Hans-Dieter Sill, 20.08.2025

Explikation des Begriffs „Gegensatz“

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Inhalt

Vorbemerkungen

Formale Aspekte

Nichtformale Aspekte

Wortpaare, die nicht als Gegensätze im erklärten Sinne anzusehen sind

Gegensatz und Unterschied

Gegensätze zwischen zwei Objekten bzw. zwischen zwei Eigenschaften eines Objektes

Gleichzeitigkeit und Nichtgleichzeitigkeit der gegensätzlichen Ausprägungen

Trennbarkeit und Untrennbarkeit

Abhängigkeit und Unabhängigkeit der Objekte bzw. Ausprägungen voneinander

Dominanz einer Seite des Gegensatzes und Änderung der Dominanz

Übergänge zwischen den Seiten eines Gegensatzes

Gegensätze zwischen Mengen

Wirken von Gegensätzen

Wirkungen von Gegensätzen zwischen Objektmengen als gerichtete Beziehungen

Ausgleich von Gegensätzen

Gegensätze als Faktoren von Entwicklungen

Zum Begriff der Einheit von Gegensätzen

Denken in Gegensätzen

Literaturverzeichnis

Vorbemerkungen

In der gesichteten philosophischen Literatur gibt es eine Fülle von Gegensätzen auf unterschiedlichen theoretischen Ebenen, etwa zwischen dem Einen und der Vielheit und zwischen warm und kalt. Angesichts der Fülle der verschiedenen Arten von Gegensätzen ist eine Explikation des Begriffs Gegensatz ein anspruchsvolles Unterfangen. In diesem Kapitel soll der Versuch einer Explikation und einer Strukturierung der Arten von Gegensätzen unternommen werden.

In der Alltagssprache tritt das Wort „Gegensatz“ mit mittlerer Häufigkeit auf und hat bestimmbare Bedeutungen. Die philosophische Explikation sollte mit den alltagssprachlichen Bedeutungen möglichst gut übereinstimmen.

Erschwerend für die Begriffsbestimmung kommt hinzu, dass es zahlreiche Bezeichnungen in der Philosophie für Gegensätze gibt. Eine Analyse dieser Bezeichnungen hat ergeben, dass viele wenig geeignet sind. Einer der Gründe ist das sehr seltene oder nicht nachweisbare Auftreten der Wörter in der Alltagssprache und in den philosophischen Texten. Dies betrifft die Wörter Antagonismus, Gegenwort, Gegensatzwort, Oppositionswort, Antonym/Antonymie und Polarität.

Zur geringen Verbreitung in der Alltagssprache kommt bei einigen Wörtern hinzu, dass sie sprachlich intuitiv nicht verständlich sind, wie die Wörter Antinomie, Antonymie, Komplementarität.

Das Wort „Gegenteil“ ist zwar in der Alltagssprache verbreitet und sprachlich verständlich, wird aber unterschiedlich verwendet bzw. interpretiert.

In vielen Fällen hat das Wort im Laufe der Geschichte in der Philosophie unterschiedliche Bedeutungen erhalten und es hat sich keine dieser Bedeutungen intersubjektiv manifestiert. Dies betrifft die Wörter Antagonismus, Antinomie, Gegenteil, Komplementarität, Polarität und Widerspruch.

Einige Wörter sind Fachbegriffe in anderen Wissenschaften und haben dort eine bestimmte Bedeutung, die nicht zu einem philosophischen Begriff verallgemeinert werden kann. Dies betrifft die Wörter Antagonismus (speziell Antagonist in der Literaturwissenschaft, der Medizin und Biochemie), Antinomie in der Logik und Mengentheorie, Gegenwort, Gegensatzwort, Oppositionswort, Antonym/Antonymie und Komplementarität in der Linguistik, Polarität in der Geographie, Astronomie und Physik.

Beim Wort „Widerspruch“ kommt hinzu, dass sich seine dominierenden Verwendungen in der Alltagssprache und in den philosophischen Lexika erheblich unterscheiden, was u. a. durch die wesentlich häufigere Verwendung des Verbs „widersprechen“ in der Alltagssprache seinen Ausdruck findet.

Bei allen Wörtern hat sich gezeigt, dass die Bedeutungen und Verwendungen auch mit dem Wort „Gegensatz“ zum Ausdruck gebracht werden können. Sie sind also auch in dieser Hinsicht verzichtbar.

Bei den Analysen der Wörter wurden sehr viele Beispiele ermittelt und zum Teil nach bestimmten Kriterien strukturiert. Dies spricht für die vielfältigen Verwendungen von Gegensätzen und ihre Bedeutung für die Beschreibung von Zusammenhängen in der Philosophie.

In den Literaturanalysen wurde eine große Anzahl von Begriffspaaren ermittelt, die als Gegensatz bezeichnet werden (vgl. https://philosophie-neu.de/analysen-zum-begriff-gegensatz/). Diese Liste lässt sich offensichtlich noch beliebig erweitern, sobald der Begriff „Gegensatz“ nicht erklärt ist. Trotz der heutigen Verwendung des Wortes Gegensatz gibt es der Literatur sehr wenige Vorschläge zur Explikation des Begriffs. Oft werden nur spezielle Formen wie ein kontradiktorischer, konträrer, logischer oder realer Gegensatz aufgeführt. Es wurden bei den Analysen folgende Erklärung dieses Begriffs ermittelt.

