Hans-Dieter Sill, 13.03.2024
Gedanken zum Begriff „Geschlecht“
Jan Böhmermann verunglimpft Biologinnen
Am 2. Dezember 2022 strahlte das ZDF die Sendung Magazin Royale mit Jan Böhmermann aus zum Thema „Trend Transfeindlichkeit – Wer in Deutschland gegen trans Menschen hetzt“. Böhmermann behauptete in seiner Sendung: „Es gibt mehr als zwei biologische Geschlechter, in der Biologie ist das inzwischen anerkannt.“ Er zitierte dazu unvollständig die Wissenschaftsjournalistin Claire Ainsworth, die sich zunächst missverständlich aber auf Nachfrage klar zu zwei biologischen Geschlechtern bekannt hat[1]. Weiterhin bezeichnet er in diskriminierender Weise einen Artikel der Biologin und Nobelpreisträgerin Prof. Dr. Christiane Nüsslein-Volhard in der EMMA mit dem Titel „Viele Geschlechter? Das ist Unfug!“ als Hetze gegen „Transmännchen“ und schließlich machte er sich über die junge Meeresbiologin Marie-Luise Vollbrecht lustig, der es nach seinen Worten „gar nicht wirklich um Wissenschaft, sondern bloß darum geht, gegen Transmenschen zu hetzen“. Diese Sendung löste ein großes Echo aus. Das YouTube-Video zur Sendung[2] wurde bisher 2.389.290-mal aufgerufen und es wurden 23.795 Kommentare abgegeben (Stand: 03.03.2024). In vielen Kommentaren werden Böhmermann fachliche Fehler und Demagogie vorgeworfen.
Ein Hauptgrund für die immer wieder auftretenden Begriffsverwirrungen ist die Tatsache, dass das Wort „Geschlecht“ mehrere unterschiedliche Bedeutungen hat. Diese Bedeutungen sind Aspekte des Begriffs „Geschlecht“, die in diesem Artikel nacheinander mit entsprechenden Vorschlägen für geeignete Bezeichnungen und Sprechweisen diskutiert werden. Dabei wird dann auch klar, worin der grundlegende Fehler von Böhmermann besteht.
Geschlecht im biologischen Sinne
In den biologischen Wissenschaften werden die Begriffe „weiblich“ und „männlich“ im Zusammenhang mit der geschlechtlichen Fortpflanzung definiert, bei der zwei Geschlechtszellen zu einer neuen Zelle verschmelzen. Die eine der beiden Geschlechtszellen wird als „weiblich“ und die andere als „männlich“ bezeichnet. Bei Menschen und Säugetieren handelt es sich um eine Eizelle und ein Spermium. Geschlecht ist in der Biologie die entgegengesetzte Ausprägung der Geschlechtszellen und der sie erzeugenden elterlichen Individuen[3]. Das Geschlecht im biologischen Sinne ist also einmal ein Merkmal von Geschlechtszellen mit den Ausprägungen „weiblich“ und „männlich“. Weitere Ausprägungen, die bei der Fortpflanzung eine Rolle spielen, konnten bisher nicht festgestellt werden. In der Biologie werden aber auch die Individuen der höheren Tierarten, die weibliche bzw. männliche Geschlechtszellen produzieren und zumeist auch entsprechende primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale ausbilden, selbst als weiblich oder männlich bzw. bei Menschen als Frau und Mann bezeichnet. Auch für diese beiden Ausprägungen wird in der Biologie als Merkmalsbegriff ebenfalls das Wort „Geschlecht“ verwendet. Damit gibt es in der Biologie zwei Bedeutungen für das Geschlecht im biologischen Sinne. Es ist einmal ein Merkmal von Geschlechtszellen mit den Ausprägungen „weiblich“ und „männlich“ und zum anderen morphologisches Merkmal von Individuen mit Ausprägungen, die mit den Begriffen „Frau“ und „Mann“ beim Menschen oder „Weibchen“ und „Männchen“ bei Tieren bezeichnet werden.
Diese beiden, eng verwandten Bedeutungen kann man zusammenfassend als „Geschlecht im biologischen Sinne“ oder kurz „biologisches Geschlecht“ bezeichnen.
