Hans-Dieter Sill, 02.02.2025

Analysen zu den Begriffen Werden, Entstehen und Vergehen

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Inhalt

Vorbemerkungen

Alltagssprache

Literaturanalyse

Werden

Entstehen

Vergehen

Auswertungen

Vorbemerkungen

Werden

Entstehen

Vergehen

Zusammenfassung und mögliche Interpretationen für „entstehen“ und „vergehen“

Philosophie

Philosophische Lexika

HWPh

EPh

MLPh

Weitere Quellen

Metaphysik von Aristoteles

Physikvorlesung

Über Werden und Vergehen

WL I

Auswertungen

Häufigkeiten

Auswertung der Lexika

Auswertung von Schriften des Aristoteles

Auswertung von Schriften Hegels

Schlussfolgerungen

Literaturverzeichnis

Vorbemerkungen

Es werden die Bedeutungen und die Häufigkeit folgender Wörter und ihrer Wortformen in der Alltagssprache und der Philosophie untersucht: werden, entstehen und vergehen. Da die Worte für die Neue Philosophie von besonderer Bedeutung sind, erfolgt in diesem Text eine gründliche semantische Analyse, die etymologische Aspekte und Bedeutung verwandter Ausdrücke einbezieht.  

Zu Ermittlung der Bedeutungen der Wörter im Alltag wird das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften) verwendet (DWDS, Datum der Abrufung: 26.10.2024). Um einen Eindruck von der Häufigkeit der Verwendung der Lexeme im Alltag zu bekommen wird für die Jahre 2016-2020 die Häufigkeit pro 1 Million Token (normierte Häufigkeit) im DWDS- Zeitungskorpus angegeben. Weiterhin werden Kollokationen mit anderen Lexemen aufgeführt. Dabei wird als Assoziationsmaß logDice verwendet. Es werden die Kollokationen mit den fünf höchsten logDice-Werten und ihre Häufigkeiten (in Klammern) genannt. Als weitere Quelle wird das Deutsche Universalwörterbuch (Kunkel 2023) (DUW) herangezogen. 

Um die Bedeutungen der Wörter in der Philosophie genauer zu analysieren, werden die folgenden Wörterbücher und Enzyklopädien verwendet. Sie liegen auch in elektronischer Form vor, wodurch eine Suche nach den Wörtern im gesamten Text möglich ist.

  • Ritter u. a. (2007): Historisches Wörterbuch der Philosophie (HWPh)
  • Sandkühler (2010): Enzyklopädie Philosophie (EPh)
  • Prechtl und Burkard (2008): Metzler Lexikon Philosophie (MLPh)

Mit den jeweiligen Suchfunktionen wird im Volltext nach den betreffenden Wörtern gesucht und es wird die Anzahl der jeweiligen Ergebnisse absolut und (in Klammern) pro 100 Seiten angegeben.

Neben den philosophischen Lexika werden noch folgende Originalquellen und Kommentare verwendet.

  • Aristoteles (1995): Metaphysik (Met.)
  • Aristoteles (2021): Physikvorlesung (Phys.)
  • Buchheim (2010, 2011): Aristoteles: Über Werden und Vergehen ( Corr.)
  • Hegel (1970): Wissenschaft der Logik I (WL I)

Alltagssprache

Literaturanalyse

Werden

DWDS

werden

Normierte Häufigkeit: 8513,2

Kollokationen:  wach (4.8, 34), inne (4.6, 8), untreu (4.1, 7), übermütig (3.9, 7), gerecht (3.8, 93)

Bedeutungen:

  1. bezeichnet das Übergehen, Hineingeraten in einen bestimmten (Zu-)‍Stand, eine neue Lage, bezeichnet eine Zustandsveränderung
  2. … Bsp.: alt, müde, blass, krank, ohnmächtig, blind werden; er wird wieder gesund (werden); der Junge wird wie sein Vater; sein Haar ist weiß geworden; besser, schwindelig
  3. ⟨ wird (es) schlecht⟩ Bsp.: mir wird übel, besser, schwindelig
  4. … Bsp.: es wird kalt; plötzlich wurde es still
  5. ⟨ wird jmd., etw.⟩ Bsp.: er will Lehrer werden; wir wurden Freunde; sie ist Mutter geworden; sie wurde meine Frau
    ⟨etw. wird etw.⟩ Bsp.: das wird ein Pullover für dich; das Buch wurde ein großer Erfolg
    ⟨aus jmdm. wird jmd., etw.⟩ Bsp.: aus dem Jungen wird einmal etw. werden
    ⟨aus etw. wird etw.⟩ Bsp.: aus Freundschaft wurde Liebe
    ⟨jmd. wird zu jmdm., etw.⟩ Bsp.: er ist zum Dieb geworden
    ⟨etw. wird zu etw.⟩ Bsp.: eine Vermutung wird zur Gewissheit
  6. gehoben Bsp.: ihm ist eine hohe Ehre zuteil geworden
  7. entstehen, sich entwickeln
  • oft im Partizip I, Bsp.: eine werdende Mutter; daß das Vergangene wie das Werdende in gleicher Weise zu ihr gehört; das kann das werdende Leben schwer schädigen
  • oft als substantivierter Infinitiv, Bsp.: ist im Werden (begriffen); das Werden neuer sozialer Prozesse und Systeme; da ist alles irdische Wachsen und Werden nur wieder eine Episode im All

        [umgangssprachlich] ⟨etw., jmd. wird⟩ etw., jmd. kommt gut voran Bsp.: das Haus wird allmählich

        ⟨etw. wird nichts⟩ Bsp.: die Zeichnung ist nichts geworden

  1. [umgangssprachlich] weist auf Zukünftiges: geschehen Bsp.: was wird, wenn er nicht kommt?
  2. [gehoben, veraltend] ⟨jmdm. wird etw.⟩ Bsp.: den reichen Gewinn, der ihnen geworden
  3. ⟨werden + Infinitiv⟩
  4. a) dient zur Bildung des Futur I
  5. b) ⟨werden + Partizip I + haben⟩, ⟨werden + Partizip I + ³sein⟩
  6. ⟨werden + Partizip II⟩, ⟨Partizip II + worden (statt geworden)⟩
  7. ⟨würde + Infinitiv⟩

Etymologie

‘entstehen, geschehen’, … werden, seiner Herkunft nach ein Verb der Bewegung, steht im Germ. seit Anfang seiner Überlieferung im Sinne von ‘entstehen, geschehen’ (die Grundbedeutung wirkt jedoch fort in verwandtem – wärts ‘gewendet, gerichtet auf’

Bedeutungsverwandte Ausdrücke

  • (sich) entwickeln (zu) · (sich) gestalten (zu) · aus (A) wird (B) · geraten (zu) · werden (zu)
  • als wahrscheinlich gelten(d) · angenommen werden (es) · anzunehmen sein · davon ausgehen (können) dass · dürfte (+ Infinitiv) · mutmaßlich · vermutlich · wahrscheinlich · werden · wohl

Werden

Keine Ergebnisse

DUW

1werden 〈unr.V.; ist; 2. Part.: geworden〉: 1. a) in einen bestimmten Zustand kommen, eine bestimmte Eigenschaft bekommen: arm, reich, krank, müde, frech, zornig, böse werden; b) 〈unpers.〉 als ein bestimmtes Gefühl bei jmdm. auftreten: jmdm. wird [es] übel, schwindelig, kalt, heiß. 2. a) 〈in Verbindung mit einem Gleichsetzungsnominativ〉 eine Entwicklung durchmachen: er will Arzt werden; was willst du werden?; 〈1.Part.:〉 eine werdende Mutter (eine Frau, die ein Kind erwartet); b) sich zu etw. entwickeln: das Kind ist zum Mann geworden; c) sich aus etw. entwickeln: aus Liebe wurde Hass; aus diesem Plan wird nichts; d) 〈unpers.〉 sich einem bestimmten Zeitpunkt nähern: in wenigen Minuten wird es 10 Uhr 3. a) entstehen: es werde Licht!; große Dinge sind im Werden; R was nicht ist, kann noch werden; b) (ugs.) sich so im Ergebnis zeigen, darstellen, wie es auch beabsichtigt war: das Haus wird allmählich; sind die Fotos geworden? 4. (geh.) jmdm. zuteilwerden: jedem Bürger soll sein Recht werden

2werden 〈unr.V.; Hilfsverb; 2. Part.: worden〉 [identisch mit ↑ 1werden]: 1. 〈werden + Inf.〉 a) zur Bildung des Futurs; drückt Zukünftiges aus: es wird [bald] regnen; b) kennzeichnet ein vermutetes Geschehen: sie werden bei dem schönen Wetter im Garten sein 2. 〈werden + 2. Part. zur Bildung des Passivs〉 du wirst gerufen; 〈unpers., oft statt einer aktivischen Ausdrucksweise mit »man«:〉. 3. 〈Konjunktiv »würde« + Inf.〉 a) zur Umschreibung des Konjunktivs, bes. bei Verben, die keine unterscheidbaren Formen des Konjunktivs bilden können; drückt vor allem konditionale od. irreale Verhältnisse aus: sonst würden wir dort nicht wohnen; b) zur Umschreibung des Futurischen: er sagte, dass er morgen zum Arzt gehen würde.

Werden

Kein Eintrag

Entstehen

DWDS

entstehen

Normierte Häufigkeit: 215,5

Kollokationen:  in Koordination mit: entstehen (3.4, 693), vergehen (3.3, 358), entwickeln (3.0, 474), wachsen (2.9, 397), verschwinden (2.7, 294)

Bedeutungen:

beginnen zu bestehen, zu sein, Bsp.: vor Jahrmillionen entstand das Leben auf der Erde; es entstand eine hochentwickelte Industrie; es entstand eine neue Richtung der Musik, Dichtung

hervorgerufen werden, sich ergeben, Bsp.: bei diesem chemischen Versuch entstehen giftige Gase; damit kein falscher Eindruck entsteht; es entstand eine lange Pause

Etymologie

‘sich entwickeln, hervorgehen’, ahd. intstantan, -stān, -stēn ‘verstehen’ (8. Jh.), mhd. entstān, -stēn ‘verstehen, wahrnehmen, merken’, vom Mhd. an auch (gemäß den unterschiedlichen Verwendungen von ent-, s. d.) ‘sich von etw. wegstellen, entgehen, mangeln’ (so bis ins 19. Jh.) und ‘zu sein beginnen, werden’

Bedeutungsverwandte Ausdrücke

  • (allmählich) entstehen · sich entfalten · sich entspinnen (Diskussion) · sich entwickeln · sich herausbilden
  • (sich) bilden · (sich) ergeben · aufkommen · entstehen · erwachsen (aus)
  • (sich) bilden · entstehen · in Erscheinung treten · kommen zu (es) · nicht ausbleiben
  • (auf)keimen · (langsam) entstehen · (sich) regen
  • aufkommen · auftreten · ausbrechen · einsetzen · eintreten · entstehen · es kommt zu · sich einstellen · sich ereignen · sich ergeben   schlagend werden österr.
  • (sich) entwickeln · aufkommen (Wind, Regen; Verdacht, Gerücht, Zweifel; Stimmung) · auftreten · entstehen · es kommt zu
  • (an der Oberfläche) entstehen · ansetzen (Rost, Schimmel, Moos) · sich (oberflächlich) bilden

Entstehen

Keine Ergebnisse

DUW

entstehen 〈unr.V.; ist〉 [mhd. entsten= sich erheben, werden] a) zu bestehen, zu sein beginnen; geschaffen, hervorgerufen werden: es entstand ein ganz neuer Stadtteil; es entstand

große Aufregung; 〈subst.:〉 das Projekt ist erst im Entstehen begriffen; b) sich für jmdn. ergeben: Ihnen entstehen dadurch keine Kosten.