Aristoteles erklärt (nach der Übersetzung von Bonitz und Seidel) den Begriff des Entgegengesetzten.  „Entgegengesetzt nennt man den Widerspruch, das Konträre, das Relative, Privation und Haben, und das Äußerste, woraus oder wozu das Entstehen und Vergehen übergeht; ferner wenn etwas nicht zugleich sich an demselben (Substrat) finden kann, das beides in sich aufzunehmen fähig ist, so nennt man jenes selbst oder das, woraus es ist, entgegengesetzt“ (Met. V 10, 1018a20-24). Aristoteles nennt zuerst Arten von Gegensätzen und dann das „Äußerste“, also etwas Extremes als ein Ergebnis von Entstehen und Vergehen. Entgegengesetztes hat danach für Aristoteles etwas mit extremen Werten und mit den Vorgängen des Entstehens und Vergehens von Existierendem zu tun. Danach versucht er den Fall zu beschreiben, dass zwei Objekte zueinander entgegengesetzt sind. Offensichtlich ist von seinen Vorgängern vor allem das Entgegengesetzte innerhalb eines Objektes betrachtet worden, so etwa auch bei Heraklit. Wenn zwei Objekte (Substrate) verschiedene Eigenschaften haben, so heißen diese und auch die Subjekte nach Aristoteles entgegengesetzt. Er erläutert das anschließend an dem Beispiel, dass sich zwei Farben (grau und weiß) nicht an demselben Objekt finden lassen und damit wären die Objekte entgegengesetzt.

Hegel hat den Begriff „Gegensatz“ in der WL II erklärt. Das Verständnis wird dadurch erschwert, dass er die Relata eines Gegensatzes als das Positive und das Negative bezeichnet. Er bringt das Wesen eines Gegensatzes dann in folgender Weise zum Ausdruck: „Das Positive und Negative ist hiermit nicht nur an sich positiv und negativ, sondern an und für sich. An sich sind sie es, insofern von ihrer ausschließenden Beziehung auf Anderes abstrahiert und sie nur nach ihrer Bestimmung genommen werden. … Allein das ansichseiende Positive oder Negative heißt wesentlich, daß entgegengesetzt zu sein nicht bloß Moment sei, noch der Vergleichung angehöre, sondern die eigene Bestimmung der Seiten des Gegensatzes ist.“ (WL II, S. 59). Mit dieser Formulierung bringt er zum Ausdruck, dass bei jedem Gegensatz die Relata sowohl für sich als auch in ihrer untrennbaren Beziehung aufeinander betrachtet werden müssen. Jedes der Relata enthält sowohl inmS. als auch im imS. das andere in sich, es existiert nicht ohne das andere, ist nicht ohne das andere denkbar.

Guardini erklärt den Terminus „Gegensatz“ als „ein eigentümliches Verhältnis, in dem jeweils zwei Momente einander ausschließen, und doch wieder verbunden sind, ja, … einander geradezu voraussetzen; …“ (Guardini 1998, S. 28). Jedes der beiden Momente steht „unableitbar, unüberfühlbar, unvermischbar in sich,“ sie sind „unablöslich miteinander verbunden“ (Guardini 1998, S. 41). Guardini erklärt nicht weiter, was er unter „Verhältnis“ oder „Moment“ versteht. Die Relata des Gegensatzes, die „unablöslich miteinander verbunden sind“, sollen sich nach seiner Erklärung ausschließen und voneinander abhängig sein.

Aus den Erklärungen der drei Protagonisten der Gegensatzthematik sind eine Reihe von Gedanken zu erkennen, aber sie liefern keine konsistente und umfassende Erklärung des Begriffs. Die Gedanken sind in der folgenden Explikation des Begriffs enthalten, die wie üblich in einer Unterteilung in formale und nicht formale Aspekte besteht. Die formalen Aspekte beinhalten den schon bei Aristoteles erkennbaren Gedanken eine Unterscheidung zwischen einem Gegensatz innerhalb eines Objektes und Gegensätzen zwischen Objekten sowie den Gedanken des Extremen. Alle übrigen Ideen aus der Literatur sind in den nichtformalen Aspekten enthalten.

Formale Aspekte

Ein Gegensatz ist

  • eine Beziehung zwischen selbstständig existierenden Objekten in Bezug auf ein gemeinsames Merkmal, dessen Ausprägungen bei den Objekten gegensätzlich sind oder
  • eine Beziehung zwischen gegensätzlichen Ausprägungen eines Merkmals eines Objektes.

Die Skala der Ausprägungen ist jeweils beschränkt, d. h. sie hat eine untere und obere Schranke. Zwei Ausprägungen sind gegensätzlich, wenn sie die untere oder obere Schranke der Skala oder Werte in der Nähe dieser Schranken sind.

Um einen Gegensatz zu realisieren oder zu identifizieren sind folgende Schritte erforderlich:

  1. Bestimmung eines gemeinsamen Merkmals von Objekten bzw. eines Merkmals eines Objektes
  2. Bestimmung einer beschränkten ordinalen oder metrischen Skalierung des Merkmals
  3. Bestimmung gegensätzlicher Merkmalsausprägungen

Aus der Erklärung ergibt sich, dass es keinen Gegensatz zwischen Objekten bezüglich eines gemeinsamen Merkmals geben kann, das nur nominal skalierbar ist. So gibt es keine Gegensätze zwischen Menschen in Bezug auf das Merkmal „ausgeübte Beruf“. Wenn als Objekte „ausgeübte Berufe“ gewählt werden, so kann z. B. als gemeinsames, ordinal skalierbares Merkmal der notwendige Qualifikationsgrad gewählt werden. Wird als gemeinsames Merkmal der Arbeitsgegenstand betrachtet, so ist erneut nur eine nominale Skalierung und damit keine Bestimmung von gegensätzlichen Beziehungen möglich.

