Hans-Dieter Sill, 01.04.2021

Die Entstehung der Grundidee von Hegel nach Henrich (1988)

PDF-Datei

Henrich untersucht den Einfluss den die Ideen von Hölderlin auf Hegel hatten. „Die Freundschaft Hegels mit Hölderlin endete im Schweigen. Im ganzen Werk Hegels ist Hölderlins Name nicht einmal genannt.“ (Henrich 1988, S. 9) „Hegel verdankt seinem Freund mehr, als dieser ihm jemals danken konnte. Er verdankte ihm zunächst den wesentlichsten Anstoß beim Übergang zu seinem eigenen, von Kant und Fichte schon im ersten Schritt abgelösten Denken. Seit der Frankfurter Begegnung blieb Hegel auf einem kontinuierlichen Weg der Entfaltung, auf den er ohne Hölderlins vorausgehendes Nachdenken nicht gefunden hätte. Daraus ist nicht zu folgern, dass Hegel eine Einsicht, die Hölderlin zukommt, lediglich zum System artikuliert habe. Im geraden Gegenteil dazu soll zweitens gezeigt werden, dass Hegel bald erkannte, er müsse Hölderlins Einsicht ganz explizieren, als dieser selbst es vermochte, sodass erst der Anstoß durch Hölderlin mit dem Abstoß von ihm zusammengenommen Hegels frühen Weg zum System bestimmt haben.“ (Henrich 1988, S. 11)

Hölderlin orientierte sich bei seinen Überlegungen an der Vereinigungsphilosophie. Thema ist, wie der Mensch seine höchste Befriedigung erlangen kann. Ein Gedanke ist, dass der Geist der eigentliche Ort von Schönheit sei, auf die höchstes Verlangen geht. Dann wurde von Franz Hemsterhuis behauptet, dass die höchste Befriedigung in der vollständigen Hingabe erfolgt, nicht an ein höheres Wesen, sondern nur im Endlichen.

Mit dem Verhältnis von Liebe und Selbstheit hat sich Herder in einem einflussreichen Aufsatz auseinandergesetzt. Herder sagt im Anschluss an Aristoteles: „Freundschaft und Liebe sind nie möglich als zwischen gegenseitigen freien, konsonen, aber nicht unisonen, geschweige identifizierten Wesen.“ Mit dem Problem des Verhältnisses von Liebe und Selbstheit hat sich auch der junge Schiller beschäftigt. Man kann Liebe nicht als Bereitschaft zur Hingabe deuten, sondern als einen Akt, der auf die Ausdehnung des Selbst geht. Henrich sagt im Sinne der spekulativen Logik von Hegel: „Die Beziehung auf sich muss so gedacht werden, dass sie zugleich den Gedanken einer Beziehung auf anderes einschließt, – und umgekehrt.“ (Henrich 1988, S. 16) Selbstsein und Liebe, so sehr es auch das jeweils andere ausschließt, gehören zu einander und machen zusammen erst ein ganzes Leben aus.

Hölderlin erweitert den Gedanken der Liebe zu einem Metaprinzip der Vereinigung von Gegensätzen im Menschen. „Das sehnsüchtige Verlangen nach dem Unendlichen, die grenzenlose Bereitschaft zur Hingabe, vorzüglich aber der Trieb, die Einheit zwischen diesen Gegensätzlichen zu gewinnen und zu offenbaren, dies alles wird nun von einem Wort Liebe benannt.“ (Henrich 1988, S. 17) Es ist das Motto seines Romans Hyperion geworden, zu zeigen, dass die Aufgabe eines Menschenlebens darin besteht, sich in der Vereinigung einander entgegengesetzter Lebenstendenzen zu vollenden. Die Liebe verwandelt sich bei ihm zu einer Kraft, die nicht in einem Zustand, sondern nur in Bewegung durch Gegensätze zu denken ist. Um diesen Gedanken in seiner Philosophie zu verwirklichen erkannte er, dass er sich von Kant lösen musste. „Kant hatte das Eigentümliche seines Denkens in den grundsätzlichen Unterschied zweier Strebensweisen der Menschen gesetzt. Er fand keinen Sinn darin, ihre Vereinigung zu erwägen.“ Dies wäre auch im Rahmen der Theorie von Kant nicht möglich gewesen, da Kant alles Erkennen auf Formen der Subjektivität einschränkt und ihren Ursprung dem Dunkel des Unbestimmbaren überlässt.

In der Begegnung mit der Wissenschaftslehre von Fichte fand Hölderlin eine Antwort auf seine eigene Frage nach dem Einheitsgrund der Gegensätze, mit der er dann auch Hegel gegenübertrat. Fichte hatte erkannt, dass der Grundakt des Bewusstseins nicht ein Beziehen und Unterscheiden sein kann, sondern, dass dem ein Entgegensetzen vorausgehen muss, dass die Möglichkeiten zum Unterscheiden erbringt. Den Einheitsgrund für die Entgegensetzung fand Fichte in der Unbedingtheit des Selbstbewusstseins.

