Funktionen und Zielstruktur des Mathematikunterrichts[1]
1. Vorbemerkungen
In den 90er Jahren sind in zahlreichen Bundesländern neue Lehrpläne oder Rahmenrichtlinien entstanden, die aus unterschiedlichen Gründen eine Reihe neuer Akzente für die Entwicklung des Mathematikunterrichts in den jeweiligen Ländern setzen. Leider sind diese bedeutsamen und interessanten Entwicklungsprozesse bisher kaum reflektiert worden. Für eine wissenschaftliche Fundierung der meist für sich arbeitenden Lehrplankommissionen sowie für die darauf aufbauende Entwicklung von neuen Lehrbüchern ist eine vergleichende kritische Lehrplan- und Lehrbuchanalyse, wie sie in früheren Jahrzehnten durchaus üblich war, erforderlich. Diese Leistung gehört zur gesellschaftlichen Legitimation der Wissenschaft Didaktik, auch wenn die staatlichen und privaten Stellen von sich aus kaum Beratungsbedarf anmelden.
Der Beitrag stützt sich auf eine Analyse von 10 Lehrplänen bzw. Lehrplanentwürfen aus den Bundesländern Berlin, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen.
2. Funktionen und Ziele des Mathematikunterrichts
Zu Beginn eines jeden Lehrplans werden allgemeine Aufgaben für den Mathematikunterricht formuliert. Außer den Unterschieden in der Ausführlichkeit und Gründlichkeit der Darlegungen gibt es weitere Unterschiede bezüglich der Art und Anzahl der betrachteten Aspekte und Aufgabenfelder.
Ausgehend von Erfahrungen bei interdisziplinären Arbeiten zum fakultativen Unterricht in der DDR (Sill 1986) wird vorgeschlagen, eine Unterscheidung von Funktionen und Zielen des Mathematikunterrichts vorzunehmen. Unter der Funktion eines pädagogischen Prozesses (z.B. eines Unterrichtsfaches) wird seine Rolle innerhalb eines Systems gesellschaftlicher Erscheinungen, Verhältnisse oder Prozesse verstanden. Zur Angabe einer Funktion gehört also die Ausweisung eines Bezugssystems und die Angabe der Wechselwirkung mit anderen Systemkomponenten.
Die Zuordnung der allgemeinen Aufgaben des Mathematikunterrichts zu Funktionen ermöglicht eine bessere Strukturierung und damit einen Vergleich und eine Bewertung der Lehrpläne. Es werden Lücken und weitere Probleme deutlich.
Ausgehend von einer Betrachtung der Verflechtungen des Mathematikunterrichts mit anderen Prozessen sowie einer Analyse der in den Lehrplänen enthaltenen Aussagen können folgende Funktionsgruppen bzw. Bezugssystem des Mathematikunterrichts unterschieden werden. Es ist jeweils in Klammern angegeben, in wie vielen der 10 analysierten Lehrpläne zumindest gewisse Aussagen zu diesen Funktionen enthalten sind.
- Funktion bei der Bewahrung und Weiterentwicklung der Wissenschaft Mathematik als Teil der menschlichen Kultur (7)
- Funktion in Bezug auf die bisherigen Bildungswege (4)
- Funktion im System der parallel laufenden Unterrichtsfächer (7)
- Funktion in Bezug auf die weiteren Bildungswege (6)
- Funktion in Bezug auf die mathematischen bzw. mit der Mathematik verbundenen Anforderungen im persönlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Leben eines Bürgers unserer Gesellschaft (9)
- Funktion bei der Persönlichkeitsentwicklung der Schüler (9)
- Funktion bei der Reflexion und Gestaltung des gegenwärtigen Lebens der Schüler (3)
Aus den Funktionsbestimmungen ergeben sich jeweils Ziele des Mathematikunterrichts, wobei oft eine scharfe Trennung in den Formulierungen schwierig ist. Eine Zielangabe erfordert keinen Bezug zu einem übergreifenden System von Anforderungen. Verschiedene Funktionen führen oft zu gleichen Zielen, d.h. Ziele sind in der Regel multifunktional.
Der Zielbegriff wird meist in weitem Sinne als Synonym für Aufgabe oder Aufgabenstellung verwendet und nicht auf pädagogische Ziele im folgenden Sinne beschränkt. Unter einem pädagogischen Ziel des Mathematikunterrichts wird ein spezielles System von Kenntnissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Einstellungen u.a. Persönlichkeitseigenschaften verstanden, das im Mathematikunterricht bei den Schülern auszubilden ist.
Mit dem Begriff Können werden Systeme von Persönlichkeitseigenschaften bezeichnet, in denen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten dominierend sind.
Unter einer Entwicklungslinie (Linienführung) im Mathematikunterricht wird ein über mehrere Klassenstufen verlaufender Prozeß der Aneignung eines Ziels oder einer Gruppe von Zielen des Mathematikunterrichts verstanden.
Inhalte des Mathematikunterrichts sind die Gegenstände der Aneignungsprozesse. Dabei handelt es sich vor allem um die Kenntnis mathematischer Begriffe, Sätze und Verfahren aber auch um mathematische Denk- und Arbeitsweisen, um allgemeine Methodenkenntnisse, generelle Einstellungen oder allgemein-geistige Fähigkeiten.