Nichtformale Aspekte

Wortpaare, die nicht als Gegensätze im erklärten Sinne anzusehen sind

Mit dem erklärten Begriff „Gegensatz“ fallen viele der in der Literatur als Beispiele für Gegensätze angegebenen Wortpaare (vgl. 3.23) nicht unter diesen Begriff bzw. es ist nicht erkennbar oder schwer bestimmbar um welches Merkmal es geht.

Beispiele:

Licht und Finsternis: Merkmal könnte die Helligkeit sein. Der Begriff „Helligkeit“ ist aber mehrdeutig. Er bezeichnet einmal subjektive Eindrücke und zum anderen eine objektive Messgröße für die Stärke einer visuellen Wahrnehmung von sichtbarem Licht. Weiterhin muss unterschieden werden, ob es um das Licht geht, das auf das Auge fällt, oder die Lichtmenge, die von einer Lichtquelle ausgestrahlt wird. Eine Skalierung und damit eine Bestimmung gegensätzlicher Ausprägungen ist somit alleine auf der Basis des Wortpaares nicht möglich.

jung und alt: Das Merkmal ist offensichtlich das Alter eines Menschen. Die Ausprägungen „jung“ und „alt“ sind aber unbestimmt und bezeichnen in der Regel nicht die Schranken der Skala bzw. Werte in der Nähe.

Natur und Kultur: Es ist nicht erkennbar, um welches gemeinsame Merkmal es gehen soll.

Gelehrtensprache und historisch gewachsene Sprache: Die Inhaltsbestimmungen der Wörter sind unklar, auch eine Gelehrtensprache, wie etwa die der Philosophie, ist historisch gewachsen. Gemeinsame inhaltliche Merkmale der Sprachen, wie Verständlichkeit sind wenig geeignet, da zum Beispiel der Adressatenkreis bekannt sein muss und sich die Verständlichkeit kaum skalieren lässt. Ein eher formales Merkmal wäre die Anzahl der Personen einer Sprachgemeinschaft, die die betreffende Sprache beherrschen, aber eine quantitative Bestimmung für alle Gelehrtensprachen ist nicht möglich, man kann nur feststellen, dass sich die Anzahlen unterscheiden.

Determinismus und Freiheit: Determinismus ist eine bestimmte theoretische Auffassung, die insbesondere in der Naturphilosophie eine Rolle spielt. Kern der Auffassung ist, dass alle Ereignisse, insbesondere zukünftige, durch die aktuellen Bedingungen eindeutig festgelegt sind. „Freiheit“ ist dagegen ein Begriff mit vielfältigen Bedeutungen, der sowohl im politischen, philosophischen als auch im persönlichen Kontext verwendet wird. In einem weiten Sinn wird Freiheit als die Möglichkeit verstanden, ohne Zwang zwischen unterschiedlichen Optionen auszuwählen und entscheiden zu können (Wikipedia). Beide Wörter beziehen sich also auf gänzlich unterschiedliche Objekte, zum einen Vorgänge in der Natur und zum anderen Vorgänge beim Handel eines Menschen. Hintergrund könnte das Verhältnis von Fremd- und Eigenbestimmung sein; denn es ist sicher nicht der Gegensatz zwischen einer Theorie und einem Begriff gemeint. Dieser Zusammenhang kommt auch in anderen Begriffspaaren zum Ausdruck wie Autonomie und Heteronomie, Freiheit und Notwendigkeit oder Naturwesen und Vernunftwesen. Das Problem der „freien“ Entscheidung eines Menschen ist aber weit komplexer, als es bei solchen pauschalen Gegensetzungen erscheint. Aus dem Neurowissenschaften ist bekannt, welche bedeutende Rolle das Unbewusste bei Entscheidung spielt, einige Wissenschaftler bestreiten sogar, dass es einen freien Willen gibt. Generell ist die Frage, welchen heuristischen oder erkenntnistheoretischen Wert die Bezeichnung von Theorien oder Begriffen als Gegensatz hat. Gegensätzliche Aspekte ergeben sich erst bei einer genaueren Analyse der Theorien bzw. Begriffe.

Gegensatz und Unterschied

Bei einem Gegensatz handelt es sich um ein Paar gegensätzlicher Ausprägungen bezüglich eines Merkmals. Bei verschiedenen Ausprägungen eines Merkmals bei Objekten spricht man von einem Unterschied der Objekte. Jeder Gegensatz ist auch ein Unterschied, aber nicht jeder Unterschied ist ein Gegensatz.

Zwei Objekte können sowohl in einem Gegensatz zueinander stehen, als sich auch nur unterscheiden. So kann die Temperatur des Wassers in zwei Gefäßen gegensätzlich sein, oder sich nur gering unterscheiden. Die Muttersprache und eine beliebige Fremdsprache sind gegensätzlich zueinander in Bezug auf das Merkmal „in der frühen Kindheit ohne formalen Unterricht erlernte Sprache“ mit den Ausprägungen „ja“ und „nein“. Bezüglich anderer Merkmale einer Sprache sowie die jeweilige Phonologie, Grammatik, Semantik oder Pragmatik gibt es zahlreiche Unterschiede, die aber in der Regel nicht gegensätzlich sind. Mit dem Vergleich von Sprachen beschäftigen sich die vergleichenden Sprachwissenschaften.