Entstehen

Kein Eintrag

Vergehen

DWDS

vergehen

Normierte Häufigkeit: 17,8

Kollokationen:  Hören (9.1, 251), Lachen (9.0, 1181), Appetit (8.5, 498), Vierteljahrhundert (8.2, 76)

Bedeutungen:

  1. dahinschwinden
    • ⟨die Zeit vergeht (jmdm.)⟩ die Zeit geht (an jmdm.) vorüber, vorbei, Bsp.: die Zeit verging (mir) im Fluge; der Winter ist vergangen; in den vergangenen Jahren
    • ⟨ vergeht (jmdm.)⟩ etw. schwindet (jmdm.), etw. lässt nach, Bsp.: ihm verging das Bewusstsein; wenn ich das höre, vergeht mir die Lust; er trank, bis ihm die Sinne vergingen
  2. [gehoben] sterben, dahinscheiden
  • Absterben, Bsp.: viele Pflanzen vergehen im Herbst; das Werden und Vergehen in der Natur
  • ⟨vor etw. vergehen⟩ vor etw. umkommen, Bsp.: ich hätte vor Scham vergehen können; er vergeht vor Sehnsucht nach ihr;
  1. ⟨sich vergehen⟩
    • ⟨sich gegen etw. vergehen⟩ gegen etw. verstoßen, straffällig werden, Bsp.: sich gegen die Vorschriften, guten Sitten vergehen
    • ⟨sich an jmdm. vergehen⟩ ein Verbrechen, besonders ein Sittlichkeitsverbrechen, an jmdm. verüben, Bsp.: er soll sich an einem Mädchen vergangen haben

Etymologie

‘aufhören zu existieren, vorbeigehen, verstreichen’, reflexiv ‘gegen eine Norm verstoßen, ein Verbrechen an jmdm. ausführen’, ahd. firgangan, -gān, -gēn ‘vorwärtsgehen, verstreichen’ (9. Jh.), mhd. vergān, -gēn, auch ‘übergehen, meiden, auseinandergehen, sich verirren’;

Bedeutungsverwandte Ausdrücke

  • verfließen · vergehen (Zeit) · verstreichen   ins Land ziehen dichterisch · ins Land gehen (Zeit) geh., literarisch · verrinnen geh.
  • nicht für die Ewigkeit (sein) · vergehen · vorbeigehen · vorübergehen · zu Ende gehen · zum Ende kommen   (sich) legen ugs.
  • dahingehen · schwinden · vergehen · zergehen   schmelzen fig. · schmelzen wie Schnee an der Sonne fig. · zerschmelzen fig. · dahinschmelzen geh., fig. · dahinschwinden geh. · weniger werden ugs.
  • (etwas) sehnlichst vermissen · (inständig) verlangen (nach) · (sich) sehnen (nach) · (sich) verzehren nach · fiebern nach · gieren (nach) · lechzen (nach) · schmachten (nach) · vergehen (nach) · verschmachten (nach)   desiderieren geh., lat. · dürsten (nach) geh., poetisch
  • (inständig) verlangen (nach) · (jemandem) steht der Sinn (nach) · (sehr) verlangen nach · (sich) sehnen (nach) · …närrisch · Lust haben (auf) · aus sein (auf) · begehren · begehrlich (nach) · begierig (auf / nach) · brennen (auf) · fiebern nach · gieren (nach) · herbeisehnen · herbeiwünschen ·

Vergehen

Normierte Häufigkeit: 4,5

Bedeutungen:

Verstoß gegen das Gesetz, strafbare Handlung, Bsp.: ein strafbares, fahrlässiges, kriminelles, sittliches, vorsätzliches Vergehen

DUW

vergehen 〈unr.V.〉 1. 〈ist〉 a) (von einer Zeitspanne o. A.) vorbeigehen, verstreichen: die Tage vergingen [mir] wie im Fluge; die Jahre sind schnell vergangen; darüber,über dieser Arbeit vergingen Wochen; es vergingen zwanzig Minuten, bis sie endlich kam; es vergeht kein Tag, an dem er nicht

anruft; wie doch die Zeit vergeht!; es war noch keine Stunde vergangen, als … b) (von einer Empfindung o. A.) in jmdm. [nachlassen u. schließlich] aufhören, [ver]schwinden: der Schmerz, die Müdigkeit vergeht wieder; als sie  auf den Teller sah, verging ihr der Appetit; die Freude an dem Fest war ihnen vergangen; das Lachen wird ihm noch vergehen; sie schimpfte ihn aus, dass ihm Hören und Sehen verging; c) sich in nichts auflösen, sich verflüchtigen: die Wolke, der Nebel, der Geruch verging. 2. 〈ist〉 a) (geh.) als vergängliches Wesen sterben: der Mensch vergeht; 〈subst.:〉 das Werden und Vergehen in der Natur; b) (geh.) ein bestimmtes übermächtiges Gefühl sehr stark empfinden (sodass man glaubt, die Besinnung verlieren, sterben zu müssen): vor Liebe, Sehnsucht, Durst, Angst [fast] vergehen.; sie vergingen fast vor Neugier, vor Spannung; sie glaubte, vor Heimweh vergehen zu müssen; c) (seltener) zergehen. 3. 〈v. + sich; hat〉 a) gegen ein Gesetz, eine Norm o. A. verstoßen: sich gegen das Gesetz vergehen; b) an etw. eine unerlaubte, strafbare Handlung vornehmen; einer Sache Schaden zufügen: sich an der Umwelt vergehen (geh.; es stehlen); c) an jmdm. ein Sexualverbrechen begehen; jmdm. Gewalt antun: sich an einer Frau vergehen

Vergehen, das; -s, -: gegen ein Gesetz, eine Norm o. A. verstosende Handlung: ein leichtes,

schweres Vergehen

Auswertungen

Vorbemerkungen

Für Übergänge vom Nichtexistierenden zum Existierenden und umgekehrt sowie für Veränderungen bzw. Entwicklungen vom Existierenden werden in der Literatur beginnend bei Aristoteles u. a. die Verben werden, entstehen und vergehen verwendet. Es sind zwei Verben gesucht, die als Bezeichnungen für diese Übergänge im Axiomensystem zum Existierenden dienen können. Diese Wörter haben dann im Axiomensystem keine inhaltliche Bedeutung und müssen bei Anwendung des Systems interpretiert werden. Damit die Verständlichkeit in der Alltagssprache gewahrt bleibt, sollen für diese Wörter keine Neologismen verwendet werden, sondern Wörter der Alltagssprache, deren inhaltliche Bedeutung dem Anliegen entspricht.

Tab.: Normierte Häufigkeit der Wörter

Wort

DWDS

werden

8513,2

Werden

0,08

entstehen

215,5

Entstehen

3,3

vergehen

17,8

Vergehen

4,5

In der Alltagssprache werden die substantivierten Infinitive der Verben sehr selten verwendet. Die Verben „werden“ und „entstehen“ treten sehr häufig und das Verb „vergehen“ mit mittlerer Häufigkeit auf.

Obwohl die dann für das Axiomensystem ausgewählten Wörter keine inhaltliche Bedeutung haben, sollen alle Bedeutungen der Wörter sowie ihrer substantivierten Infinitive einschließlich Betrachtungen zur Etymologie sowie zu sinnverwandten Ausdrücken untersucht werden.

Werden

Im DWDS und DUW treten das Nomen „Werden“ nicht als Stichwort auf. Das Verb „werden“ hat zum einen verschiedene inhaltliche Bedeutungen und wird zum anderen als Hilfsverb verwendet, worauf hier nicht weiter eingegangen wird. Mit geringen Unterschieden werden übereinstimmend im DWDS und DUW folgende inhaltliche Bedeutungen für „werden“ angegeben.

  1. In einen bestimmten Zustand kommen, übergehen, hineingeraten, eine bestimmte Eigenschaft bekommen, Bsp.: alt, müde, arm, reich, krank werden
  2. als ein bestimmtes Gefühl bei jemanden auftreten, Bsp.: jemand wird schlecht, übel schwindelig, kalt, heiß, besser
  3. eine Entwicklung durchmachen, Bsp.: er will Lehrer werden; wir wurden Freunde; eine werdende Mutter
  4. sich zu etwas entwickeln, Bsp.: das Kind ist zum Manne geworden; eine Vermutung wird zur Gewissheit
  5. sich aus etwas entwickeln, Bsp.: aus Freundschaft wurde Liebe; aus diesem Plan wird nichts
  6. sich einen bestimmten Zeitpunkt nähern, Bsp.: in wenigen Minuten wird es 10:00 Uhr
  7. entstehen, Bsp.: Es werde Licht! Große Dinge sind im Werden.
  8. sich so im Ergebnis zeigen, wie es auch beabsichtigt war, Bsp.: das Haus wird allmählich;
  9. (geh.) Jemandem zuteilwerden, Bsp.: im ist eine hohe Ehre zuteil geworden

Zur Etymologie von „werden“ wird in DWDS u. a angeführt: „werden, seiner Herkunft nach ein Verb der Bewegung, steht im Germanischen seit Anfang seiner Überlieferung im Sinne von ‘entstehen, geschehen’ (die Grundbedeutung wirkt jedoch fort in verwandtem – wärts ‘gewendet, gerichtet auf’.“ Als bedeutungsverwandte Ausdrücke werden im DWDS genannt:

  • (sich) entwickeln (zu) · (sich) gestalten (zu) · aus (A) wird (B) · geraten (zu) · werden (zu)
  • als wahrscheinlich gelten(d) · angenommen werden (es) · anzunehmen sein · davon ausgehen (können) dass · dürfte (+ Infinitiv) · mutmaßlich · vermutlich · wahrscheinlich · werden · wohl

(https://www.dwds.de/wb/werden)

Das Verb „werden“ hat eine große Anzahl inhaltlicher Bedeutungen, von denen einige (z. B. F und I) keine oder wenige Bezüge zu Übergängen zwischen Existierendem und Nichtexistierendem haben. Dies trifft auch auf die zweite Gruppe der bedeutungsverwandten Ausdrücke zu.

Entstehen

Das Verb „entstehen“ hat nach dem DWDS und dem DUW nur zwei Bedeutungen:

  1. beginnen zu bestehen, zu sein; hervorgerufen werden, Bsp.: vor Jahrmillionen entstand das Leben auf der Erde; es entstand eine hochentwickelte Industrie;
  2. sich für jemanden ergeben, Bsp.: damit kein falscher Eindruck entsteht; ihnen entstehen dadurch keine Kosten

Es gibt signifikante Kollokationen in Koordination mit: vergehen, entwickeln, wachsen und verschwinden.

Zur Etymologie gibt das DWDS an: „ahd. intstantan, -stān, -stēn ‘verstehen’ (8. Jh.), mhd. entstān, -stēn ‘verstehen, wahrnehmen, merken’, vom Mhd. an auch ‘sich von etw. wegstellen, entgehen, mangeln’ (so bis ins 19. Jh.) und ‘zu sein beginnen, werden’“ (https://www.dwds.de/wb/entstehen).

Das Substantiv „Entstehen“ tritt im DWDS und DUW nicht auf.

Vergehen

Das Verb „vergehen“ hat nach dem DWDS und DUW folgende Bedeutungen:

  1. (von einer Zeitspanne o. A.) vorbeigehen, verstreichen, Bsp.: die Zeit verging (mir) im Fluge; der Winter ist vergangen; in den vergangenen Jahren;
  2. (von einer Empfindung o. A.) in jmdm. [nachlassen u. schließlich] aufhören, [ver]schwinden, Bsp.: der Schmerz, die Müdigkeit vergeht wieder; als sie auf den Teller sah, verging ihr der Appetit; ihm verging das Bewusstsein; wenn ich das höre, vergeht mir die Lust
  3. sich in nichts auflösen, sich verflüchtigen, Bsp.: die Wolke, der Nebel, der Geruch verging.
  4. [gehoben] als vergängliches Wesen sterben, dahinscheiden, absterben, Bsp.: viele Pflanzen vergehen im Herbst; das Werden und Vergehen in der Natur
  5. (geh.) ein bestimmtes übermächtiges Gefühl sehr stark empfinden (sodass man glaubt, die Besinnung verlieren, sterben zu müssen), Bsp.: vor Liebe, Sehnsucht, Durst, Angst [fast] vergehen.; sie vergingen fast vor Neugier; ich hätte vor Scham vergehen können
  6. ⟨sich gegen etw. vergehen⟩ gegen etw. verstoßen, straffällig werden, Bsp.: sich gegen die Vorschriften, Gesetze, guten Sitten vergehen
  7. ⟨sich an jmdm. vergehen⟩ ein Verbrechen, besonders ein Sittlichkeitsverbrechen, an jmdm. verüben, Bsp.: er soll sich an einem Mädchen vergangen haben

Das Nomen „Vergehen“ hat im Anschluss an die Bedeutungen 6 und 7 von „vergehen“ die Bedeutung: Verstoß gegen das Gesetz, strafbare Handlung.