Im Folgenden soll der komplizierte Prozess der Reproduktion von Geschlechtszellen skizziert werden, woraus sich weitere Rechtfertigungen für den Begriff „Geschlecht im biologischen Sinne“ ergeben. Beim Menschen gibt es jeder Geschlechtszelle (Eier bzw. Spermien) 23 Chromosomen. Eines der Chromosomen ist ein Geschlechtschromosom, dass die Information zu einem biologischen Geschlecht trägt. Bei einer Befruchtung entsteht ein neuer Zellkern mit 46 Chromosomen. Alle Zellen des neuen Individuums entstehen durch Zellteilung, beginnend mit der ersten, bei der Befruchtung entstandenen Zelle. Es gibt zwei Arten der Zellteilung. Bei der einen Art bleibt die Anzahl der Chromosomen gleich, auf diese Weise entstehen alle Zellen des neuen Individuums mit Ausnahme der Geschlechtszellen, also der Eier und Spermien. Die Geschlechtszellen entstehen durch eine Art der Zellteilung, bei der die Anzahl der Chromosomen halbiert wird. So gibt es dann wieder weibliche und männliche Geschlechtszellen mit je 23 Chromosomen, also wieder genau zwei Arten von Geschlechtszellen. Dadurch ist die Bezeichnung „Geschlecht im biologischen Sinne“ für Geschlechtszellen und Individuen erneut gerechtfertigt.
Damit es klar, dass Böhmermann den Biologinnen in ungerechtfertigter Weise Fehler und Hetze unterstellt hat. Er hat das Wort „Geschlecht“ pauschal verwendet und nicht erfasst, dass es mehrere Bedeutungen hat. Damit hat er über 2 Millionen Menschen falsch informiert und zur Missachtung wissenschaftlicher Kenntnisse angestachelt.
Man muss allerdings auch feststellen, dass die Biologin Christiane Nüsslein-Volhard in ihrem Beitrag nicht auf das Problem der unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs „Geschlecht“ außerhalb der Begriffswelt der Biologie eingegangen ist. Sie hätte erwähnen können, dass es in der Medizin, der Psychologie und in den Sozialwissenschaften andere Bedeutungen dieses Wortes gibt. Solche Unterscheidungen sind aber auf jeden Fall die Aufgabe von Journalisten, die sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen beschäftigen und diese verbreiten wollen.
Geschlecht im erweiterten biologischen Sinne
Bei den komplizierten Prozessen der Entwicklung des biologischen Geschlechts im Embryo kann es zu Abweichungen kommen. Dies betrifft sowohl die Herausbildung der neuen Geschlechtszellen als auch die beginnende Entwicklung der Geschlechtsmerkmale. Diese Abweichungen werden als Varianten der Geschlechtsentwicklung (DSD, engl. differences of sex development) bezeichnet. Sie umfassen eine Gruppe von seltenen Abweichungen von der typischen Geschlechtsentwicklung. Der deutsche Ethikrat hat im Jahr 2012 dazu eine umfangreiche Stellungnahme veröffentlicht. Im Jahr 2016 wurde in Übereinstimmung mit Betroffenenverbänden und medizinischen Fachgesellschaften eine Leitlinie zu „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ veröffentlicht, die Empfehlungen zur Versorgung von Menschen mit DSD in den Bereichen Medizin, Psychologie und Selbsthilfe berücksichtigt. In der Präambel dieser Leitlinie heißt es: „Angesichts der biologischen Zusammenhänge und der Erlebniswelt von Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung bedarf es für die adäquate psychologisch-medizinische Begleitung/Behandlung einer Revision des tradierten normativen Menschbildes von Frau und Mann. Das Bewusstsein für die Unzulänglichkeit des Entweder/Oder von „Zweigeschlechtlichkeit“ ermöglicht der Fachperson, gemeinsam mit der betroffenen Person und deren Angehörigen, das Feld des gelebten Geschlechts, sei es als Gesamtperson oder in spezifischen Verhaltensweisen, neu zu entdecken und zu definieren.“[4]
Mit diesen Darlegungen bekommt das Wort „Geschlecht“ eine weitere Bedeutung. Geschlechter in diesem Sinne sind nicht nur die biologischen Geschlechter, sondern auch Abweichungen von der typischen Entwicklung der biologischen Geschlechter. Man kann diese Bedeutung als „Geschlecht im erweiterten biologischen Sinne“ bezeichnen. Allerdings könnte man auch auf diese weiterte Bedeutung des Wortes „Geschlecht“ verzichten, wenn zu den Merkmalsausprägungen des biologischen Geschlechtes auch solche gezählt werden, die nicht immer, sondern nur bei einigen Individuen auftreten. Auf jeden Fall spricht der Begriff des Geschlechts im erweiterten biologischen Sinne nicht gegen die Tatsache, dass es nur zwei Arten von Geschlechtszellen gibt.