Gegensätze zwischen zwei Objekten bzw. zwischen zwei Eigenschaften eines Objektes

Bei Gegensätzen zwischen Objekten handelt es sich häufig um zwei Objekte und bei Gegensätzen innerhalb eines Objektes um einen Gegensatz zwischen zwei Eigenschaften.

Beide Fälle können durchaus im gleichen Sachverhalt auftreten. Als Beispiel seien zum einen zwei Herdplatten und das gemeinsame Merkmal „Temperatur“ betrachtet. Bei einer ordinalen Skalierung können die Ausprägungen „kalt“ und „heiß“ als gegensätzlich angesehen werden. Damit kann man von einem Gegensatz zwischen den beiden Herdplatten in Bezug auf das Merkmal ihrer Temperatur sprechen. Zum anderen kann man als Objekt eine einzelne Herdplatte und ihr Merkmal „Temperatur“ mit den gegensätzlichen Ausprägungen „kalt“ und „heiß“ betrachten. Damit kann man dann von einem Gegensatz zwischen den Eigenschaften „kalt“ und „heiß“ der Herdplatte sprechen.

Analog sind für das Merkmal „Temperatur“ von Wasser mit den Ausprägungen „kalt“ und „warm“ zwei benachbarte Fälle zu unterscheiden. Wenn es sich um eine zusammenhängende Wassermenge handelt, wie etwa bei einem See oder einem Meer, so kann von einem Gegensatz zwischen den Ausprägungen „kalt“ und „warm“ der Durchschnittstemperatur des Wassers in der gesamten Wassermenge oder einen Teil, wie im ufernahen Bereich, gesprochen werden. Bei zwei Gefäßen mit kaltem und warmem Wasser liegt ein Gegensatz zwischen diesen Gefäßen in Bezug auf das Merkmal Temperatur mit den gegensätzlichen Ausprägungen „kalt“ und „warm“ vor.

Weitere Beispiele für Gegensätze zwischen zwei Objekten sind:

  • der Gegensatz zwischen schwarzer und weißer Farbe in Bezug auf das Merkmal Helligkeit
  • der Gegensatz zwischen Tag und Nacht in Bezug auf das Merkmal Sonnenstand
  • der Gegensatz zwischen Nordpol und Südpol Bezug auf das Merkmal geographische Lage

Beispiele für Gegensätze innerhalb eines Objektes zwischen zwei Eigenschaften sind:

  • der Gegensatz innerhalb des Lichts in Bezug auf das Merkmal „Verhalten in Experimenten“ mit den gegensätzlichen Ausprägungen „Verhalten als Welle“ und „Verhalten als Teilchen“
  • der Gegensatz innerhalb eines Hundes Bezug auf das Merkmal „Verhalten“ mit den gegensätzlichen Ausprägungen „Verhalten als Haustier“ und „Verhalten als Raubtier“
  • der Gegensatz innerhalb eines Begriffs inmS. in Bezug auf das Merkmal „Grad der Formalisierbarkeit“ mit den Ausprägungen „formalisierbar“ und „nicht formalisierbar“

Einige der genannten Beispiele werden im Abschnitt 2.8.2 näher erläutert.

Gleichzeitigkeit und Nichtgleichzeitigkeit der gegensätzlichen Ausprägungen

Die gegensätzlichen Ausprägungen eines Merkmals können gleichzeitig bestehen. Dies betrifft etwa die gegensätzlichen Kräfte im Beispiel einer gespannten Saite bei einem Musikinstrument oder dem Verhalten als Welle oder Teilchen beim Licht. In beiden Fällen geht es um Gegensätze innerhalb eines Objektes.

Bei einem Vorgang, wie etwa der Entwicklung des Bildungsniveaus eines Menschen, können die gegensätzlichen Ausprägungen „Veränderung“ und „Nichtveränderung“ nur in zeitlicher Folge bestehen. Weitere Beispiele für die Nichtgleichzeitigkeit gegensätzlicher Ausprägungen sind

  • die Ausprägungen „warm“ und „kalt“ beim Merkmal empfundene Temperatur oder
  • die Fließrichtung des Wassers bei dem Vorgang von Ebbe und Flut.

Die Ausprägungen „schwarz“ und „weiß“ beim Merkmal „Farbe eines Objektes“ können gleichzeitig bestehen, wie etwa bei der Färbung eines Zebras oder eines Kleides mit schwarz-weißen Streifen, oder auch nicht gleichzeitig bei einem Objekt ausgeprägt sein, wie etwa eine einfarbige Wand.

Trennbarkeit und Untrennbarkeit

Objekte mit gegensätzlichen Ausprägungen des Merkmals bzw. die gegensätzlichen Ausprägungen in einem Objekt können für sich existieren oder nicht für sich existieren d. h. untrennbar miteinander verbunden sein. Für sich existieren können zum Beispiel warmes und kaltes Wasser, weiße und schwarze Farbe, eine gerade Zahl und eine ungerade Zahl, eine weibliche und eine männliche Keimzelle, Menschen mit gegensätzlichen Meinungen oder Theorien mit gegensätzlichen Aspekten.