Von den sieben Bedeutungen für „vergehen“ bezeichnen alle mehr oder weniger direkt einen umgekehrten Vorgang des Entstehens bis auf die letzten zwei. Diese beiden haben wie das Substantiv „Vergehen“ eine ganz andere Bedeutung. Dies ist zwar ein Nachteil für die Verwendung des Wortes, aber es gibt keine geeigneten Alternativen. Weiterhin spricht für „vergehen“ als Gegensatz zu „entstehen“, dass „entstehen“ eine signifikante Kollokation in Koordination zu „vergehen“ hat. Weiterhin sind in der Etymologie die Momente „aufhören zu existieren, vorbeigehen, verstreichen“ enthalten.

Zusammenfassung und mögliche Interpretationen für „entstehen“ und „vergehen“

Insgesamt ergibt sich, dass das Verb „werden“ aufgrund seiner zahlreichen Bedeutungen in der Alltagssprache nicht für das Axiomensystem verwendet wird, sondern für diesen Zweck als undefinierte Grundbegriffe die Wörter „entstehen“ und „vergehen“ eingesetzt. Sie haben in ihrer alltagssprachlichen Bedeutung Bezüge zu den Interpretationen der axiomatischen Begriffe, „vergehen“ allerdings nur in fünf von sieben Bedeutungen.

Interpretationen von „entstehen“

Von den im DWDS als bedeutungsverwandte Ausdrücke zu „entstehen“ genannten Formulierungen sind folgende für den Übergang von Noch-nicht-Existierendem zu Existierendem geeignet:

  • sich entfalten, sich entspinnen, sich entwickeln, sich herausbilden (sich) bilden, (sich) ergeben von Diskussionen, Standpunkten, Gedanken
  • in Erscheinung treten, kommen zu (es), nicht ausbleiben von Schäden, Verlusten
  • keimen, aufwachsen von Pflanzen
  • ausbrechen, eintreten, sich einstellen von Krankheiten
  • (sich) entwickeln, aufkommen, einsetzen von Wind, Regen
  • aufkommen, auftreten Verdacht, Gerücht, Zweifel; Stimmung
  • ansetzen, sich (oberflächlich) bilden von Rost, Schimmel, Moos

Weiterhin sind folgende Verben als Interpretationen von „entstehen“ möglich:

  • bauen von Häusern, Wegen
  • komponieren von Musikstücken
  • malen von Bildern
  • schreiben von Geschichten
  • lösen von Problemen
  • finden von Erkenntnissen
  • zubereiten, Kochen, Braten, anrichten von Speisen

Interpretationen von „vergehen“

Von den im DWDS als bedeutungsverwandte Ausdrücke zu „vergehen“ genannten Formulierungen sind folgende für den Übergang von Existierendem zu Nicht-mehr-Existierendem geeignet:

  • zu Ende gehen, zum Ende kommen von Reden, Veranstaltungen
  • schwinden, zergehen, schmelzen, weniger werden von Lebensmitteln, Schnee u. a.
  • verfließen, vergehen, verstreichen von Zeit

Es gibt es in der Alltagssprache weitere sprachliche Formulierungen, die ein Vergehen im Sinne von „Beenden des Vorhandenseins eines Objektes“ beinhalten. Dazu gehört der Mehrwortausdruck „zugrunde gehen“. Er hat nach dem DWDS folgende Bedeutungen:

  1. ⟨, etw. geht zu Grunde⟩ von Lebewesen und Organismen: sterben; eingehen, verenden
  2. ⟨ geht zu Grunde⟩ von Menschen
    • unheilbar psychisch erkranken; seelisch zerbrechen
    • seine Existenz verlieren
  3. ⟨ geht zu Grunde⟩ zerstört, vernichtet, ruiniert werden; pleite-, bankrottgehen, aufhören zu existieren

Zu dem Ausdruck gibt es ein berühmtes Zitat von Goethe: „… alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht; …“ (Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, 1808. Studierzimmer, Mephistopheles zu Faust).

In den angegebenen Bedeutungen zu „zugrunde gehen“ sind weitere Formulierungen zum Vorgang des Vergehens enthalten (Bedeutungen (Bed.) und Beispiele sind dem DWDS entnommen):

  • sterben, Bed.: zu leben aufhören, Bsp.: Der Vogel ist gestorben.
  • eingehen in der Bed. von „etw. stirbt (ab), kommt um“, Bsp.: Die Pflanze ist eingegangen.
  • verenden, Bed.: sterben von Tieren, Bsp.: Das Reh ist verendet.
  • zerstören, Bed.: so stark beschädigen, dass es unbrauchbar wird, Bsp.: Das Haus ist zerstört.
  • vernichten, Bed.: völlig zerstören, zunichtemachen, jmdn. töten, Bsp.: Unkraut vernichten

Die Bedeutungen „unheilbar psychisch erkranken; seelisch zerbrechen; seine Existenz verlieren; ruiniert werden; pleite-, bankrottgehen“ verdeutlichen, dass eine genaue Bestimmung des jeweiligen vergehenden Objektes erforderlich ist. Wenn jemand zum Beispiel seelisch zerbricht, ist damit nicht das Ende seiner physischen Existenz verbunden. Das gleiche betrifft das Verlieren einer beruflichen Existenz oder das Pleite- und Bankrottgehen. Bei den Objekten, die vergehen, handelt es sich um die psychische Gesundheit eines Menschen bzw. eine bestehende berufliche Existenz.

Weitere Wörter, die den Vorgang des Vergehens beinhalten, sind:

  • entfernen von Objekten
  • liquidieren, zerschlagen, aufreiben (militärisch), ausmerzen, ausrotten, austilgen, beseitigen, exterminieren von militärischen Einheiten, Menschengruppen
  • dahinraffen (ugs.) von Menschen
  • vertilgen, aufessen, austrinken, verspeisen, verdauen von Speisen
  • den Garaus machen (ugs.), der Vernichtung zuführen jemandem oder einer Sache
  • restlos beseitigen, schreddern von organischen Objekten
  • tilgen, auslöschen (ugs.), ausradieren (ugs.) von Strafen, Schmach, Gruppen von Menschen
  • einstampfen, makulieren von Druckerzeugnissen

Insgesamt zeigt sich, dass die deutsche Sprache reich an Formulierungen ist, die das „Beenden des Vorhandenseins eines Objektes“ beinhalten. Es gibt offensichtlich für zahlreiche Gattungen spezifische Formulierungen. Umso erstaunlicher ist, dass dieser Vorgang in der Philosophie so wenig Beachtung findet.

Philosophie

Philosophische Lexika

Es werden nur solche Zitate angeführt, die nicht in den Auswertungen enthalten sind. Weiterhin werden keine Zitate zu Aristoteles und Hegel aufgenommen, da deren Arbeiten unter „Weitere Quellen“ analysiert werden.

HWPh

Werden, das: 749 (8,7) Ergebnisse

Entstehen, das: 230 (2,7) Ergebnisse; entstehen: 953 (11,1) Ergebnisse

Vergehen, das: 262 (3,1) Ergebnisse, vergehen: 51 (0,6) Ergebnisse

Stichwort: Werden/Vergehen, Autor: Dirk Cürsgen (2007)

  • Bei HERAKLIT ist alles in einem ständigen Werden begriffen, dessen Prinzipien Streit und Recht sind. Werden/Vergehen sind die Übergänge zwischen den Gegensätzen, die die Welt bestimmen und die letztlich Eines sind. EMPEDOKLES unterscheidet ein doppeltes Werden: Über das Vergehen hinaus setzt sich jedes Werden fort in einem neuen Werden, so daß immer aus Einem Mehreres und aus Mehrerem Eines wird. Für PARMENIDES existiert nur das allein erkennbare, wahre Seiende, aber kein Werden. Weder aus Nichtseiendem noch aus einer angenommenen Vielzahl von Seiendem kann etwas werden (Bd. 12, S. 540)
  • W. LEIBNIZ orientiert sich in naturphilosophischer Perspektive noch an der aristotelischen Klassifikation von Bewegungsformen, begreift aber Entstehen und Vergehen als eine Form der substantiellen Veränderungen. … Entstehen/Vergehen bilden einen ewigen Kreislauf und kausal bestimmten Transformationszyklus unveränderlicher Monaden, dessen Vollendungstendenz stets zunimmt; anders als Gott ist die Kreatur Werden und Leiden (Bd. 12, S. 542).
  • W. J. SCHELLING denkt in seiner Frühphase im Anschluß an Fichte den Geist, das absolute Subjekt-Objekt, als «ewiges Werden»; in der Transzendentalphilosophie, deren eigentlicher Gegenstand das Werdende ist, «wird» der Geist zugleich mit der Welt, d.h., die Philosophie denkt das Objekt, anders als die Erfahrung, als Werden, nicht als Sein. Das System unserer Vorstellungen bildet ein Werden, kein Sein (Bd. 12, S. 543).
  • Nach H. KEYSERLING steht das Verhältnis von ‹Werden› und ‹Sein› im Zentrum der Philosophie; beide Begriffe umfassen jeweils die physikalischen (Kontinuität, Diskontinuität), mathematischen (Geometrie, Arithmetik) und erkenntnistheoretischen (Anschauung, Denken) Grundphänomene; das Verhältnis und die Einheit dieser Reihen bilden das Grundproblem der Philosophie. Im Kontext der Aufwertung des Methodischen im Neukantianismus setzt P. NATORP das Werden mit Methode, Prozeß und Wissenschaft gleich; das Werden ist das eigentliche Sein, d.h., als Erkenntnis selbst wird das Sein zum Werdenden. … Die Aufwertung des Werden und dynamischer Denkmuster insgesamt im 20. Jh. findet ihren Niederschlag in allen Gebieten, in den Naturwissenschaften, der Theologie, der Geschichtswissenschaft und auch der Philosophie. H. DRIESCH unterscheidet ein zeitlich-erfahrungshaftes von einem zeitlosen Werden als Grundkategorie der Wirklichkeit. Das Werden folgt dem Etwas nach, dem Bewußthaben überhaupt, und ist als Ur-(Selbst-)Erlebnis ein psychologisches Zentralphänomen; wie die Zeit ist das Werden aber letztlich ein unbegreifliches Grunderlebnis. Das Werden entspricht bei N. HARTMANN der Realität und dem Zeitlichen, während das zeitlose Sein den Bereich der Idealität ausmacht; es ist ein zeitlich gedachtes, prozeßhaftes, sukzessives Übergehen und das Zentralphänomen der Natur (Bd. 12, S. 544).

