Hans-Dieter Sill, 01.04.2021
Liebe als Einheit von Hingabe und Selbstheit
Mit dem Verhältnis von Liebe und Selbstheit hat sich Johann Gottfried Herder in einem einflussreichen Aufsatz über Liebe und Selbstheit auseinandergesetzt (Herder 1785). Er sagt im Anschluss an Aristoteles: „Freundschaft und Liebe sind nie möglich als zwischen gegenseitigen freien, konsonen, aber nicht unisonen, geschweige identifizierten Wesen.“ (Herder 1785, 346)
Er setzt sich in seinem Aufsatz mit Gedanken von Franz Hemsterhuis, einem niederländischen Philosophen und Schriftsteller (1721 – 1790) auseinander, der meinte „… in Liebe und Vereinigung gleichartiger Dinge bestehe aller Genuß der Götter und Menschen: Sehnsucht und Verlangen endlich seyn gleichsam die Brautführerinnen der Liebe, die starken und doch zarten Arme, die allen Genuß herbey ziehn, vorbereiten, ja die selbst das größeste Vergnügen vorahnend gewähren.“ (S. 311) und „Daß Liebe die Wesen vereinige, und daß alle Sehnsucht, alles Verlangen nur nach dieser Vereinigung als nach dem einzigmöglichen Genuß abgetrenneter Wesen strebe, …“ (S. 314)
Hemsterhuis Ansicht, nach der das Schöne dasjenige sei, was in kürzester Zeit die größte Menge von Vorstellungen erzeugt, beeinflusste Jacobi und Goethe.
Herder stellt dann fest, dass Hemsterhuis nur eine Seite des Verhältnisses betrachtet hat. Zur Erhaltung des Weltalls gehören sowohl körperliche Anziehung als auch Abstoßung. „ Indessen ward auch bald die andere Seite des Systems sichtbar, daß diese Liebe Grenzen habe, und eine völlige Vereinigung der Wesen in unserm Weltall selten oder gar nicht statt finde, daß also auch die Bande dieser Vereinigung, Verlangen und Sehnsucht, eben in der größten Anstrengung nachlassen müssen, und leider! oft, statt des Genusses, Ueberdruß und Sättigung gewähren. Man bemerkte bald, daß auch in diesem Gesetz Weisheit liege, weil der Schöpfer hierdurch eben so sehr den festen Bestand einzelner Wesen gesorgt hat, wie er durch Liebe und Sehnsucht für die Vereinigung und das milde Beysammenseyn mehrerer Geschöpfe sorgte. Man sahe, daß diese beyden Kräfte, die in der geistigen Welt das sind, was in der körperlichen Anziehung und Zurückstoßung seyn möchten, zur Erhaltung und Festhaltung des Weltalls gehören;“ (S. 312)
Und er zitiert auch Empedokles zum Verhältnis von Haß und Liebe: „durch Haß, sagte er, werden die Dinge getrennt, und jedes Einzelne bleibt was es ist; durch Liebe werden sie verbunden und gesellen sich zu einander …“ (S. 313).
Er betrachte dann besondere Prozess des Genießens. Beim Genießen von Speisen wird das Objekt des Genusses vollständig zerstört, es findet eine völlige Vereinigung statt. Beim Genießen von Düften und Tönen werden die Objekte der Begierde nicht zerstört, aber der Genuss ist nur zeitweise. „Je geistiger der Genuß ist, desto dauernder wird er, desto mehr ist auch sein Gegenstand außer uns dauernd. Lasset uns aber auch immer dazu setzen, desto schwächer ist er: denn ein Gegenstand ist und bleibt außer uns und kann eigentlich nur im Bilde d. i. wenig oder gar nicht mit uns Eins werden.“ (S. 316)
Er setzt sich dann mit Freundschaft und Liebe auseinander, wobei er die Freundschaft besonders hervorhebt: „Herzen und Hände knüpft sie zu Einem gemeinschaftlichen Zweck zusammen, und wo dieser Zweck augenscheinlich, wo er fortwährend, anstrengend, selbst unter oder hinter Gefahren vorliegt: da ist das Band der Freundschaft oft so genau, fest und herzlich, daß nichts als der Tod es zu trennen vermochte. … Wie wahr ists, was jener Freund von seinem Freunde singet: deine Liebe war mir mehr als Frauenliebe!“ (S. 321).