Das Geschlecht im selbstbestimmten Sinne
Heute wird die Diskussion zum Begriff des Geschlechts, wie auch der Beitrag von Böhmermann zeigt, vor allem unter dem Aspekt der sogenannten Transgeschlechtlichkeit bzw. der Geschlechtsidentität geführt. Dabei geht es um einen weit größeren Personenkreis als die von den Varianten der Geschlechtsentwicklung (DSD) betroffenen Menschen. Mit Geschlechtsidentität werden verschiedene Aspekte des subjektiven Erlebens einer Person von Zugehörigkeit zu einem Geschlecht bezeichnet. Man stellt sich die Frage, welchem biologischen Geschlecht man angehört und ob man sich entsprechend diesem Geschlecht oder davon verschieden erlebt. Wenn die Person zu der Einsicht kommt, dass ihre Geschlechtsidentität nicht oder nicht vollständig mit dem in der Regel anhand äußerer Merkmale vor oder unmittelbar nach der Geburt zugewiesenen biologischen Geschlecht übereinstimmt, spricht man von Transgeschlechtlichkeit oder kurz trans. Es geht also um rein individuelle Vorgänge der Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung.
Auch der Begriff des Geschlechts, der in den Bezeichnungen Transgeschlecht und Geschlechtsidentität enthalten ist basiert auf dem Begriff des biologischen Geschlechts. Es geht keineswegs um ein weiteres Geschlecht, sondern um die Frage, mit welchem Geschlecht sich eine Person identifiziert, relativ unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht. Diese neue Bedeutung des Wortes „Geschlecht“ könnte man mit „Geschlecht im selbstbestimmten Sinne“ oder kurz als „selbstbestimmtes Geschlecht“ bezeichnen.
Man kann sicher annehmen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem selbstbestimmten Geschlecht und der konkreten Ausprägung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale bei dieser Person. Die Ausprägung der Geschlechtsmerkmale wird durch Geschlechtshormone beeinflusst. Bei Vertretern beider biologischer Geschlechter gibt es jeweils beide Arten von Geschlechtshormonen, wobei das Hormon des anderen Geschlechts natürlich in weit geringerem prozentualem Anteil vorkommt. Das Verhältnis dieser beiden Arten von Hormonen kann aber in bestimmten Grenzen variieren, wodurch die Ausprägung der Geschlechtsmerkmale und Verhaltensweisen beeinflusst wird, was zu einer großen Vielfalt von entsprechenden Eigenschaften der Personen führt.
Die gesellschaftliche Berücksichtigung des selbst empfundenen und selbstbestimmten Geschlechts hat international dazu geführt, weitere Geschlechtsbezeichnungen auch offiziell anzuerkennen. Dies wird oft als „drittes Geschlecht“ bezeichnet. In aktuell 20 Ländern der Welt, darunter seit 2018 auch Deutschland, ist ein „unbestimmtes“ Geschlecht rechtlich anerkannt und kann in Dokumenten als Geschlechtsmerkmal eingetragen werden. In vielen Kulturen gibt es sogar teils jahrhundertealte Traditionen für Bezeichnungen von Menschen mit einem „anderen“ Geschlecht.
Geschlecht im sozialen Sinne
Von dieser geschlechtlichen Selbstbestimmung eines Menschen verschieden, aber sicher nicht gänzlich unabhängig davon, ist die Geschlechtspartner-Orientierung eines Menschen. Dabei geht es um das nachhaltige Interesse dieses Menschen an potentiellen Partnern bezogen auf deren biologisches bzw. selbstempfundenes Geschlecht, die sich in Emotionen, Zuneigung, Liebe, sexuelles Verlangen u. a. äußert. Kategorien von Orientierungen sind Heterosexualität, Homosexualität, Bisexualität, Asexualität, Polysexualität u. a. Dabei gibt es z. B. zwischen den beiden Extremen „sehr ausgeprägtes heterosexuelles Verhalten“ und „sehr ausgeprägtes homosexuelles Verhalten“ vielfältige, stufenlos ineinander übergehende Varianten. Auch die Geschlechtspartner-Orientierung führt aber nicht über den Rahmen der zwei biologischen Geschlechter hinaus.
„Geschlecht“ in diesem Sinne ist also letztlich ein soziologisches Konstrukt, mit dem Beziehungen zwischen Menschen beschrieben werden, die mit ihrem biologischen bzw. selbstempfundenen Geschlecht zusammenhängen. Als Bezeichnung wäre „Geschlecht im sozialen Sinne“ oder kurz „soziales Geschlecht“ möglich. Damit wird die Summe von Verhaltensweisen einer Person bezeichnet, die mit ihrem biologischen Geschlecht bzw. ihrer Geschlechtsidentität in Verbindung steht und die in einer Kultur für ein bestimmtes Geschlecht als typisch oder akzeptabel gelten.