EPh

Werden, das: 148 (4,7) Ergebnisse

Entstehen, das: 51(1,6) Ergebnisse; entstehen: 328 (10,5) Ergebnisse

Vergehen, das: 46 (1,5) Ergebnisse, vergehen: 16 (0,5) Ergebnisse

Kein Stichwort

  • Entwicklung ist eine prozesshafte, qualitative Veränderung in der Natur, der Gesellschaft und dem Bewusstsein über Natur und Gesellschaft. Das zeitlich bedingte Entwickeln von etwas Bestimmten und Neuem ist dabei immer auch das Vergehen von etwas Anderem. (S. 539u).
  • Gegenwärtig existieren neben naturwissenschaftlichen (z.B. kosmologischen und biologischen) Entwicklungsmodellen auch philosophische Entwicklungskonzepte (z.B. Dialektik) als allgemeine Theorien der widersprüchlichen Einheit von Entstehen und Vergehen in der Natur und der Gesellschaft (S. 544b).
  • Die Philosophie ist aus der Krise des mythologischen Wissens entstanden; (S. 551).
  • Nach Kant lässt sich ein Auseinanderdriften naturphilosophischer, metaphysischer und mechanistisch- rationalistischer Erklärungen des Lebendigen feststellen. In der Zeit der Romantik wird ›Leben‹ als Inbegriff der Freiheit, als Fülle und als unergründlich (Herder), als ein in der Natur waltendes, formendes Prinzip (Goethe) oder als Wechselwirkung zwischen allen Organismen (Schelling) interpretiert. Die mechanistische Logik der modernen Naturwissenschaften gibt für sie nur die Bewegungsgesetze der toten Materie wieder, mit der die Dimension des Werdens und des Möglichen nicht erfassbar sei (S. 1378).
  • Während im Zentrum der modernen Wissenschaftslogik die Bewegungsgesetze der toten Materie und statischen Natur standen und das Lebendige in gewisser Weise als unverfügbar galt, werden die Dimension des Werdens, die Kategorien des Möglichen und das Unvorhersehbare zentrale Momente der neuen Technorationalität, die Lebendiges nicht mehr als Totes abbilden muss. Die neue Flexibilität des Lebendigen und die damit verbundenen Optionen umfassender Optimierung sind die Grundlage einer neuen risikopolitisch ausgerichteten Biopolitik. Als Rückseite dieser neuen Variante der Rationalisierung des Lebendigen durch die Biopolitik zeigt sich heute – ähnlich wie an der vorletzten Jh.-wende – ein neues philosophisches Interesse an der Idee einer unbestimmten schöpferischen Lebenskraft, an der Unergründlichkeit und Unvorhersehbarkeit des Lebens. Den Menschen als ein Wesen zu denken, dessen Bestimmung in seiner Unbestimmtheit, seiner Vielfältigkeit und den vielfältigen Optionen seines Werden liegt, findet sich u.a. im Denken von Gilles Deleuze, Rosi Braidotti, bei Michael Hardt und Antonio Negri oder Andrew Pickering (S. 1381).
  • Gegen substanzontologische Konzeptionen gerichtet begreift A. N. Whitehead in seiner philosophischen Kosmologie die wirkliche Welt als Prozessgeschehen im Sinne des Werdens von aktualen, mit anderem Einzelnen in Verbindung stehenden Entitäten (S. 2954b).

MLPh

Werden, das: 79 (11,2) Ergebnisse

Entstehen, das: 19 (2,7) Ergebnisse; entstehen: 72 (10,2) Ergebnisse

Vergehen, das: 19 (2,7) Ergebnisse, vergehen: 4 (0,6) Ergebnisse

Stichwort: Werden, Autor: Winfried Löffler

  • Umschreibungen für Werden sind: Der in der Zeit stattfindende Übergang von einem Zustand, Sachverhalt etc. in einen anderen, insbesondere der Übergang vom Nichtsein eines Gegenstandes oder seiner Eigenschaften zum Sein; Entstehen; Entwicklung; Wechsel; Veränderung; Prozess; Geschehnis. S. 675
  • Das philosophische Problem des Werdens besteht allgemein darin, in der dauernd erfahrenen Veränderung Strukturen und Zusammenhänge zu erkennen und denkerisch-sprachlich festzuhalten, da unser Erkenntnisstreben auf die Erkenntnis dessen geht, was der Fall ist; näherhin in dem Problem, wie im Verlauf des Werdens etwas sein kann, was vorher nicht war bzw. etwas nicht mehr sein kann, was vorher war, wie also Nichtseiendes in Seiendes übergehen kann bzw. umgekehrt, und ob in irgendeinem Augenblick des Werdens ein und derselbe Sachverhalt zugleich sein und nicht sein muss. S. 675
  • In einer Reihe spekulativer Neuansätze seit dem frühen 19. Jh. wird Werden dagegen wieder zur grundlegenden Kategorie: das Wesen der Natur wird verstanden als Tätigkeit und fortdauerndes Werden, in dem die ≫Dinge≪ nur Verdichtungen und Hemmungen sind (Schellings spekulative Naturphilosophie); die Wirklichkeit insgesamt als das Werden des Absoluten (Hegels Ontologie in der Wissenschaft der Logik); die Daseinsweise der Wirklichkeit, d. h. der Materie wird verstanden als beständiges Werden, als Auflösung und Neuentstehung widersprüchlicher Verhältnisse (Engels, dialektischer Materialismus, Dialektik); der Bewusstseinsstrom oder auch die Wirklichkeit insgesamt wird verstanden als beständiges Werden qualitativ bestimmter Ereignisse (Bergson u. a.; Lebensphilosophie); in den Prozessontologien des 20. Jh. (Whitehead, Hartshorne u. a.) kehren Motive von Leibniz, Hegel, Bergson u. a. wieder. S. 675

Weitere Quellen

Metaphysik von Aristoteles

Ich habe mich aufgrund der Verbreitung für die Übersetzung der Metaphysik von Herrmann Bonitz in der Bearbeitung von Horst Seidel (Aristoteles 1995) entschieden. Alle angegebenen Zitate basieren darauf. Um einen Eindruck von Unterschieden verschiedener Übersetzungen zu gewinnen, habe ich Häufigkeiten der Wörter für die Übersetzung von Bonitz/Seidel und Bassenge ermittelt.

Übersetzung von Bassenge (1990)

Werden, das: 2 (0,5) Ergebnisse

Entstehen, das: 60 (16,4) Ergebnisse; entstehen: 100 (27,3) Ergebnisse

Vergehen, das: 15 (4,1) Ergebnisse, vergehen: 15 (4,1) Ergebnisse

Übersetzung von Bonitz/Seidel (Aristoteles 1995)

Werden, das: 32 (9,6) Ergebnisse

Entstehen, das: 67 (20,2) Ergebnisse; entstehen: 56 (16,9) Ergebnisse

Vergehen, das: 42 (12,7) Ergebnisse, vergehen: 7 (2,1) Ergebnisse

Zitate aus Bonitz/Seidel

  • Wie aus dem Knaben der Mann, damit meinen wir, wie aus dem Werdenden das Gewordene und aus dem sich Vollenden – den das Vollendete. Immer nämlich liegt etwas dazwischen: Wie das Werden zwischen Sein und Nichtsein, so ist auch das Werdende ein Mittleres zwischen Seiendem und Nicht-Seiendem. Der Lernende ist ein werdender Gelehrter, und das meinen wir, wenn wir sagen, daß aus dem Lernenden ein Gelehrter werde. Wie aus Wasser Luft, damit meinen wir das Entstehen durch den Untergang des andern. Daher findet bei jenen keine Umkehr in der Folge des Entstehens statt, und es wird nicht aus dem Manne der Knabe; denn nicht aus dem Entstehen wird dort das Werdende, sondern nach dem Entstehen. So wird auch der Tag aus dem Morgen, indem er nach diesem eintritt, und darum wird auch nicht der Morgen aus dem Tage. Bei der anderen Art des Werdens dagegen findet die Umkehrung der Folge statt. II 2, 994a26-994b3
  • Gibt es aber nichts Ewiges, so ist es auch nicht möglich, daß ein Werden stattfinde. Denn hierbei muß es notwendig etwas geben, was wird, und das, woraus es wird, und von diesen muß das Letzte unentstanden sein, sofern ja nicht ein Fortschritt ins Unendliche stattfindet, und nichts aus Nichtseiendem werden kann. Ferner, wo Werden und Bewegung ist, muß auch eine Grenze sein; denn weder ist irgendeine Bewegung unendlich, sondern jede hat ein Ziel, noch kann dasjenige werden, für das es unmöglich ist, (dann) geworden zu sein. Jedes Gewordene aber muß (dann) notwendig sein, sobald es geworden ist. III 4, 999b7-12
  • Denn außer dem Erörterten ergeben sich auch noch Widersprüche hinsichtlich des Entstehens und Vergehens. Es scheint nämlich, daß das Wesen, wenn es nach früherem Nicht-sein nunmehr ist oder nach vorherigem Sein späterhin nicht ist, dieses durch Vermittlung des Entstehens und Vergehens erleide; die Punkte aber und Linien und Flächen können weder werden noch vergehen, obgleich sie bald sind, bald nicht sind. Wenn nämlich zwei Körper sich berühren oder trennen, so sind zugleich mit der Berührung die Grenzen eins, zugleich mit der Trennung zwei; so daß bei der Berührung die eine nicht mehr ist, sondern vergangen ist, bei der Trennung aber die sind, welche vorher nicht waren. Ein Werden findet dabei nicht statt, denn der unteilbare Punkt kann ja nicht in zwei geteilt werden. Und wenn ein Werden und Vergehen statt – findet, woraus werden sie dann? – Ähnlich verhält es sich auch mit dem Jetzt in der Zeit; denn auch dies kann ebensowenig entstehen und vergehen und scheint doch immer ein anderes zu sein, so daß es also nicht Wesenheit ist. Ebenso verhält es sich aber offenbar mit den Punkten und den Linien und Flächen; es findet bei diesen dasselbe Verhältnis statt, da sie alle in gleicher Weise Grenzen oder Teilungen sind. III 5, 1002a28-b11
  • Wachsen (natürliches Werden) aber schreibt man allem zu, was Vermehrung durch ein anderes dadurch erhält, daß es mit ihm in Berührung steht und zusammengewachsen oder angewachsen ist, wie die Embryonen. V 4, 1014b20-24
  • Denn nur der uns umgebende Raum der Sinneswelt befindet sich in beständigem Vergehen und Entstehen (IV 5, 1010a27-30)
  • Denn das Akzidentelle zeigt sich als dem Nichtseienden nahe verwandt. Das ergibt sich auch aus Erörterungen folgender Art: Bei dem nämlich, was in anderem Sinne ist, findet Entstehen und Vergehen statt, bei dem akzidentellen Sein aber nicht (VI 2, 1026b22-24).
  • Das natürliche Werden nun ist dasjenige, welches aus der Natur hervorgeht; dasjenige, woraus etwas wird, ist nach unserem Ausdruck der Stoff, das, wodurch es wird, ist etwas von Natur Seiendes, dasjenige, was es wird, ist Mensch, Pflanze oder sonst etwas von dem, was wir im strengsten Sinne als Wesen bezeichnen. Alles aber, was wird, sei es durch Natur, sei es durch Kunst, hat einen Stoff; denn ein jedes Werdende hat die Möglichkeit sowohl zu sein als auch nicht zu sein, und das ist in einem jeden der Stoff. Überhaupt aber ist sowohl das, woraus etwas wird, wie das, wonach es wird, Natur (denn das Werdende, z. B. Pflanze oder Lebewesen, hat Natur) und ebenso auch das, wodurch etwas wird, nämlich das als formgebend bezeichnete, gleichartige Wesen; dieses aber ist in einem anderen. Denn ein Mensch erzeugt einen Menschen. (b) So wird also durch die Natur das Werdende. Die anderen Arten des Werdens heißen Hervorbringungen. Alle Hervorbringungen aber gehen entweder von der Kunst oder von dem Vermögen oder vom Denken aus. Manche darunter geschehen auf ähnliche Weise auch von ungefähr und durch Zufall, so wie es auch bei dem natürlich Werdenden vorkommt; denn auch da gibt es einiges, welches ebensowohl aus Samen wie ohne Samen entsteht. VII 6, 1032a12-31
  • Da das konkrete Ganze (Ding) ein von dem Begriff verschiedenes Wesen ist (das eine Wesen nämlich ist der mit dem Stoff zusammengefaßte Begriff, das andere der Begriff überhaupt), so kommt bei den konkreten Dingen ein Vergehen vor, weil auch Entstehen stattfindet; bei dem Begriff aber kann kein Vergehen stattfinden, weil auch kein Entstehen (denn nicht das Haus-sein entsteht, sondern die Existenz dieses bestimmten Hauses), sondern ohne Entstehen und Vergehen sind die Begriffe und sind nicht; denn daß niemand sie erzeugt oder hervorbringt, ist erwiesen. Darum gibt es auch von den einzelnen sinnlichen Wesen keine Wesensdefinition und keinen Beweis, weil sie Stoff enthalten, dessen Wesen darin besteht, daß er sein und auch nicht sein kann; weshalb auch alles einzelne Sinnliche vergänglich ist (VII 15, 1039b20-31)
  • Für jedes Wesen findet ein Entstehen statt, für den Punkt aber nicht; denn der Punkt ist nur eine Teilung. XI 2, 1060b18-19
  • Daß nämlich nichts aus Nicht-Seiendem entstehe, sondern alles aus Seiendem, ist gemeinsame Lehre so gut wie aller Naturphilosophen. Da nun nichts Weißes aus dem entsteht was vollkommen weiß und nirgends nicht weiß ist, so muß das Weiße aus dem Nicht-Weißen entstehen; nach ihrer Meinung muß es daher aus Nicht-Seiendem entstehen, sofern nicht Nicht-Weiß und Weiß dasselbe war. Aber diese Schwierigkeit ist leicht zu heben; denn es ist ja in der Physik erklärt, inwiefern das Werdende aus dem Nicht-Seienden wird und inwiefern aus dem Seienden. XI 6, 1064b24-33
  • Auch danach, daß der Gebildete, wenn er sprachkundig geworden ist, beides zugleich sein muß, während er es früher nicht war, – was aber nicht immer seiend ist, das wurde einmal, also wurde er zugleich gebildet und sprachkundig –, hiernach fragt keine der Wissenschaften, die man allgemein als Wissenschaften anerkennt, sondern nur die Sophistik; denn diese allein beschäftigt sich mit dem Akzidentellen; daher hatte Platon nicht unrecht, wenn er behauptete, die Sophistik beschäftige sich mit dem Nicht-Seienden (XI 8, 1064b23-30).
  • Die Veränderung nun aus einem Nicht-Zugrundeliegenden in ein Zugrundeliegendes nach einem kontradiktorischen Gegensatze ist das Entstehen, und zwar, wo sie schlechthin stattfindet, Entstehen schlechthin, wo sie Veränderung von etwas Bestimmtem ist, bestimmtes Entstehen. Die Veränderung dagegen aus einem Zugrundeliegenden in ein Nicht-Zugrundeliegendes ist das Vergehen, und zwar, wo sie schlechthin stattfindet, Vergehen schlechthin, wo sie Veränderung von etwas Bestimmtem ist, bestimmtes Vergehen. XI 11, 1067b21-24