Ziele des Mathematikunterrichts können unter drei Aspekten betrachtet werden, die jeweils noch zu untersetzen sind (Sill 1994):
- Grad der Aneignung
- Grad der Fachspezifik
- Spezifik der Schulart
Um die Lehrer auf die so verstandenen Ziele des Mathematikunterrichts und ihre meist langfristige und stufenweise Entwicklung zu orientieren, wird eine Gliederung der Inhalte nach Könnensbereichen und Entwicklungslinien für günstig gehalten.
Entwicklungslinien können häufig durch ein sich änderndes Wechselverhältnis zweier unterschiedlicher Aspekte charakterisiert werden.
Aus diesen Linienführungen ergeben sich weiterhin Orientierungen für einen am Lernen und Verstehen der Schülerinnen und Schüler ausgerichteten systematischen Aufbau des Mathematikunterrichts, der sich sowohl von der Orientierung des Mathematikunterrichts an der Fachsystematik als auch von einem unsystematischen, nur an wechselnden Tätigkeiten orientierten Mathematikunterricht unterscheidet.
Zu den Linien bei der Entwicklung des Rechnenkönnens gehören
- Entwicklung von Fertigkeiten im mündlichen und schriftlichen Rechnen sowie im Arbeiten mit Rechenhilfsmitteln, wobei das Verhältnis der Formen des Rechnens den Entwicklungsprozeß prägt,
- das Wissen und Können im Umgang mit Näherungswerten und Näherungsverfahren,
- die schrittweise Herausbildung von Zahlen- und Größenvorstellungen,
- die Entwicklung des Verhältnisbegriffes
Die Entwicklung des Könnens im Lösen von Gleichungen und Ungleichungen ist vor allem gekennzeichnet durch
- die Entwicklung des Variablenbegriffes
- das Verhältnis von inhaltlichem und formalem Arbeiten mit Termen sowie
- das Verhältnis von inhaltlichem und kalkülmäßig-algorithmischem Lösen von Gleichungen und Ungleichungen,
3. Entwicklungen in den neuen Bundesländern
Die Entwicklung neuer Lehrpläne und Lehrbücher in den neuen Bundesländern nach 1990 wurde beeinflußt durch äußere Faktoren (Veränderung der Schulstruktur, Reduzierung der Stundenzahlen, Bekanntschaft mit anderen Lehrplänen und Lehrbüchern, Beratung aus alten Bundesländern) aber auch durch das Bestreben der Beteiligten, bisherige Mängel und Diskrepanzen zu überwinden. Eine Analyse der Lehrpläne der fünf neuen Länder ergab eine Reihe wesentlicher Unterschiede aber auch vieler Gemeinsamkeiten in Bezug auf das Verhältnis zum Mathematikunterricht in der DDR (Sill 1993). Es lassen sich u.a. folgende Feststellungen treffen:
- In Fortsetzung der Bestrebungen im Mathematikunterricht der DDR, der Entwicklung des Könnens im Anwenden einen höheren Stellenwert zu geben, enthalten die Pläne von Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen in allen Klassenstufen ein gesondertes Stoffgebiet zu diesem Anliegen.
- Es ist aus Sicht der beruflichen Praxis, in der man es meist mit Näherungswerten zu tun hat, erfreulich, daß in allen Plänen bis auf Thüringen das Arbeiten mit Näherungswerten einen Platz in den Plänen behalten hat.
- In allen Lehrplänen wird weiterhin Wert auf inhaltliches Lösen von Gleichungen und Ungleichungen gelegt, das im Mathematikunterricht der DDR bereits in den Klassen 4 und 5 breiten Raum einnahm.
- Bis auf Thüringen wurde in allen Lehrplänen an dem bewährten gemischten Vorgehen bei der Behandlung der gebrochenen Zahlen und seiner Aufteilung auf die Klassen 5 und 6 festgehalten.
Die Betrachtung von Inhalten, ihrer Anordnung und Verteilung allein führt allerdings nicht zu den tieferen kulturellen Unterschieden zwischen dem Mathematikunterricht in der DDR und der BRD. Sie lassen sich m.E. vor allem auf ein unterschiedliches Verhältnis zwischen der Orientierung an der Wissenschaft Mathematik (der Sache) und der Orientierung an den Entwicklungsprozessen in Wissen und Können der Schüler (den Personen) zurückführen. Nach meinem Eindruck legen bisher erst wenige Lehrer die letztgenannte Sicht ihren täglich zu treffenden Entscheidungen zu Grunde. Klagen, Appelle und Inspektionen helfen hier nicht. Nur über die Veröffentlichung und Diskussion der konkreten täglichen Entscheidungen gibt als überhaupt eine Chance, die Lehrer für diese Betrachtungsweise aufzuschließen. Selbst dann bedarf es eines längeren Prozesses kritischer Selbstreflexionen.
Literatur
Sill, H.-D. (1986): Zu den Funktionen fakultativer Kurse nach Rahmenprogramm. In: Wiss. Zeitschrift Pädag. Hochsch., Pädag. Fak. ‑ Güstrow 22, 1. ‑ S. 95 ‑ 104
Sill, H.-D. (1993): Zum Mathematikunterricht in Realschulbildungsgängen der neuen Bundesländer. – In: Die Realschule, H. 1. S. 17 – 21
Sill, H.-D. (1994): Zum Abschlußprofil des Mathematikunterrichts an Realschulen. In: Die Realschule, H. 1. S. 20 – 25
[1] Sill, H.-D. (1997): Funktionen und Zielstruktur des Mathematikunterrichts. – In: Beiträge zum Mathematikunterricht.- Hildesheim: Franzbecker, 1997. S. 466-469
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