Beispiele für die Untrennbarkeit von Objekten mit gegensätzlichen Ausprägungen des Merkmals sind Ebbe und Flut, Tag und Nacht, Pluspol und Minuspol eine Batterie oder Kraft und Gegenkraft. Es gibt keine Ebbe und Flut, keinen Tag ohne die Nacht, keinen Pluspol ohne Minuspol und keine Kraft ohne Gegenkraft.

Die Aspekte Gleichzeitigkeit und Nichtgleichzeitigkeit sowie Trennbarkeit und Untrennbarkeit sind unabhängig voneinander. So können Ebbe und Flut oder Tag und Nacht nicht gleichzeitig existieren, sind aber untrennbar miteinander verbunden. Wasser kann nicht zugleich warm und kalt sein, aber es gibt warmes und kaltes Wasser für sich. Ein Objekt kann zugleich schwarz und weiß sein, aber schwarze und weiße Farbe können für sich existieren.

Abhängigkeit und Unabhängigkeit der Objekte bzw. Ausprägungen voneinander

Die gegensätzlichen Objekte bzw. Ausprägungen können einseitig bzw. wechselseitig voneinander abhängig oder voneinander unabhängig sein. Ebbe und Flut, Kraft und Gegenkraft sind voneinander abhängig. Je größer die Ebbe desto größer die Flut und je größer die Kraft desto größer die Gegenkraft. Die Ausprägungen „schwarz“ und „weiß“ des Merkmals „Farbe“ oder das Verhalten von Teilchen oder Welle als Ausprägung des Merkmals „Verhalten in Experimenten“ bei Licht sind voneinander unabhängig.

Ob die Seiten eines Gegensatzes voneinander abhängig oder unabhängig sind, kann von den konkreten Bedingungen abhängig sein, unter denen der Gegensatz wirkt. Wenn bei einem Meinungsstreit die gegensätzlichen Auffassungen der Kontrahenten in ihren Denkgebäuden jeweils fest eingebunden und gegen Einwirkungen von außen immun sind, so kann man von einer Unabhängigkeit der gegensätzlichen Meinungen sprechen. Wenn aber beide Kontrahenten in der Lage sind, sich auch in die Gedankengänge des anderen zu versetzen, so kann sich durchaus herausstellen, dass es einen Zusammenhang zwischen den beiden Auffassungen gibt, d. h. dass die eine die andere bedingt.

Dominanz einer Seite des Gegensatzes und Änderung der Dominanz

Wenn gegensätzliche Objekte oder Eigenschaften gleichzeitig bestehen, kann eine der Seiten des Gegensatzes gegenüber der anderen dominieren. Wenn es sich um einen Vorgang handelt, kann sich die Dominanz im Laufe des Vorgangs ändern.

Beim Vorgang des produktiven Schaffens eines Menschen wirkt der Gegensatz von eigener Kreativität und von Anregungen von außen. In bestimmten Phasen der produktiven Tätigkeit kann eine Seite dieses Gegensatzes die Dominanz haben, je nachdem ob der Mensch gerade besonders seine kreativen Fähigkeiten zur Produktion des Neuen einsetzt oder Vorhandenes analysiert, um daraus Konsequenzen für sein Projekt abzuleiten.

Der Psychologe Wilhelm Wundt beschreibt die Veränderung der Dominanz von Gefühlen und Trieben durch das Prinzip der Kontrastverstärkung: „…, dass Gefühle und Triebe, die zunächst von geringer Intensität sind, durch den Kontrast zu den während einer gewissen Zeit überwiegenden Gefühlen von entgegengesetzter Qualität allmählich stärker werden, um endlich die bisher vorherrschenden Motive zu überwältigen und nun selbst während einer kürzeren oder längeren Zeit die Herrschaft zu gewinnen“ (Wundt 1886, S. 410).

Übergänge zwischen den Seiten eines Gegensatzes

Bei Gegensätzen in zeitlichen Vorgängen kann es zu einem Übergang zwischen den Seiten des Gegensatzes kommen. Dies betrifft insbesondere Vorgänge, bei denen die Gegensätze nicht gleichzeitig existieren. Bei dem Gegensatz zwischen Ebbe und Flut kommt es zu einem periodischen Wechsel der Fließrichtung des Wassers, d. h. die Ebbe geht in Flut über und umgekehrt. In dem sehr kurzen Moment des Übergangs kommt es zu einem kurzzeitigen Ruhen der Strömung. Der Zeitpunkt des Wechsels von auflaufendem zu ablaufendem Wasser oder umgekehrt wird als Kentern bezeichnet.

Auch beim Gegensatz zwischen Tag und Nacht kommt es zu einem periodischen Übergang zwischen den Seiten des Gegensatzes, wenn unter „Tag“ die Zeit von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und unter „Nacht“ die Zeit von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang verstanden wird. Die Übergänge zwischen den Seiten des Gegensatzes sind Sonnenuntergang und Sonnenaufgang.

Als Übergänge zwischen den Seiten eines Gegensatzes kann auch der im vorherigen Abschnitt beschriebene Wechsel zwischen der Dominanz einer Seite verstanden werden. Diese Übergänge erfolgen in der Regel nicht zu einem Zeitpunkt oder in einer kurzen Zeitspanne, sondern sind teilweise länger dauernde Vorgänge. So wird etwa die Entwicklung des Könnens im Lösen von Gleichungen in der Schule durch den Gegensatz von formalen und nichtformalen Lösungsmethoden bewirkt. In Klassenstufen oder Unterrichtsphasen kann eine Seite des Gegensatzes dominieren. Den Übergang zwischen dem formalen, rezeptartigen Lösen von Gleichungen zu dem nichtformalen, eher kreativen Lösen von Gleichungen im Unterricht zu gestalten, ist eine anspruchsvolle Aufgabe für den Lehrenden, die ein gezieltes Vorgehen erfordert.