Physikvorlesung

Übersetzung: Heinemann (2021)

Werden, das: 37 (18,6) Ergebnisse

Entstehen, das: 20 (10,1) Ergebnisse; entstehen: 10 (5,0) Ergebnisse

Vergehen, das: 14 (7,0) Ergebnisse, vergehen: 3 (1,5) Ergebnisse

  • Einfach nenne ich das Werdende [d. h. woran das Werden geschieht] im Falle des Menschen und des Nicht-Musischen; und was es wird [d. h. was dabei zustande kommt], nenne ich einfach im Falle des Musischen. Zusammengesetzt nenne ich das Werdende und was es wird in dem Fall, dass wir sagen, der nicht musische Mensch werde ein musischer Mensch. In einigen dieser Fälle sagt man nicht nur: dieses wird …, sondern auch: aus diesem …; z. B. aus einem Nicht-Musischen ein Musischer. Aber so spricht man nicht bei allem; denn es ist nicht aus einem Menschen ein Musischer geworden, sondern ein Mensch wurde musisch. In den Fällen, wo wir sagen, dass Einfaches … wird, bleibt das Werdende beim Werden teils bestehen, teils bleibt es nicht bestehen. Denn der Mensch bleibt und ist Mensch, während er musisch wird; das Nicht- Musische und [das heißt] das Amusische hingegen bleiben weder als Einfaches noch in einer Zusammensetzung bestehen. Nachdem dies umrissen ist, lässt sich allem Werden Folgendes entnehmen, wenn man es so betrachtet, wie wir ausgeführt haben: Immer muss etwas als das Werdende zugrunde liegen. Dieses ist zwar der Zahl nach e1nes, aber der Art nach ist es nicht e1nes; dabei meine ich mit ›der Art nach‹ dasselbe wie mit ›der Definition nach‹; denn Mensch zu sein ist nicht dasselbe wie amusisch zu sein. I 7, 190a2-16
  • Freilich spricht man manchmal auch bei dem Bestehenbleibenden so; denn wir sagen, aus der Bronze – und nicht: die Bronze – werde eine Statue. Und [beim Werden] aus Gegenüberliegendem und nicht Bestehenbleibendem gibt es beide Redeweisen: aus diesem [wird] jenes und dieses [wird] jenes. Denn einerseits wird aus einem Amusischen – und andererseits wird der Amusische – ein Musischer. Daher ebenso auch beim Zusammengesetzten: Man sagt ja einerseits, aus einem amusischen Menschen – und andererseits, der amusische Mensch – werde ein musischer [Mensch]. Aber vom Werden wird auf viele Weisen gesprochen: Teils sagt man nicht, es werde, sondern dieses werde soundso; und nur bei den Substanzen sagt man, dass sie im schlichten Sinne werden. In den anderen Fällen ist offenkundig, dass zwangsläufig etwas als das Werdende zugrunde liegt. I 7, 190a25-33
  • Dass aber auch die Substanzen und [das heißt], was im schlichten Sinne ist, aus etwas Zugrundeliegendem werden, dürfte bei näherer Betrachtung offensichtlich werden. Denn immer gibt es etwas, das zugrunde liegt und aus dem das [im schlichten Sinne] Werdende [hervorgeht], z. B. die Pflanzen und die Tiere aus Samen. Was im schlichten Sinne wird, wird teils durch Umformung, z. B. eine [bronzene] Statue, teils durch Zugabe, z. B. was dabei größer wird, teils durch Wegnahme, z. B. die Herme aus einem Stein, teils durch Zusammensetzung, z. B. ein Haus, teils durch Veränderung, z. B. wenn ein stofflicher Umschlag stattfindet. I 7, 190b1-8
  • Aus dem Gesagten ist also klar, dass alles Werdende immer zusammengesetzt ist. Eines ist das Werdende und ein anderes dasjenige, zu dem dieses wird, und dabei ist dieses [d. i. das Werdende (!)] doppelt: einerseits das Zugrundeliegende, andererseits das Gegenüberliegende. Ich verwende diese Ausdrücke so, dass das Amusische gegenüberliegt, der Mensch hingegen zugrunde liegt; dementsprechend bezeichne ich die Formlosigkeit, die Gestaltlosigkeit und die Ungeordnetheit als das Gegenüberliegende, die Bronze, den Stein und das Gold hingegen als das Zugrundeliegende. I 7, 190b11-16
  • Denn der musische Mensch ist in einer bestimmten Weise aus Mensch und Musisch zusammengesetzt; man löst ihn [bei der begrifflichen Analyse] auf in die Definitionen von diesen. Somit ist klar, dass das Werdende wohl aus diesen werden dürfte. Dabei ist das Zugrundeliegende der Zahl nach e1nes, aber der Art nach zwei: Einerseits der Mensch und das Gold und überhaupt das zählbare [d. h. als Portion individuierte] Material; denn dies ist eher ein wohlbestimmtes Ding, und nicht nur aufgrund zusätzlicher Umstände wird das Werdende aus ihm [sc. und nicht aus etwas Anderem]. Andererseits sind das Fehlen [der beim Werden angenommenen Gestalt] und die konträre Entgegensetzung nur etwas Zusätzliches. Hingegen ist die Form e1nes, z. B. die Anordnung oder die musische Bildung oder was sonst in dieser Weise prädiziert wird. I 7, 190b20-28
  • Auch wird Mensch aus Mensch, aber nicht Liege aus Liege. Eben deshalb wird ja behauptet, nicht der Umriss sei die Natur, sondern das Holz; denn wenn es sprießen würde, dann entstünde nicht Liege, sondern Holz. Wenn dieses demnach Natur ist, dann auch die Gestalt. Denn aus Mensch wird Mensch. Ferner: Soweit von der Natur als Entstehen gesprochen wird, handelt es sich um einen Weg in die Natur. Es ist hier nämlich nicht so wie bei der Verarztung: Verarztung heißt nicht der Weg in die ärztliche Kunst, sondern der Weg in die Gesundheit. Denn Verarztung ist zwangsläufig [ein Weg] von der ärztlichen Kunst in etwas anderes als die ärztliche Kunst. Aber die Natur [nämlich: die Natur als Entstehen oder Aufkeimen] verhält sich nicht so zur Natur. Sondern was aufkeimt, kommt, indem es aufkeimt, aus etwas in etwas hinein. II 1, 193b11-17
  • In der jeweiligen Gattung [des Seienden] sei unterschieden zwischen ›im Vollendungszustand‹ und ›potentiell‹. Dann ist der Vollendungszustand des Potentiellen [d. h. dessen, was potentiell soundso ist] als solchen Bewegung. Beispielsweise ist der Vollendungszustand des Veränderlichen als Veränderlichen Veränderung; dessen, was zunehmen bzw. umgekehrt abnehmen kann (wofür es [im Griechischen] kein gemeinsames Wort gibt), Zu- und Abnahme; dessen, was entstehen bzw. vergehen kann, Entstehen und Vergehen; dessen, was den Ort wechseln kann, Ortswechsel. Dass dies die Bewegung ist, wird hieraus klar: Wenn das Verbaubare, als dasjenige, das wir so bezeichnen, im Vollendungszustand ist, dann wird es verbaut, und das ist Hausbau; ebenso Verarztung, Reifung, Alterung, sowie beim Lernen, Wälzen und Springen. III 1, 201a10-18
  • Näher betrachtet, könnte man durch fünferlei zu der Überzeugung kommen, es gebe etwas Unbegrenztes: [1.] die Zeit (denn sie ist unbegrenzt), [2.] die Teilung bei den Größen (denn auch die Mathematiker bedienen sich des Unbegrenzten). Ferner dadurch, dass [3.] sich ein Aufhören von Entstehen und Vergehen nur auf die Weise vermeiden lässt, dass unbegrenzt ist, wovon das Entstehende abgezogen wird. Ferner dadurch, dass [4.] sich das Begrenzte immer bis zu etwas erstreckt, so dass gar nichts Grenze sein kann, da sich immer eines bis zu etwas anderem erstrecken muss. Sowie vor allem und in erster Linie, was die gemeinsame Schwierigkeit aller [bisherigen Punkte] ausmacht: [5.] Da sie für das Denken nicht aufhören, scheinen auch die Zahlenreihe, die mathematischen Größen und der Bereich außerhalb des Himmels unbegrenzt zu sein. III 4, 203b15-24
  • Damit das Entstehen nicht aufhört, muss es keinen im Sinne des Verwirklichtseins unbegrenzten wahrnehmbaren Körper geben. Denn wenn das All begrenzt ist, kann das Vergehen des einen das Entstehen des anderen sein (III 8, 208a8-10 ).