Auch die Ehe sollte eine Freundschaft sein: „und wehe, wo sies nicht ist, wo sie nur Liebe und Appetit seyn wollte! Es ist einem edeln Weibe süß, auch um ihres Mannes willen zu leiden, geschweige sich mit ihm zu freuen, und Er sich in Ihr; Sie sich in Ihm wirksam, fröhlich, honett, geschätzt und glücklich zu fühlen.“ (S. 322)
Dann geht er ein auf „die Elternzärtlichkeit, die väterliche und mütterliche Liebe. Sie ist göttlich, denn sie ist uneigennützig und sehr oft ohne Dank. Sie ist himmlisch, denn sie kann sich auch in viele zertheilen, und bleibt immer ganz, immer ungetheilt und neidlos. Endlich ist sie auch ewig und unendlich, denn sie überwindet Liebe und Tod.“ (S. 323)
Dann betont er gegen die Auffassungen von Hemsterhuis, dass man sich selbst nicht in der Liebe aufgeben kann: „Wir sind einzelne Wesen, und müssen es seyn, wenn wir nicht den Grund alles Genusses, unser eigenes Bewußtseyn, über dem Genuß aufgeben, und uns selbst verliehren wollen, um uns in einem andern Wesen, das doch nie wir selbst sind, wieder zu finden.“ (S 337)
Er geht dann auf das notwendige Wechselverhältnis von Geben und Nehmen in einer Freundschaft oder Liebe und damit auf den grundlegenden Unterschied zu Hemsterhuis ein:
„Sobald mehrere Geschöpfe milde neben einander sind, und sich einander wechselseitig genießen wollen: so folgt, daß keins auf den alleinigen, also auch nicht auf den höchsten Genuß ausgehn müsse, oder es zerstört um sich her. Es muß geben und nehmen, leiden und thun, an sich ziehn und sanft aus sich mittheilen. Dieß macht zwar allen Genuß unvollständig, es ist aber der wahre Takt und Pulsschlag des Lebens, die Modulation und Haushaltung des Verlangens, der Liebe und aller Süßigkeiten der Sehnsucht. Hier gebe ich die schöne Weisheit der Natur zu bemerken, die alles in diesen Pulsschlag leidender und thätiger, gebender und empfangender Wesen, auch nach Geschlechtern, Augenblicken, Zeitumständen, Lebensaltern, Situationen u. f. theilte, und gleichsam einwiegte.“ (S. 340)
„Wer nicht zurückstoßen kann, kann auch nicht anziehn: Beyde Kräfte sind nur Ein Pulsschlag der Seele.“ (S. 345)
Er betont auch, dass das Verhältnis zweier Menschen in einer solchen Beziehung nicht gleichwertig zu sehen ist: „Auch in der Freundschaft ist ein Theil immer der thätige, der andre mehr beyhelfend und leidend: jener männlich, dieser weiblich; oft umgekehrt nach Geschlechtern. Einklang ist in dieser Ehe der Seelen weder angenehm noch nützlich, noch möglich. Consone Töne müssen es seyn, die die Melodie des Lebens und des Genusses geben, nicht unisone; sonst verliert sich die Freundschaft bald in bloße Gesellschaft.“ (S. 341)
Anschließend weist er auf den Entwicklungsprozess des Verhältnisses hin: „So sind wir in diesem Weltall; und wie gehts auf unsrer ewigen Reise weiter hinauf? Schwerlich anders. Nur auf unserm eignen Daseyn und Bewußtseyn ruht die Existenz andrer, so fern sie durch Liebe und Sehnsucht mit uns verknüpft sind; verlöhren wir jene, so hätten wir auch von diesen keinen Genuß mehr. Nothwendig wird unsre Existenz von Stufe zu Stufe immer freyer und wirkender werden: unser Genuß wird weniger verderben und zerstören: wir werden immer mehr Freuden schmecken lernen, indem wir geben und thun, als indem wir nehmen und leiden. Indessen scheint das gegenseitige Verhältniß nie ganz aufhören zu können, das die Summe dieses ganzen Glücks macht. Um zu geben, müssen immer Gegenstände seyn, die da nehmen; um zu thun, andre, für die man [346] thue; Freundschaft und Liebe sind nie möglich, als zwischen gegenseitigen freyen, consonen, aber nicht unisonen, geschweige identificirten Geschöpfen.“ (S. 345/46)
Gedanken:
- Auf den Begriff Selbstheit geht Herder in seinem Artikel nicht weiter ein. Aus den Ausführungen am Ende des Artikels wird aber deutlich, was er mit Selbstheit meint.