Gegensätze zwischen Mengen

Gegensätze können auch zwischen Mengen von Objekten existieren, im einfachsten Fall zwischen einem Objekt und eine Menge aus zwei Objekten. Dies kann etwa in einer dreiköpfigen Familie der Fall sein. Wenn man als Merkmal der Familienmitglieder das Interesse für klassische Musik wählt, so kann es gegensätzliche Ausprägungen dieses Merkmals bei dem Kind und den beiden Eltern geben, wenn sich das Kind gar nicht, die Eltern aber sehr für klassische Musik interessieren. Es sollte in diesem Fall nicht von Gegensatz gesprochen werden, sondern im Sinne eines harmonischen Miteinander eher von einem Spannungsverhältnis, unterschiedliche Interessen können ja durchaus spannend sein. Voraussetzung ist, wie in jedem Fall des Gegensatzes zwischen Mengen, dass es innerhalb der Objekte der Mengen eine gewisse Homogenität in der Ausprägung des betreffenden Merkmals gibt. In dem Fall sollten also beide Eltern ein etwa gleich großes Interesse für klassische Musik haben.

Weitere Beispiele für mögliche Gegensätze zwischen Mengen ist die Beziehung eines Schülers zu seinen übrigen Klassenkameraden in Bezug auf das Merkmal „Intelligenzgrad“, die Beziehung des Leiters eine Einrichtung zu seinen Mitarbeitern in Bezug auf das Merkmal „Weisungsbefugnis“ oder die Beziehung zwischen der Menge der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber in der Privatwirtschaft in Bezug auf das Merkmal „Eigentum an den Produktionsmitteln“.

Wirken von Gegensätzen

Ein Fragment des Heraklit lautet: „Des Bogens Name also ist Leben, sein Werk aber Tod“ (Gemelli Marciano 2011, S. 305). Auch diese (dunklen) Worte des Heraklit sind schwer zu entschlüsseln. Eine mögliche Interpretation könnte sein, dass er auf die doppelte Bedeutung des Wortes Bogen anspielt. Ein Bogen ist einmal ein Musikinstrument, und damit steht er für das Leben. Ein Bogen ist aber auch eine Waffe, mit der Pfeile abgeschossen werden, die Menschen töten können, und damit steht er für den Tod. Der Tod ist also eine mögliche Wirkung des Bogens. Aber auch das Bereiten von Frohsinn als Teil des Lebens ist eine Wirkung des Bogens, denn nur wenn er bespielt wird, kann er Frohsinn bereiten. Das Beispiel zeigt, dass sich Wirkungen von Gegensätzen nicht immer von selbst ergeben, sondern in vielen Fällen durch bewusstes Handeln von Menschen ausgelöst werden müssen

Das Wirken von Gegensätzen, die Dynamik eines Gegensatzes zeigt sich bei Veränderungen, also in Vorgängen. Es gibt verschiedene Wirkungsmöglichkeiten die im Folgenden betrachtet werden.

Wirkungen von Gegensätzen zwischen Objektmengen als gerichtete Beziehungen

Bei Wirkungen von Gegensätzen zwischen Objektmengen handelt es sich oft um gerichtete Beziehungen. Die Wirkung des Gegensatzes zwischen den unterschiedlichen Interessen an klassischer Musik in der Ontogenese des Kindes besteht zu einem Teil in der Beeinflussung des Kindes durch die Eltern, etwa durch Vorbildwirkung oder durch gezielte Organisation von Erlebnissen, sodass es im Ergebnis dieser Wirkung zu einem Ausgleich der Interessen kommen kann.

Ausgleich von Gegensätzen

Es gibt Gegensätze, die ausgeglichen werden können. Wenn man warmes und kaltes Wasser zusammengießt, kommt es zu einem Ausgleich der unterschiedlichen Temperaturen. Bei einem Meinungsstreit kann es zu einem Ausgleich der gegensätzlichen Meinungen kommen.

Es gibt auch Gegensätze, die einen Ausgleich von anderen Gegensätzen bewirken. So bewirken die gegensätzlichen Objekte Sympathikus und Parasympathikus die Herstellung des Gleichgewichts von Körperfunktionen.