Über Werden und Vergehen

Werden, das: 156 (105,4) Ergebnisse

Entstehen, das: 0 (0) Ergebnisse; entstehen: 10 (6,8) Ergebnisse

Vergehen, das: 70 (47,3) Ergebnisse, vergehen: 5 (3,4) Ergebnisse

  • Generell muß man also sowohl für Werden und Vergehen schlechthin erklären, ob es das gibt oder nicht gibt und auf welche Weise es existiert, als auch für die sonstigen Bewegungen, wie z. B. für Wachstum und Veränderung. I 2, 315a26-28
  • Doch muß man versuchen, diese aufzulösen, und daher noch einmal von Anfang die Aporie darlegen: Daß nun jeglicher wahrnehmbare Körper an jeder beliebigen Stelle Teilbares und Unteilbares ist, hat nichts Absurdes. Das eine wird nämlich als Möglichkeit stattfinden, das andere dagegen in wirklicher Vollendung. Hingegen zugleich überall teilbar der Möglichkeit nach zu sein, dürfte allerdings unmöglich scheinen. Denn wenn es möglich wäre, könnte es wohl auch geschehen (nicht daß zugleich beides in wirklicher Vollendung wäre, Unteilbares und Geteiltes, sondern nur: Geteiltes an jeder beliebigen Stelle). Konsequenterweise wäre dann nichts mehr übrig, und der Körper in Körperloses zugrunde gegangen. Und werden könnte er dann umgekehrt entweder aus Punkten oder gänzlich aus nichts. Und wie sollte das möglich sein? Daß er nun aber geteilt wird in gesonderte und immer kleinere Größen, die voneinander abstehen und getrennt sind, ist empirisch klar. Also dürfte weder einem, der ihn in Teile zerlegt, die Zerstückelung eine unbegrenzte sein, noch kann er zugleich an jeder Stelle geteilt werden (das ist nämlich unmöglich), sondern 〈 nur 〉 bis zu einem gewissen Grad. Es müssen also notwendig atomare Größen unsichtbarer Art dar in sein, zumal dann, wenn Werden und Vergehen gegeben sein sollen, das eine durch Trennung, das andere durch Zusammenschluß. Dies ist das Argument, das zu erzwingen scheint, daß es unteilbare Größen gebe. I 2, 316b21-317a1
  • Daß da aber ein Trugschluß verborgen liegt, und wo er sich verbirgt, wollen wir erklären. Da nämlich kein Punkt an einen Punkt anschließen kann, ist es in einer Weise möglich, daß es Größen zukommt, überall teilbar zu sein, in einer anderen aber, daß es ihnen nicht zukommt. Es scheint aber, wenn man dies setzt, daß sowohl an jedem beliebigen 〈 Ort 〉 als auch überall ein Punkt ist, so daß notwendig doch die Größe in Nichts zerteilt würde: Denn überall wäre ein Punkt, und sie bestünde daher entweder aus Berührungen oder aus Punkten. Doch ist es so, daß überall ein 〈 Punkt 〉 ist, weil eben an jedem beliebigen 〈 Ort 〉 einer liegt, und alle wie ein jeder sind; mehr als nur einer aber sind es nicht, da nicht aufeinander folgend: so daß nicht überall 〈 Punkte 〉 sind (wenn nämlich der Mitte folgend teilbar, so wäre sie auch im 〈 jeweils 〉 anschließenden Punkt zu teilen); denn eine Stelle ist nicht anschließend an eine nächste Stelle oder ein Punkt an einen Punkt, dies aber bedeutet Zerlegung bzw. Zusammensetzung. So daß es wohl Zusammenschluß und Trennung gibt, aber nicht in Atome ((= ›Unteilbare‹)) noch aus Atomen (denn das ergibt viele Unmöglichkeiten), noch so, daß überall eine Teilung geschehen wäre (wenn nämlich ein Punkt an einen anderen anschließend wäre, wäre das der Fall), sondern in kleine und kleinere 〈 Teile 〉, und Zusammenschluß aus jeweils kleineren. I 2, 317a1-17
  • Nachdem nun diese Dinge auseinandergesetzt sind, ist zuerst zu untersuchen, ob es etwas schlechthin Werdendes und Vergehendes gibt oder nichts, das im eigentlichen Sinne, sondern immer aus einem Bestimmten auch Bestimmtes 〈 wird 〉, ich meine z. B. aus einem Kranken ein Gesunder und ein Kranker aus einem Gesunden, oder ein Kleines aus einem Großen und | ein Großes aus einem Kleinen, und all das andere auf diese Weise. Wenn es nämlich ein Werden schlechthin geben soll, dann dürfte etwas wohl schlechthin aus Nichtseiendem werden, so daß es wahr sein müßte zu sagen, irgendwelchen Dingen komme das ›nichtseiend‹ zu. Denn ein bestimmtes Werden kommt aus einem bestimmten Nichtseienden, wie z. B. aus einem Nicht-Weißen oder Nicht-Schönen, das Werden schlechthin aber aus schlechthin Nichtseiendem. Das »schlechthin « bedeutet entweder das Primäre in Beziehung auf jede Kategorie des Seienden oder das Allgemeine und alles Umfassende. Wenn nun das erste, so wird das Werden einer Substanz aus Nicht-Substanz erfolgen müssen. Wem aber weder Substanz noch das Dies-Da zukommt, dem kommt klarer Weise auch keine der anderen Kategorien zu, wie z. B. Qualität, Quantität oder Ort (denn sonst wären die Beschaffenheiten getrennt von den Substanzen).I 3, 317a32-b11
  • Was aber auch mit diesen Unterscheidungen ein erstaunliches Problem bereitet, ist erneut aufzugreifen: wie schlichtes Werden denn existiert – sei es, daß es aus einem der Möglichkeit nach Seienden existiere, oder sei es auch irgendwie anders? Denn man könnte ja fragen, ob da wirklich ein Werden von Substanz und dem Dies-Sein existiert, nicht aber von dem So-, dem So-Groß- oder dem Wo-Sein; und die gleiche Frage könnte man sich beim Vergehen stellen. Denn wenn ein Etwas entsteht, muß offenbar dem Vermögen nach eine gewisse Substanz da sein, aber nicht im Sinne wirklicher Vollendung, aus der das Werden existieren wird und in die notwendig das, was vergeht, überwechselt. I 3, 317b18-25
  • Ist es also aus dem Grunde, weil das Vergehen des einen das Werden des anderen ist und das Werden des einen das Vergehen des anderen, daß der Wandel notwendigerweise unaufhörlich ist? Dafür nun, daß Werden und Vergehen bei jedem der Dinge in gleichem Maße gegeben sind, ist diese Ursache überall für ausreichend zu halten. I 3, 318a24-31
  • Der Weg also zum Nichtseienden schlechthin ist schlichtes Vergehen, der Weg aber zum schlechthin Seienden ist schlichtes Werden. Wo also dieser Unterschied gemacht wird, sei es beim Feuer und der Erde oder irgendwelchen anderen Dingen, da ist das eine ein Seiendes, das andere aber ein Nichtseiendes. I 3, 318b9-12
  • Was Werden und Veränderung betrifft, können wir (nunmehr) definieren, worin ihr Unterschied besteht; denn unsere Behauptung ist, dass diese Wandlungen voneinander verschieden sind. Nachdem nun etwas das Zugrundeliegende ist und anderes die Beschaffenheit, die naturgemäß von dem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, und nachdem die Wandlung eines von diesen beiden betreffen kann, handelt es sich um Veränderung, wenn bei Permanenz des Zugrundeliegenden als ein wahrnehmbares Ding ein Wandel in seinen Beschaffenheiten vor sich geht: entweder in die gegensätzlichen oder in eine dazwischen, wie zum Beispiel der Körper gesund und wiederum krank wird, während er doch als derselbe weiter besteht, und das Erz rund, bald aber auch eckig wird, während es doch dasselbe ist. I 4, 319b6-15
  • Wenn aber etwas als ein Ganzes sich wandelt ohne Fortbestehen irgendeines Wahrnehmbaren als dasselbe Zugrundeliegende – sondern zum Beispiel aus dem Keim insgesamt Blut oder aus Wasser Luft oder aus Luft zur Gänze Wasser wird – dann ist so etwas bereits ein Werden, vom anderen hingegen Vergehen, und dies vor allem da, wo die Verwandlung aus einem nicht Wahrzunehmenden in Wahrnehmbares entweder für die Berührung oder für alle Wahrnehmungen erfolgt, wie zum Beispiel wenn Wasser entstanden oder zur Luft verging – denn Luft ist ziemlich unwahrnehmbar. I 4, 319b15-21
  • Wenn nun der Wandel im Sinne quantitativer Gegensätzlichkeit erfolgt, handelt es sich um Wachsen und Schwinden, wenn in Bewegung auf den Ort, um Fortbewegung, wenn in der Beschaffenheit und Qualität, um Veränderung, wenn hingegen nichts weiter besteht von das andere eine Beschaffenheit oder überhaupt Akzidenz ist, dann um Werden bzw. Vergehen. I 4 319b30-320a2.
  • Wenn folglich das Werden von irgendetwas schlechthin aus Notwendigkeit ist, dann muss es im Kreis laufen und zurückkehren. Denn notwendig hat das Werden entweder eine Grenze oder nicht, und wenn nicht, entweder in gerader Linie oder im Kreis. Von diesen Dingen aber kann es, wenn es doch ewig der Fall sein soll, nicht geradlinig sein, weil es sonst niemals ein Prinzip gäbe (weder nach unten, für die als „künftig“ genommenen Dinge, noch nach oben, für die als „vergangenen“). (II 11, 338a4-9).
  • Vielmehr ist es notwendig, dass ein Prinzip gegeben und – weil nicht von begrenztem (Werden) – ewig gegeben sei. Deshalb muss es kraft eines Kreislaufs gegeben sein. Somit wird es notwendig sein, dass die Umkehrung gilt, wie zum Beispiel: wenn dies aus Notwendigkeit stattfindet, folglich auch das Frühere; wenn indessen dieses, dann ist es auch notwendig, dass das Spätere entsteht. Und dies immer, also kontinuierlich … Folglich liegt in der Bewegung und dem Werden im Kreis das „aus Notwendigkeit schlechthin“; und wenn es im Kreis geht, ist es notwendig, dass jedes wird und geworden ist, und wenn diese Notwendigkeit besteht, geht ihr Werden im Kreis.
    Das ist durchaus einleuchtend – nachdem sich ohnehin die Bewegung im Kreis und d. h. die des Himmels als ewig herausgestellt hat –, dass dasjenige aus Notwendigkeit zustande kommt und sein wird, was an Bewegungen zu ihr gehörig und weiterhin durch sie (verursacht) ist. (II 11, 338a9-b1).
  • Warum also verhalten sich die einen Dinge augenscheinlich so, wie zum Beispiel Wasser und Luft im Kreislauf werdende sind: sowohl, wenn Wolke sein wird, muss es regnen, als auch wenn es doch regnen wird, muss auch Wolke sein; während die Menschen und Tiere nicht wieder zu sich selbst zurückkehren, sodass erneut dasselbe entstünde? Denn es ist nicht notwendig, wenn der Vater geworden ist, dass du wirst, sondern nur: wenn du, jener; so scheint dieses Werden vielmehr geradlinig zu sein. Prinzip der Erwägung aber ist wiederum dies, ob alles insgesamt auf die gleiche Weise zurückkehrt oder nicht, sondern zwar manches der Zahl nach, anderes hingegen nur der Form nach. Dinge nun, deren Substanz in der Bewegung unvergänglich ist, werden evidentermaßen auch der Zahl nach dieselben sein (denn die Bewegung folgt dem Bewegten nach), während die, bei denen das nicht gilt, sondern sie vergänglich ist, notwendig der Form, der Zahl nach aber nicht wiederkehren. (II 11, 338b6-19).