Zur Verwendung der Bezeichnungen Sex, sexuell und Gender
Man findet anstelle der Bezeichnungen „Geschlechtsidentität“ bzw. „Geschlechtspartner-Orientierung“ häufig die Bezeichnungen „sexuelle Identität“ bzw. „sexuelle Orientierung“. Die Verwendung der Wörter „sexuell“, „Sex“ oder „Sexualität“ können zur weiteren Verwirrung beitragen, da diese Wörter unterschiedliche Bedeutung besitzen. Nach dem Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) hat das Wort „Sex“ die folgenden vier Bedeutungen: 1. Ausübung sexueller Handlungen, vor allem zwischen zwei oder mehreren Personen; Geschlechtsverkehr, 2. das Geschlechtliche, körperlich-sinnliche Begierde, Sexualität, 3. geschlechtliches, körperliches Begehren erweckende, sinnliche Anziehungskraft, Ausstrahlung, 4. Sozialwissenschaften: biologisches Geschlecht. Es ist erkennbar, dass deutlich der Bezug zum Geschlechtsverkehr dominiert, was durch die Häufigkeit entsprechender Wortverbindungen bestätigt wird.
Die Bedeutung von „Sex“ als dem biologischen Geschlecht ergibt sich aus der Verwendung im Englischen, wo „sex“ das biologische Geschlecht bezeichnet im Unterschied zu „gender“ als dem sozialen Geschlecht. Die Vertreterin der Genderforschung Paula-Irene Villa stellt dazu fest. „Diese englischsprachige Unterscheidung von Sex und Gender wird international, aber auch im deutschsprachigen Raum verwendet, weil der Begriff ‚Geschlecht‘ hier nicht unterscheidet und damit zu unspezifisch ist“[5]. Was für Forschungszwecke zwar sinnvoll erscheinen mag, ist für allgemeinverständliche Darstellungen eher ungeeignet, da das Wort „Sex“ im Deutschen, wie oben gezeigt, mit anderen Bedeutungen aufgeladen ist und der Anglizismus „Gender“ kaum allgemeinverständlich ist. Der Begriff „Geschlecht im sozialen Sinne“ ist besser geeignet, man muss sich nur auf die verschiedenen Bedeutungen des Wortes „Geschlecht“ einlassen.
Als ein weiteres Problem mit dem Anglizismus „Gender“ kommt hinzu, dass er eine Nähe zum Begriff „Gendern“ hat, der so gut wie keine Bezüge zum Terminus „soziales Geschlecht“ besitzt. „Gendern“ steht im Deutschen für einen geschlechterbewussten Sprachgebrauch, der eine Gleichbehandlung der Geschlechter (im biologischen Sinne!) in der schriftlichen und gesprochenen Sprache zum Ausdruck bringen will, wobei es insbesondere um die gleiche und faire Behandlung von Frauen und Männern im Sprachgebrauch geht.
Abschließende Bemerkungen
Insgesamt kann man feststellen, dass „Geschlecht“ ein sehr komplexer Begriff mit zahlreichen Aspekten ist, die in diesem Beitrag auch nicht alle abgehandelt werden konnten. Es ist deshalb nicht vertretbar, diesen Begriff einfach mit dem Begriffswort „Geschlecht“ abzutun. Um die verschiedenen Aspekte zu unterscheiden, sollten geeignete Zusätze zu Wort „Geschlecht“ verwendet werden, die die jeweilige Bedeutung zum Ausdruck bringen.
Die Gedanken und Vorschläge in diesem Beitrag sind entstanden aus philosophischen Überlegungen zu den Begriffen „Merkmal“ und „Eigenschaft“ (https://philosophie-neu.de/analysen-der-begriffe-merkmal-und-eigenschaft/) sowie zu dem Unterschied von Wort und Begriff (https://philosophie-neu.de/neue-analysen-zu-wort-terminus-und-begriff/).
[1] https://zoos.media/medien-echo/boehmermann-biologische-geschlechter/
[2] https://www.youtube.com/watch?v=rh7hH-ua8oI
[3] https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/geschlecht/27664
[4] https://www.aem-online.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/S2k_Geschlechtsentwicklung-Varianten_2016-08_01_1_.pdf
[5] Villa, Paula-Irene (2019): Sex – Gender: Ko-Konstitution statt Entgegensetzung. In: Beate Kortendiek, Birgit Riegraf und Katja Sabisch (Hg.): Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung. Wiesbaden: Springer S. 23