Gegensätze als Faktoren von Entwicklungen

„Die Äquilibration, nach Jean Piaget, ist der Prozess, durch den Individuen ein Gleichgewicht zwischen ihren kognitiven Strukturen und ihrer Umwelt herstellen. Es ist ein dynamischer Prozess, bei dem sowohl Assimilation (das Einordnen neuer Informationen in bestehende Schemata) als auch Akkommodation (die Anpassung bestehender Schemata oder die Bildung neuer Schemata) eine Rolle spielen, um ein kognitives Gleichgewicht zu erreichen“ (Google, KI). Die empirisch gesicherte Theorie von Piaget, die er in Analogie zu Entwicklungen in der Biologie entwickelt hat, ist für Lernvorgänge von grundlegender Bedeutung, auch wenn sich seine verwendeten Begriffe nicht durchgesetzt haben. Eine Idee ist, dass Lernen heißt, mentale Zustände, die Piaget als Schemata bezeichnet, zu verändern. Diese Veränderung passiert nach seiner Theorie im Spannungsverhältnis zweier gegensätzlicher Vorgänge. Das gemeinsame Merkmal ist die Art der mentalen Verarbeitung neuer Informationen. Bei einem der Vorgänge (von Piaget als Assimilation bezeichnet) werden die neuen Informationen ohne Veränderung in bestehende Strukturen eingefügt. Der andere Vorgang (von Piaget als Akkommodation bezeichnet) bewirkt eine Veränderung im Sinne der Anpassung bestehender Strukturen an die neuen Informationen oder sogar die Bildung neuer Strukturen. Diese gegensätzlichen Vorgänge bewirken zusammen den Lernvorgang, also die Ausbildung mentaler Zustände. Der Antrieb und damit das wesentliche Element der Regelung dieses Zusammenspiels der Vorgänge ist das Streben nach einem Ausgleich zwischen der kognitiven Struktur und der Umwelt, das Piaget als Äquilibrationsprinzip zeichnet. Diese Streben nach Ausgleich bewirkt nur für einen Moment das Gleichgewicht zwischen kognitiver Struktur und Umwelt. Es wird immer wieder durch neue Informationen und Einwirkungen gestört.

Das gleiche Prinzip, was Piaget beim Lernvorgang entdeckte, wirkt auch bei zahlreichen Vorgängen im alltäglichen Leben. Es geht insbesondere um Vorgänge mit einem ständigen Wechsel von Entstehen und Befriedigen von Bedürfnissen als gegensätzliche Vorgänge. Ein Beispiel sind die gegensätzlichen Vorgänge der Aufnahme und der Verarbeitung von Nahrung im menschlichen Körper. Die Vorgänge bewirken Triebe, die das Handeln des Menschen steuern. Nach der Verarbeitung von Nahrung entsteht ein Hungergefühl, das den Menschen zur Aufnahme von Nahrung veranlasst. Der Übergang von Aufnahme und Verarbeitung ist der Zustand der Sättigung. Ein weiteres Beispiel ist das Entstehen und Befriedigen sexueller Bedürfnisse.

Gegensätze zwischen Ausprägung eines Merkmals können beim Verlauf von Vorgängen eintreten und diese beeinflussen. Der Vorgang einer revolutionären Veränderung in einer Gesellschaft kann unter anderem durch folgende Merkmale und ihre gegensätzlichen Ausprägungen charakterisiert werden: Bewusstheit mit dem Gegensatz bewusste und spontane Aktivitäten, Zielführung mit den Ausprägungen zielloses und zielorientiertes Agieren, Gewaltanwendung mit den Ausprägungen gewaltfreie und gewalttätige Aktionen und Anzahl der gleichzeitigen Akteure mit den Ausprägungen Einzel- und Massenaktionen. Nur als Spannungsverhältnis dieser Gegensätze kann eine revolutionäre Veränderung wissenschaftlich analysiert und beschrieben werden.

Auch Gegensätze zwischen Objekten oder Mengen von Objekten können den Verlauf von Vorgängen beeinflussen. In dem betrachteten Fall einer revolutionären Veränderung geht es um die Mengen von Personen, bei denen das jeweilige Merkmal gegensätzlich ausgeprägt ist. Beim Merkmal Bewusstheit gibt es eine Gruppe von Personen, die Aktionen bewusst planen und durchführen und im Gegensatz dazu Personengruppen, die an spontanen Aktivitäten teilnehmen. Neben den Personengruppen mit einer extremen Ausprägung des Merkmals gibt es auch Gruppen mit zwischen den Extremen liegenden Ausprägungen. Die Dynamik des Geschehens wird aber vor allem durch die Personengruppen mit den extremen Ausprägungen des Merkmals bestimmt.

Zum Begriff der Einheit von Gegensätzen

Ein sprachliches Problem ist die Bezeichnung eines Gegensatzpaares. Mit der Bezeichnung soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die beiden Bestandteile des Gegensatzpaares in bestimmter Weise miteinander verbunden sind. Es ist weitgehend üblich, von der Einheit von Gegensätzen zu sprechen.  

Hegel hat auf die Probleme des Wortes „Einheit“ hingewiesen: „Es ist hierbei noch das sozusagen unglückliche Wort „Einheit“ besonders zu erwähnen; die Einheit bezeichnet noch mehr als die Identität eine subjektive Reflexion; sie wird vornehmlich als die Beziehung genommen, welche aus der Vergleichung, der äußerlichen Reflexion entspringt. Insofern diese in zwei verschiedenen Gegenständen dasselbe findet, ist eine Einheit so vorhanden, daß dabei die vollkommene Gleichgültigkeit der Gegenstände selbst, die verglichen werden, gegen diese Einheit vorausgesetzt wird, so daß dies Vergleichen und die Einheit die Gegenstände selbst nichts angeht und ein ihnen äußerliches Tun und Bestimmen ist. Die Einheit drückt daher die ganz abstrakte Dieselbigkeit aus und lautet um so härter und auffallender, je mehr die, von denen sie ausgesprochen wird, sich schlechthin unterschieden zeigen. Für Einheit würde daher insofern besser nur Ungetrenntheit und Untrennbarkeit gesagt; aber damit ist das Affirmative der Beziehung des Ganzen nicht ausgedrückt“ (WL I, S. 94).