Hölderlin hat die Gedanken von Fichte auf das Problem der Liebe übertragen und kam zu der Erkenntnis, dass Bewusstsein und Ichheit eine Einigkeit sind, die er mit Spinoza als Sein in allem Dasein dachte. Hölderlin führte Hegel vor Augen, dass seine kantische Begriffswelt ungeeignet war, Erfahrungen und Überzeugungen früherer Jahre festzuhalten, dass Freiheit nicht nur als Selbstheit, sondern dass sie ebenso als Hingabe gedacht werden müsse und dass in der Erfahrung des Schönen mehr aufgehe als die Achtung fürs Vernunftgesetz. (Henrich 1988, S. 24)

In diesen Streitgesprächen mit Hölderlin kam es zu einer abrupten Wandlung von Hegels Position. Hegel trat in den Begriffsraum der Vereinigungsphilosophie ein und machte die Liebe als Vereinigung zum höchsten Gedanken von einem freien Leben. „Aus Hegels Aufnahme von Liebe als Grundwort seines Nachdenkens ging ohne Bruch das System hervor. Das Thema ‚Liebe‘ ist nur aus Gründen, die sich angeben lassen, durch die reichere Struktur des ‚Lebens‘ und später durch die des ‚Geistes‘ ersetzt worden, die noch mehr als Leben impliziert.“ (Henrich 1988, S. 27)

Man kann aber nicht sagen, dass Hegel die Ideen von Hölderlin nur weitergeführt und verallgemeinert hat. In dem Liebesbegriff von Hegel ist die Doppelung von Hölderlin nicht zu finden. Liebe ist geradezu als Vereinigung von Subjekt und Objekt gedacht. Hegel hat wie aber auch der späte Hölderlin die Entfaltung der Gegensätze über die Idee der Wiederholung der Einheit des Ursprungs gestellt. Hegel hat früh und für alle Zeit festgehalten: die Wahrheit ist der Weg. (Henrich 1988, S. 32)

„Und dies ist nun Hegels eigentümlicher Gedanke: dass die Relata in der Entgegensetzung zwar aus einem Ganzen verstanden werden müssen, dass dieses Ganze Ihnen aber nicht vorausgeht als Sein oder als intellektuelle Anschauung, – sondern, dass es nur der entwickelte Begriff der Relationen selber ist.“ (Henrich 1988, S. 36) Hegel hat dies am Beispiel des Begriffs Leben analysiert, den man nur verstehen kann, „wenn der Gegensatz der lebenden Wesen untereinander und die organische Einheit in jedem von Ihnen aus dem Allgemeinen einer Organisation begriffen wird, die dennoch keine Existenz vor oder außerhalb des Prozesses der lebendigen Wesen hat. … Dieselbe Struktur findet sich wieder in den Gedanken von wahrer Unendlichkeit: Sie ist einzig die Weise der Beziehung von Endlichem zu seinem Negat der leeren Unendlichkeit, – also gerade nicht wie Hölderlin wollte, gemeinsamer Ursprung und Zielpunkt zweier Tendenzen.“ (Henrich 1988, S. 36) Genauso verhält es sich mit dem Gegensatz vom Positiven und Negativen, „von denen jedes, trotz ihrer Entgegensetzung, den Begriff der ganzen Relationen und damit auch sein Gegenteil einschließt.“ (Henrich 1988, S. 37) „Jede Kategorie in Hegels Logik ist ein anderes Beispiel für diesen Sachverhalt, da eben das ganze Werk aus der Einsicht in diese eine Struktur geschrieben wurde.“ (Henrich 1988, S. 37) „Der Gegensatz führt bei Hegel nicht zum Wechsel, sondern zu dem was Hegel Entwicklung nennt: zur Ausführung des Bestimmten aus dem Unbestimmten, – zu seiner Produktion.“ (Henrich 1988, S. 37) Hegel versteht das Wesen des bewussten Selbst so, dass es ein tätiges Zusichkommen ist, dass nichts voraussetzt als dieses zu sich und für sich. (Henrich 1988, S. 38) Das Ganze existiert einzig als Prozess. (Henrich 1988, S. 39)

„Hölderlin gab Hegel als Philosophen den wichtigsten, den letzten prägenden Anstoß. … Dem Mythos von Hegel als dem autochthonen Weltphilosophen ist also zu widersprechen.“ (Henrich 1988, S. 39)

Gedanken:

  • Wie alle großen Entdeckungen ist auch Hegels qualitativ neuer Zugang zur Philosophie in kritischer Auseinandersetzung mit den bis dahin existierenden Theorien, insbesondere von Kant, Fichte und Hölderlin und ihrer dialektischen Negation entstanden.
  • Interessant ist, dass das Thema Liebe zum Wende- und Ausgangspunkt im Denken von Hegel wurde. Damit könnte dieses interessante und viele bewegende Thema ein prototypisches Beispiel für Hegels Dialektik sein.
  • Hegels neuer Grundgedanke, der nach Henrich sein ganzes Werk durchzieht, steht in der Einsicht, dass ein Wechselverhältnis (als bestimmte Negation) von Gegensätzen als ein Prozess und eine eigenständige Kategorie aufzufassen ist, die ein übergreifendes Allgemeines (Wagenknecht) darstellt.
  • Man kann also Hegels Werk als eine konsequente Verfolgung dieses Grundgedankens in allen Bereichen der Philosophie, Ästhetik und Religion ansehen. Seine Leistung (Genialität) besteht dann also in dem Erkennen dieses Grundgedankens und seiner konsequenten (fast sturen) Verfolgung durch alle philosophischen und einzelwissenschaftlichen Themen.

Literaturverzeichnis

Henrich, Dieter (1988): Hegel im Kontext. 4., veränd. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 510).