- Die Aussagen zum Genießen kann man auch als Befriedigung von Bedürfnissen allgemein beschreiben. Damit lassen sich dann auch die Ausführungen zur Befriedigung von Bedürfnissen beim Essen, Riechen und Musik hören einordnen.
- Man muss zwei Arten von Prozessen unterscheiden, den Prozess des Wechselverhältnisses innerhalb einer konkreten Freundschaft oder Liebe und den Entwicklungsprozess dieses Prozesses.
- Notwendig in der weiteren Bearbeitung des Themas sind genaue Analysen zu den Prozessen in Bezug auf Freundschaft, Liebe und Elternliebe. Auch der Liebe der Eltern zu ihren Kindern kann als ein Wechselverhältnis von Geben und Nehmen aufgefasst werden. Weiterhin ist insbesondere die Entwicklung dieses Wechselverhältnisses von Interesse. Hegel hat allerdings die Mutterliebe im Unterschied zur Freundschaft als Liebe ohne Verlangen bezeichnet, sie hat ohne alle Gleichheit des zwecks und der Interessen einen unmittelbaren Halt (nach (Henrich 1988, S. 15).
- Das Wechselverhältnis sollte nicht als Verhältnis von Liebe und Selbstheit beschrieben werden. Liebe und Freundschaft sind Bezeichnungen für den Prozess des Wechselverhältnisses, für das Zusammenspiel der Gegensätze. Herder beschreibt diese Gegensätze in folgender Weise: „geben und nehmen, leiden und thun, an sich ziehn und sanft aus sich mittheilen“, „zurückstoßen und anziehen“. Eine Möglichkeit wäre auch von Hingabe und Selbstheit zu sprechen.
- Mit der Bezeichnung „konsone Töne“ sind Töne im Gleichklang, also in Harmonie gemeint. In der Musiktheorie unterscheidet man bei Klängen zwischen konsonanten und dissonanten Klängen. Er will mit diesem Bild herausstellen, dass beide Partner nicht identische Eigenschaften haben sollten, sondern solche die sich zwar unterscheiden aber miteinander harmonieren können. Auch das wäre noch genauer auszuführen.
- Zu untersuchen wäre weiter, wie das Verhältnis von Zuneigung und Abneigung (extrem Liebe und Hass) in das Verhältnis von Geben und Nehmen einzuordnen ist.
Mit dem Problem des Verhältnisses von Liebe und Selbstheit hat sich der junge Schiller beschäftigt. Man kann Liebe nicht als Bereitschaft zur Hingabe deuten, sondern als einen Akt, der auf die Ausdehnung des Selbst geht. Henrich sagt im Sinne der spekulativen Logik von Hegel: „Die Beziehung auf sich muss so gedacht werden, dass sie zugleich den Gedanken eine Beziehung auf anderes einschließt, – und umgekehrt.“ (Henrich 1988, S. 16) Selbstheit und Liebe, so sehr es auch das jeweils andere ausschließt, gehören zu einander und machen erst ein ganzes Leben aus.
Hölderlin erweitert den Gedanken der Liebe zu einem Metaprinzip der Vereinigung von Gegensätzen im Menschen. „Das sehnsüchtige Verlangen nach dem Unendlichen, die grenzenlose Bereitschaft zur Hingabe, vorzüglich aber der Trieb, die Einheit zwischen diesen Gegensätzlichen zu gewinnen und zu offenbaren, dies alles wird nun von einem Wort Liebe benannt.“ (Henrich 1988, S. 17) Es ist das Motto seines Romans Hyperion geworden, zu zeigen, dass die Aufgabe eines Menschenlebens darin besteht, sich in der Vereinigung einander entgegengesetzter Lebenstendenzen zu vollenden.
Die Liebe verwandelt sich bei ihm zu einer Kraft, die nicht als einem Zustand, sondern nur in Bewegung durch Gegensätze zu denken ist (Henrich 1988).
Literaturverzeichnis
Henrich, Dieter (1988): Hegel im Kontext. 4., veränd. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 510).
Herder, Johann Gottfried (1785): Liebe und Selbstheit. Ein Nachtrag zum Briefe des Hr. Hemsterhuis über das Verlangen. In: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha, 309-346. Online verfügbar unter https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_332.jpg, zuletzt geprüft am 17.08.2019.
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