In der Alltagssprache bedeutet das Wort „Einheit“ neben der Einheit im physikalischen und militärischen Sinne „die ein Ganzes bildende Verbundenheit, Unteilbarkeit, Ganzheit“ (DWDS, DUW). Dies schließt zwar nicht aus, dass die Bestandteile einer Einheit auch Gegensätze sein können, aber bei solchen Wortverbindungen wie territoriale, wirtschaftliche oder staatliche Einheit ist die Bedeutung des gegensätzlichen eher nicht enthalten.

Die Einwände von Hegel gegen diesen Begriff, der aus seiner Sicht auch den Gedanken einer abstrakten, bewegungslosen Sichselbstgleichheit enthält, kann zugestimmt werden. Nach Horstmann (2008 [1. Aufl. 2003]) provoziert der „Begriff der ‚Einheit entgegengesetzter Bestimmungen‘ die Vorstellung eines irgendwie diskreten Dritten“ (Horstmann 2008 [1. Aufl. 2003], S. 195). Als treffendes Beispiel führt Horstmann ein Wechselbild an, das zwei unterschiedliche visuelle Interpretationen enthält, deren Wahrnehmung bei längerer Betrachtung automatisch wechselt. Es handelt sich um einen Gegensatz in einem Objekt, dem Wechselbild. In dem Bild sind die beiden gegensätzlichen Interpretationen untrennbar verbunden, sie sind im Bild „aufgehoben“ wie es Hegel formuliert. Es gibt nichts reales Drittes, das die Formulierung „Einheit der Interpretationen“ nahelegt. „Einheit der Interpretationen“ ist lediglich eine Beschreibung der realen Untrennbarkeit.

Um Missverständnissen vorzubeugen, wird deshalb im Folgenden der Terminus „Einheit von Gegensätzen“ nicht verwendet und dafür von der „Untrennbarkeit von Gegensätzen“ gesprochen. Zum Einwand von Hegel, dass damit das Affirmative, also die positive Wertung, nicht zum Ausdruck gebracht wird, kann gesagt werden, dass der Begriff der Untrennbarkeit durchaus auch positiv zu wertenden Aspekte enthält, etwa wie im Beispiel der Untrennbarkeit zweier sich liebender Menschen oder der Untrennbarkeit der Bestandteile einer Legierung.

Denken in Gegensätzen

Das Denken in Gegensätzen besteht aus mehreren Komponenten. Zunächst geht es darum, den Gegensatz zwischen Objekten bzw. Ausprägung eines Merkmals innerhalb eines Objektes zu bestimmen.  Dann muss der erkannte Gegensatz als etwas unabhängig vom eigenen Willen Existierendes akzeptiert werden. Dies schließt auch die Akzeptanz von Personen oder Personengruppen mit gegensätzlichen Ausprägungen eines Merkmals ein. Eine weitere Komponente betrifft das eigene Umgehen mit dem erkannten Gegensatz. Wenn man das Wirken des Gegensatzes von außen aus wissenschaftlicher Sicht betrachtet und analysiert, müssen beide Seiten des Gegensatzes und ihr Wirken untersucht werden. Wenn man selbst in das Wirken des Gegensatzes etwa in einem Vorgang involviert ist oder involviert sein möchte, sollte man sich, wenn möglich, den Vertretern extremer Ausprägungen anschließen, um die Dynamik des Gegensatzes optimal zu unterstützen.

Zu den Komponenten des Denkens in Gegensätzen gehören auch volitive und emotionale Vorgänge. Die Anerkennung der Unabänderlichkeit gegensätzliche Auffassungen erfordert einen starken Willen und eine emotionale Gelassenheit, auch bei einer wissenschaftlichen Untersuchung des Gegensatzes. Besondere Anforderungen an die Beherrschung des eigenen Willens und der eigenen Gefühle ergeben sich, wenn man selber Bestandteil eines Gegensatzes zwischen Personengruppen ist und andere Gruppen mit von der eigenen Meinung extrem abweichenden Auffassungen akzeptieren muss.

Neben den genannten Beispielen ist das Denken in Gegensätzen von besonderer Bedeutung bei allen Betrachtungen zum Existierenden und Nichtexistierenden, zur Veränderung und Nichtveränderung von Merkmalsausprägungen beim Menschen sowie formalen und nichtformalen Aspekten von Begriffen.

Zentrale Formulierungen bei Hegel sind „spekulatives Denken“ und „spekulative Methode“. Dies entspricht im Wesentlichen dem Denken in Gegensätzen.

Literaturverzeichnis

Gemelli Marciano, Laura (Hg.) (2011): Die Vorsokratiker 1. Band 1. Griechisch – Deutsch. 1st ed. Berlin, Boston: De Gruyter (A) (Sammlung Tusculum).

Guardini, Romano (1998): Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten. 4. Aufl. Paderborn, Mainz: Verlag F.Schöningh; Matthias-Grünewald Verlag (Werke. Sachbereich Anthropologie und Kulturkritik / Romano Guardini).

Horstmann, Rolf-Peter (2008 [1. Aufl. 2003]): Hegel über Unendlichkeit, Substanz, Subjekt. Eine Fallstudie zur Rolle der Logik in Hegels System. In: Dina Emundts und Sally Sedgwick (Hg.): Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Berlin: DE GRUYTER (Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus, 1), S. 183–200.

Wundt, Wilhelm (1886): Grundriss der Psychologie. Leipzig: Engelmann.