Aussagen von Thomas Buchheim zur Schrift De generatione et corruptione

Buchheim (2011)
  • Kaum ein Werk des Aristoteles wird von der Forschung und vom allgemeinen philosophischen Interesse so links liegen gelassen wie die Schrift Über Werden und Vergehen. Freilich ist der Titel zumindest für das erste Hinsehen in gewisser Weise elektrisierend. Denn nur weniges dürfte alle Menschen im Leben mehr betreffen und mitnehmen als das Werden und Vergehen der Dinge. … Merkwürdigerweise gibt es trotzdem in der gesamten Denkgeschichte fast keine philosophischen oder wissenschaftlichen Theorien über diesen Sachverhalt, die uns zu erklären versuchen, wie das vor sich geht und was es damit auf sich habe. Aristoteles ist eine große Ausnahme ziemlich am Anfang aller wissenschaftlichen Entwicklung, doch ist er bis hin zu Whitehead und Bergson im 20. Jahrhundert die einzige mit objektivem Theorieanspruch und entsprechend durchdachter Ausarbeitung geblieben. Auch seither gibt es wenig Neues zum Thema. Dennoch ist Aristoteles’ hochinteressante Schrift und begriffliche Erschließung dieser Grundtatsache der Natur so gut wie unbekannt geblieben. Ein kleines Meisterstück naturphilosophischer Durchdringung harrt seiner modernen Wiederentdeckung (S. XI-XII).
  • Während also De caelo offenkundig, wie bei Aristoteles üblich, über gewisse Dinge und die damit verbundenen Vorkommnisse und Akzidentien handelt: nämlich das, was Schweres oder Leichtes ist, ist De generatione et corruptione die einzige Schrift des Aristoteles, die nicht in erster Linie über Dinge oder Seiendes und seine Akzidentien, sondern vielmehr über Vorgänge oder eine Art von Bewegungen handelt. … Man kann es kaum deutlich genug sagen: De generatione et corruptione handelt gar nicht von Dingen – und seien es auch die vier Elemente – sondern vielmehr ausschließlich von Vorgängen in der Natur, deren Begriffen oder Definitionen und deren Ursachen. Die vier Elemente kommen nur deshalb ins Spiel, weil sie eine der Ursachen (nämlich die Materialursachen) jener Vorgänge sind. Und die von Aristoteles vorgelegte Analyse, Unterscheidung und Definition der Vorgänge – des Werdens und Vergehens, der Veränderung und des Wachstums – ist das Eingehendste, philosophisch Durchdachteste und Gewinnbringendste, was bisher zu diesem Thema überhaupt je geschrieben wurde. Allenfalls Alfred North Whiteheads spätes und schwerverständliches Werk Process and Reality ist der Abhandlung des Aristoteles an die Seite zu stellen (S. XV- XVI).
  • Anders Aristoteles in Beziehung auf die uns zugängliche Natur: Statt irgendwelcher ewiger, dem Wechselgeschehen im All zugrundeliegender Substanzen existieren nur diejenigen, die aus einem Werden erst hervorgehen. Mit dieser These steht Aristoteles in der Philosophie und Wissenschaftsgeschichte praktisch allein. … Man kann buchstäblich suchen, wo man möchte, in der maßgeblicheren Philosophie und Naturwissenschaft der Neuzeit: bei Spinoza, Descartes, Leibniz, Kant – alle teilen die Auffassung, daß Substanzen nicht werden und vergehen, sondern höchstens geschaffen und ›annihiliert‹ (Leibniz) werden können – obwohl der Erfinder des Substanzbegriffs hier ganz anderer Meinung gewesen ist. Die Substanz ist für die genannten Geistesriesen der Neuzeit immer das Beharrende in allem Wechsel, … (S. XVII-XVIII).
  • Aus diesem Grund verwendet Aristoteles so viel Sorgfalt darauf, die Verschiedenheit von Werden und Veränderung zu betonen: In der Veränderung bleibt die Zugrundeliegende Substanz erhalten. Das Werden aber bringt Zugrundeliegendes hervor anstatt eines anderen. Und deshalb wird alles, was entsteht, aus dem »schlechthin Nichtseienden« (I 3, 317 b 2 – 5; 15 f.); während alles, was sich verändert, immer das schon Seiende mitschleppt. Damit ist der eigentliche Inhalt der Schrift Über Werden und Vergehen wenigstens dem Umriß nach erschöpfend angegeben (S. XIX).
  • In dem Moment also, wo das Werdende aus schlechthin Nichtseiendem werden soll (und nicht mehr aus einer in gewisser Hinsicht selbst seienden Materie), stellt sich das Problem, wie denn der Vorgang seinerseits dann noch wirklich sein könnte? … Die neue Lösung lautet, dass jegliches radikale Werden aus schlechthin Nichtseiendem in sich und zugleich ein Vergehen von anderem ist. Das schlechthinnige Werden reitet, so könnte man sagen, auf einem Vergehen. Der Vorgang des Vergehens aber kann wirklich stattfinden (S. XXIII-XXIV).
Buchheim (2010)
  • Denn Aristoteles ist sich, wie nur wenige andere Philosophen, des großen Unterschieds kIar bewußt, den es macht, von der Wirklichkeit und Beschaffenheit gewisser Dinge oder aber der von Vorgängen zu reden (S. 84).
  • Auch die moderne Naturwissenschaft hat, wohl aus ähnlichen Gründen, für diese Bedingung nicht nur unseres, sondern des Vorkommens aller materiellen Wesen kaum eine Sprache und wenig erklärende Begriffe entwickelt. Vielmehr beschreibt sie Veränderungen oder Verläufe stets in Beziehung auf etwas, das in seiner jeweiligen Art vorausgesetztermaßen gegeben ist und eben nicht hic et nunc radikal neu entsteht und auch nicht dann und dort wieder vollkommen ins Nichtsein vergeht. Man redet wissenschaftlich nur von dem Verhalten von Dingen, die es nun einmal gibt, und nicht davon, wie es kommt, daß diese Existenz zu einer gewissen Zeit eintritt und zu allen anderen nicht. Die Tatsache des je einzelnen Werdens und Wiedervergehens von etwas wird auf diese Weise fast notwendig aus dem Blick verloren. Selbst die Evolutionstheorie dehnt den Hervorgang des Neuen in so unabsehbare Zeiträume aus, daß über der hergestellten Kontinuität in der Reproduktion artgleicher Wesen, das Auftreten neuer Arten als eigentlich zu erklärendes Phänomen nahezu verschwindet. … Spätestens seit dem Beginn der Neuzeit leistete die nach Fundierung objektiver Erkenntnis strebende Philosophie einer derartigen Auslassung des Werdens und Vergehens in aller Wissenschaft mit Macht weiteren Vorschub. Prominent wie kaum ein anderer leugnete Spinoza rundweg jede Möglichkeit eines Entstehens von Substanz. …
    Eine sich selbst als „rational“ verstehende Metaphysik und Erkenntnistheorie hat seither die Entstehung von Substanzen auseinander, als ein reales Faktum der Natur, tendenziell ausgeschlossen (S. 87).
  • Aristoteles war demgegenüber der erste und bisher vielleicht einzige Philosoph, der auf minutiöse Weise gezeigt hat, wie beides zu verbinden ist: sowohl das Werden von etwas ausgehend von dessen völligem Nichtsein, als auch das schlechthin substantielle und selbständige Sein des Gewordenen (S. 90).
  • Das große Problem, das die Interpreten mit dem entsprechenden Schlußkapitel von GC seit Alexander immer hatten, war dies: Ob Aristoteles sich nicht selbst widerspreche, wenn er einerseits augenscheinlich die Existenz notwendig entstehender Dinge fordert, andererseits aber in der Durchführung der Argumentation am Ende zu bekunden scheint, daß alles, was aus einem anderen entsteht, wenn überhaupt, dann nur der Form nach wiederkehren könne, jedoch niemals als numerisch dasselbe Ding. „Rückkehr zu sich selbst“ aber ist klarerweise das von Aristoteles in dem Kapitel etablierte Kriterium der Notwendigkeit (S. 153).

WL I

Werden, das: 73 (16,5) Ergebnisse

Entstehen, das: 22 (5,0) Ergebnisse; entstehen: 20 (4,5) Ergebnisse

Vergehen, das:  29 (6,5) Ergebnisse, vergehen: 5 (1,1) Ergebnisse

  • Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe. Was die Wahrheit ist, ist weder das Sein noch das Nichts, sondern daß das Sein in Nichts und das Nichts in Sein – nicht übergeht, sondern übergegangen ist. Aber ebensosehr ist die Wahrheit nicht ihre Ununterschiedenheit, sondern daß sie nicht dasselbe, daß sie absolut unterschieden, aber ebenso ungetrennt und untrennbar sind und unmittelbar jedes in seinem Gegenteil verschwindet. Ihre Wahrheit ist also diese Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des einen in dem anderen: das Werden; eine Bewegung, worin beide unterschieden sind, aber durch einen Unterschied, der sich ebenso unmittelbar aufgelöst hat. (S. 83).
  • Der tiefsinnige Heraklit hob gegen jene einfache und einseitige Abstraktion den höheren totalen Begriff des Werdens hervor und sagte: das Sein ist sowenig als das Nichts, oder auch: Alles fließt, das heißt: Alles ist Werden. – Die populären, besonders orientalischen Sprüche, daß alles, was ist, den Keim seines Vergehens in seiner Geburt selbst habe, der Tod umgekehrt der Eingang in neues Leben sei, drücken im Grunde dieselbe Einigung des Seins und Nichts aus (S. 84).
  • Das Dritte aber, worin Sein und Nichts ihr Bestehen haben, muß auch hier vorkommen; und es ist auch hier vorgekommen; es ist das Werden. In ihm sind sie als Unterschiedene; Werden ist nur, insofern sie unterschieden sind. Dies Dritte ist ein Anderes als sie; – sie bestehen nur in einem Anderen, dies heißt gleichfalls, sie bestehen nicht für sich. Das Werden ist das Bestehen des Seins sosehr als des Nichtseins; oder ihr Bestehen ist nur ihr Sein in Einem; gerade dies ihr Bestehen ist es, was ihren Unterschied ebensosehr aufhebt (S. 95).
  • Übergehen ist dasselbe als Werden, nur daß in jenem die beiden, von deren einem zum anderen übergegangen wird, mehr als außereinander ruhend und das Übergehen als zwischen ihnen geschehend vorgestellt wird (S. 97).
  • Das Werden ist auf diese Weise in gedoppelter Bestimmung … Entstehen und Beide sind dasselbe, Werden, und auch als diese so unterschiedenen Richtungen durchdringen und paralysieren sie sich gegenseitig. Die eine ist Vergehen; Sein geht in Nichts über, aber Nichts ist ebensosehr das Gegenteil seiner selbst, Übergehen in Sein, Entstehen. Dies Entstehen ist die andere Richtung; Nichts geht in Sein über, aber Sein hebt ebensosehr sich selbst auf und ist vielmehr das Übergehen in Nichts, ist Vergehen. – Sie heben sich nicht gegenseitig, nicht das eine äußerlich das andere auf, sondern jedes hebt sich an sich selbst auf und ist an ihm selbst das Gegenteil seiner (S. 112).
  • Das Gleichgewicht, worein sich Entstehen und Vergehen setzen, ist zunächst das Werden selbst. Aber dieses geht ebenso in ruhige Einheit Sein und Nichts sind in ihm nur als Verschwindende; aber das Werden als solches ist nur durch die Unterschiedenheit derselben. Ihr Verschwinden ist daher das Verschwinden des Werdens oder Ver schwinden des Verschwindens selbst. Das Werden ist eine haltungslose Unruhe, die in ein ruhiges Resultat zusammensinkt. Dies könnte auch so ausgedrückt werden: Das Werden ist das Verschwinden von Sein in Nichts und von Nichts in Sein und das Verschwinden von Sein und Nichts überhaupt; aber es beruht zugleich auf dem Unterschiede derselben. Es widerspricht sich also in sich selbst, weil es solches in sich vereint, das sich entgegengesetzt ist; eine solche Vereinigung aber zerstört sich.
    Dies Resultat ist das Verschwundensein, aber nicht als Nichts; so wäre es nur ein Rückfall in die eine der schon aufgehobenen Bestimmungen, nicht Resultat des Nichts und des Seins. Es ist die zur ruhigen Einfachheit gewordene Einheit des Seins und Nichts. Die ruhige Einfachheit aber ist Sein, jedoch ebenso nicht mehr für sich, sondern als Bestimmung des Ganzen.
    Das Werden so [als] Übergehen in die Einheit des Seins und Nichts, welche als seiend ist oder die Gestalt der einseitigen unmittelbaren Einheit dieser Momente hat, ist das Dasein (S. 113).
  • Aus dem Werden geht das Dasein hervor. Das Dasein ist das einfache Einssein des Seins und Nichts. Es hat um dieser Einfachheit willen die Form von einem Unmittelbaren. Seine Vermittlung, das Werden, liegt hinter ihm; sie hat sich aufgehoben, und das Dasein erscheint daher als ein Erstes, von dem ausgegangen werde. Es ist zunächst in der einseitigen Bestimmung des Seins; die andere, die es enthält, das Nichts, wird sich gleichfalls an ihm hervortun, gegen jene.
    Es ist nicht bloßes Sein, sondern Dasein; etymologisch genommen: Sein an einem gewissen Orte; aber die Raumvorstellung gehört nicht hierher. Dasein ist, nach seinem Werden, überhaupt Sein mit einem Nichtsein, so daß dies Nichtsein in einfache Einheit mit dem Sein aufgenommen ist. Das Nichtsein so in das Sein aufgenommen, daß das konkrete Ganze in der Form des Seins, der Unmittelbarkeit ist, macht die Bestimmtheit als solche aus (S. 116).
  • Diese Vermittlung mit sich, die Etwas an sich ist, hat, nur als Negation der Negation genommen, keine konkreten Bestimmungen zu ihren Seiten; so fällt sie in die einfache Einheit zusammen, welche Sein Etwas ist und ist denn auch Daseiendes; es ist an sich ferner auch Werden, das aber nicht mehr nur Sein und Nichts zu seinen Momenten hat. Das eine derselben, das Sein, ist nun Dasein und weiter Daseiendes. Das zweite ist ebenso ein Daseiendes, aber als Negatives des Etwas bestimmt, – ein Anderes. Das Etwas als Werden ist ein Übergehen, dessen Momente selbst Etwas sind und das darum Veränderung ist; – ein bereits konkret gewordenes Werden. – Das Etwas aber verändert sich zunächst nur in seinem Begriffe; es ist noch nicht so als vermittelnd und vermittelt gesetzt; zunächst nur als sich in seiner Beziehung auf sich einfach erhaltend, und das Negative seiner als ein ebenso Qualitatives, nur ein Anderes überhaupt (s. 124).
  • Sein und Nichts in ihrer Einheit, welche Dasein ist, sind nicht mehr als Sein und Nichts, – dies sind sie nur außer ihrer Einheit; so in ihrer unruhigen Einheit, im Werden, sind sie Entstehen und Vergehen (S. 128).
  • Das Unendliche aber ist, wie seine beiden Momente, vielmehr wesentlich nur als Werden, aber das nun in seinen Momenten weiter bestimmte Dieses hat zunächst das abstrakte Sein und Nichts zu seinen Bestimmungen; als Veränderung Daseiende, Etwas und Anderes; nun als Unendliches, Endliches und Unendliches, selbst als Werdende (S. 164).

