere ist es recht sinnlos, die Häufigkeit einzelner Wörter zu ermitteln. Man muss vielmehr versuchen, die Gedanken von Aristoteles zu erfassen, die im Übersetzungstext enthalten sind.
Ergänzend zu Heinemann können als weiteres Problem der Übersetzungen die individuellen Kenntnisse und Vorstellungen der Übersetzer zu den verwendeten deutschen Begriffen genannt werden. Im Fall dieser Untersuchung handelt es sich um die Begriffe Merkmal, Eigenschaft und Zufall, zu denen es in der philosophischen Literatur keine intersubjektiven Auffassungen gibt.
Die Übersetzungen des Organon von dem Philologen und Gymnasiallehrers Hans Günter Zekl und vom römisch-katholischen Geistlichen Eugen Rolfes unterscheiden sich qualitativ. Während Rolfes offensichtlich sehr nahe beim Text von Aristoteles bleibt und oft den Originaltext und eine andere mögliche Übersetzung anführt, hat Zekl teilweise eigene Wortschöpfungen und Begriffsbildungen und sogar Strukturierungen vorgenommen, bei denen teilweise fraglich ist, ob sie den Intensionen von Aristoteles entsprechen. Man kann deshalb Strobach (2020) zustimmen, der feststellt: „Die alten Übersetzungen des Organon von Rolfes sind nicht ideal, aber ok, die neuen Übersetzungen von Zekl (Meiner) unbrauchbar.“ Deshalb ist es verwunderlich, dass der Felix Meiner Verlag für die Ausgabe der philosophischen Schriften von 1995 (Aristoteles 1995b) die Übersetzungen von Rolfes und für die auch elektronisch vorliegende Ausgabe von 2019 Übersetzungen von Zekl verwendet.
Zum Beitrag von Aristoteles zum Begriff „Eigenschaft“
Aristoteles hat mit seinen Betrachtungen zur Eigentümlichkeit und zum Akzidens wesentliche Momente des Begriffs Eigenschaft diskutiert. Es hat sich gezeigt, dass es sinnvoll ist, in der Philosophie den Terminus „eigentümliche Eigenschaft“ zu verwenden. Mit seinen Überlegungen, die mit dem von ihm gebildeten Terminus Akzidens (symbebêkos) verbunden sind, hat Aristoteles den wesentlichen Gedanken der Kontingenz, also der Zufälligkeit und Wahrscheinlichkeit von Eigenschaften erfasst und damit späteren Entwicklungen vorausgegriffen.
Die auf Aristoteles zurückgehenden Betrachtungen zu Eigenschaften können dazu beitragen, einen konkreten Sachverhalt umfassender zu analysieren.
Zu Besonderheiten der Schriften von Aristoteles
Im Unterschied zu zahlreichen anderen philosophischen Texten, die ich bisher gelesen habe, weisen die Schriften von Aristoteles folgende Besonderheiten auf.
Wie bereits aus den Zitaten ersichtlich ist, versteht er es, seine allgemeinen Begriffsbildungen und Ausführungen im direkten Anschluss mit Beispielen verständlich zu erläutern. Die Beispiele dienen dabei nicht nur zur Erläuterung allgemeiner Gedanken, sondern sind gleichsam auch Quelle seiner Überlegungen. Er entwickelt seine theoretischen Auffassungen nicht primär durch Bewegen auf einer abstrakten Ebene und Konstruktion von Begriffsbildungen, sondern ausgehend von zahlreichen konkreten Beispielen und Erörterungen.
Insbesondere in der Metaphysik wird deutlich, dass ein Ausgangspunkt seiner Betrachtungen die kritische Analyse der Auffassungen bisheriger Philosophen ist.
Ebenfalls in der Metaphysik stellt er zu Beginn seiner Ausführungen zahlreiche, von ihm verwendete Begriffe zusammen und erläutert sie an Beispielen.
Ein weiteres Merkmal der Betrachtung von Aristoteles ist die immer wiederkehrende Berücksichtigung von Veränderungen, also die Reflexion des dynamischen Charakters viele Erscheinungen.
Für mich interessant sind auch die Diskussionen verschiedener Bedeutungen grundlegender Begriffe und ihre teilweise Unterscheidung durch Zusätze wie „im Sinne“, „im eigentlichen Sinne“ und sogar „im eigentlichsten Sinne“. Ich habe diese Möglichkeit der Unterscheidung der Bedeutung von Begriffen mehrfach angewandt und freue mich, dass ich diese Idee nun auf Aristoteles zurückführen kann.
Literaturverzeichnis
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[1] Ich bedanke mich bei Ludger Jansen, Rostock, für die Literaturhinweise und die Hinweise zur altgriechischen Sprache.
[2] Es handelt sich um ein Adjektiv bzw. substantiviertes Adjektiv. Im Griechischen haben Adjektive drei grammatische Geschlechter, idios ist die männliche und weibliche Form, idion die sächliche. Als philosophischer Terminus wird das substantivierte Adjektiv in der sächlichen Form verwendet.
[3] Συμβεβηκός ist ein Partizip des Verbs συμβαίνειν. Wörterbücher des Altgriechischen verzeichnen die erste Person Singular συμβαίνω.