Auswertungen

Häufigkeiten

Tab.: Normierte Häufigkeiten der Wörter

Wort

HWPh

EPh

MLPh

Met. B/S[1]

Met. Ba.[2]

Phys.[3]

Gen. Corr.[4]

WL I

Werden

8,7

4,7

11,2

9,6

0,5

18,6

105,4

16,5

Entstehen

2,7

1,6

2,7

20,2

16,4

10,1

0

5,0

entstehen

11,1

10,5

10,2

16,9

27,3

5,0

6,8

4,5

Vergehen

3,1

1,5

2,7

12,7

4,1

7,0

47,3

6,5

vergehen

0,6

0,5

0,6

2,1

4,1

1,5

3,4

1,1

In den philosophischen Quellen tritt das Substantiv „Werden“ in den meisten Fällen selten (HWPh, EPh, Met. B/S) oder mit einer mittleren Häufigkeit auf (MLPh, Phys., WL I). Ausnahmen sind die Übersetzung der Metaphysik von Bassenge, in der es sehr selten und die Schrift „Werden und Vergehen“ von Aristoteles, der es entsprechend dem Thema sehr häufig auftritt. Eine zentrale Idee der Übersetzung von Bassenge ist die Vermeidung von im Alltag missverständlichen und den Ideen von Aristoteles nicht entsprechenden Wörtern. Er hat offensichtlich anstelle von „Werden“ das Wort „entstehen“ als Substantiv oder Verb benutzt.

Das Wort „vergehen“ tritt in den philosophischen Texten als Verb generell selten oder sehr selten auf und als Substantiv ebenfalls selten und nur in der Metaphysik von Bonitz und Seidel mit mittlerer Häufigkeit sowie in der Schrift „Werden und Vergehen“ von Aristoteles sehr häufig auf.

Auswertung der Lexika

In den drei gesichteten philosophischen Lexika spielen Betrachtungen zum Entstehen und Vergehen eine geringe Rolle. Das ist zum einen daran zu erkennen, dass die Wörter Werden, Entstehen und Vergehen selten, teilweise sogar sehr selten und nur in einem Fall mit mittlerer Häufigkeit auftreten. Weiterhin gibt es nur im Historischen Wörterbuch der Philosophie ein Stichwort zu Werden/Vergehen (Cürsgen 2007) und in Metzler Lexikon Philosophie einen kurzen Text zum Stichwort „Werden“ (Löffler 2008), während in der Enzyklopädie Philosophie kein Stichwort zu einem der Wörter vorhanden ist. Das steht im Widerspruch zur Auffassung einige Philosophen wie Nietzsche und Keyserling. Für Nietzsche „bildet das Werden den Grundcharakter von Welt und Wirklichkeit, der die ‘Dingeʼ ebenso wie den Menschen in seinem Tun und Schaffen prägt“ (Cürsgen 2007, Bd. 12, S. 543). Nach Keyserling „steht das Verhältnis von ‹Werden› und ‹Sein› im Zentrum der Philosophie; beide Begriffe umfassen jeweils die physikalischen (Kontinuität, Diskontinuität), mathematischen (Geometrie, Arithmetik) und erkenntnistheoretischen (Anschauung, Denken) Grundphänomene; das Verhältnis und die Einheit dieser Reihen bilden das Grundproblem der Philosophie“ (Cürsgen 2007, Bd. 12, S. 544). Auch nach Löffler (2008) ist „Werden ein Grundzug der Wirklichkeit, daher nicht im eigentlichen Sinn definierbar und stellt insbesondere in seinem Verhältnis zum Sein ein Zentralproblem der Metaphysik dar“ (Löffler 2008, S. 675).

Um die Vermutung zu überprüfen, ob in den Beiträgen zum „Sein“ Probleme zum Werden, Entstehen und Vergehen behandelt werden, habe ich die Häufigkeiten der Wörter Werden, Entstehen und Vergehen in den folgenden Beiträgen aus den Lexika ermittelt:

  • HWPh, Stichwort „Sein, Seiendes“, Autoren: Michael Frede, Theo Kobusch, Albert Zimmermann, Ulrich G. Leinsle, Rudolf Malter, Tobias Trappe, Gottfried Gabriel (58 S.)
  • EPh, Stichwort „Sein, Seiendes“, Autor: Detlev Pätzold (21 S.)

Wort

HWPh

EPh

 

abs.

norm.

abs.

norm.

Werden

4

6,9

3

14,3

Entstehen

0

0

2

9,5

Vergehen

0

0

1

4,8

Aus den Häufigkeiten ist bereits zu erkennen, was ein Studium der Texte bestätigt, dass Betrachtungen zum Werden/Entstehen und Vergehen in den sehr umfangreichen Beiträgen zu den Begriffen Sein und Seiendes nicht oder nur in Ansätzen enthalten sind. Wenn überhaupt, stehen sie im Zusammenhang mit Ausführungen zu Aristoteles und Hegel. Dies ist ein Zeichen für die Geringschätzung dynamischer Betrachtungen zum Seienden durch die betreffenden Autoren aber es ist auch ein Spiegelbild der Situation in der philosophischen Literatur; in dem Stichwort im HWPh sind 503 und in der EPh 105 unterschiedliche Literaturquellen aus allen Abschnitten der Geschichte der Philosophie enthalten. Insbesondere ist erkennbar, dass von Kant und in der heute dominierenden Analytischen Philosophie das Entstehen und Vergehen kaum thematisiert oder sogar abgelehnt wird.

Dies wird z. B. auch von Stekeler-Weithofer festgestellt. „Der gesamte Bereich der Aussagen über Prozesse und Bewegungen, die Analyse von Verben, bleibt bei Kant wie später auch in der Analytischen Philosophie nach Frege ausgeblendet. […] Denn eine Analyse weltbezogener empirischer Aussagen kann sich nicht bloß an zeitallgemeinen oder ewigen Sätzen wie denen der Mathematik […] orientieren oder gar an reinen Momentaufnahmen absolut präsentischer Aussagen. Man muss sich das Problem nur vor Augen führen, um zu sehen, was hier fehlt: die Analyse von ‚epochalen‘ d. h. eine gewisse eingeklammerte Zeit lang dauernden Prozessen sowie in ihrer Gegenwart im empirischen Fall eines Einzelprozesses, als auch in ihrer generischen Wiederholbarkeit […]. Es gilt sogar, wie Hegel erkennt […], dass eigentlich schon jedes Ding, insbesondere jedes Lebewesen, in seiner Existenz durch den Prozess seines Seins und deren Epoche oder Zeitdauer bestimmt ist: Die Einheit jedes Lebewesens ist durch sein Leben definiert. Die Einheit eines bloß physischen Dinges, etwa eines so großen wie der Sonne oder der Erde, ist auch nur in der Zeit des Bestehens zwischen ihrem Entstehen und Vergehen definiert“ (Stekeler-Weithofer 2014, S. 463).

Zu ähnlichen vernichtenden Aussagen kommt Thomas Buchheim im Zusammenhang mit seinen Arbeiten zur Schrift Über Werden und Vergehen von Aristoteles: „Kaum ein Werk des Aristoteles wird von der Forschung und vom allgemeinen philosophischen Interesse so links liegen gelassen wie die Schrift Über Werden und Vergehen. Freilich ist der Titel zumindest für das erste Hinsehen in gewisser Weise elektrisierend. Denn nur weniges dürfte alle Menschen im Leben mehr betreffen und mitnehmen als das Werden und Vergehen der Dinge. … Merkwürdigerweise gibt es trotzdem in der gesamten Denkgeschichte fast keine philosophischen oder wissenschaftlichen Theorien über diesen Sachverhalt, die uns zu erklären versuchen, wie das vor sich geht und was es damit auf sich habe. Aristoteles ist eine große Ausnahme ziemlich am Anfang aller wissenschaftlichen Entwicklung, doch ist er bis hin zu Whitehead und Bergson im 20. Jahrhundert die einzige mit objektivem Theorieanspruch und entsprechend durchdachter Ausarbeitung geblieben“ (Buchheim 2011, S. XI).

Auch für Karl-Friedrich Wesssel ist Werden und Vergehen die Daseinsweise von allem, was existiert. Dies ist für ihn vielleicht die wichtigste philosophische Aussage (Wessel 2015, S. 72). Er bezeichnet „den Prozess des Werdens und Vergehens von Gegenständen, Objekten und Erscheinungen der realen Welt, einschließlich der Ideen, Vorstellungen und sonstigen geistigen und psychologischen Erscheinungen“ als Entwicklung (Wessel 2015, S. 67).

Über die Darstellung der Auffassungen von Aristoteles und Hegel hinaus, auf die noch gesondert eingegangen wird, sind in den Lexika folgende Gedanken enthalten.

Der mittelalterliche Theologe und Philosoph Meister Eckhart hat dem Begriff „Werden“ eine neue Bedeutung gegeben, die er als zeitloses Werden bzw. als „Erzeugung“ bezeichnet. Darunter versteht er „ein Werden außerhalb von Zeit und Bewegung. Besonders im Zusammenhang des Themas der Gottesgeburt wird dieser neue Begriff des Werdens zur Geltung gebracht. Die Sohnesgeburt in der menschlichen Seele ist das Entstehen des neuen Menschen, das Sein des Fünkleins, ein «Werden ohne Werden»“ (Cürsgen 2007, S. 542). Diese Auffassungen vom Werden spielen in der heutigen Theologie offensichtlich keine Rolle mehr; im Stichwort „Werden und Vergehen“ des Lexikons für Theologie und Kirche wird darauf nicht eingegangen (Kasper 1993-2001, Bd. 10, S. 1093).

Kant, dessen Auffassungen bis heute erheblichen Einfluss in der Philosophie haben, ist der Meinung, dass nur „Veränderung an beharrlichen Substanzen wahrnehmbar [ist], nicht aber Entstehen und Vergehen schlechthin [KrV A 188/B 231] (Cürsgen 2007, S. 542). Bei der Fortpflanzung von Lebewesen ist der Vorgang des Entstehens eines neuen Lebens tatsächlich nur schwer wahrnehmbar. Das Vergehen eines Lebewesens, also sein Tod, ist aber durchaus durch sinnliche Wahrnehmung erfahrbar.

Für Nietzsche gibt es keine „ewige Tatsachen oder Wahrheiten (in Geschichte, Kunst, Moral oder Religion) …, weil alles geworden ist und weiterhin wird; der Mensch – mit seinem dem Werden nicht gewachsenen Intellekt – verfestigt den ständigen Fluß zu einem Sein, das nicht auf einen ersten Grund zurückgeführt werden darf, denn ‚dies erst ist die grosse Befreiung, – damit erst ist die Unschuld des Werden wieder hergestellt‘“ (Cürsgen 2007, S. 543). Die nihilistische Aussage der Nichtexistenz ewiger Wahrheiten ist nicht haltbar. Bezogen auf äußere Erscheinungen kann es durchaus den Anschein ständiger Veränderungen haben. Bei der Suche nach Gründen stößt man aber auf gesetzmäßige Zusammenhänge, die einen Anspruch auf ewige Wahrheit haben, auch wenn es sich in den meisten Fällen um Zusammenhänge mit stochastischem Charakter handelt.

In der auf Foucault zurückgehenden Biopolitik und der sich neu entwickelnden Technowissenschaft sind die Dimension des Werdens, die Kategorien des Möglichen und das Unvorhersehbare zentrale Momente im Gegensatz zur modernen Wissenschaftslogik, in deren Zentrum die Bewegungsgesetze der toten Materie und statischen Natur stehen (Weber 2010, 1381). Die Aussage von Weber zur Wissenschaftslogik lässt sich auch auf die wesentlichen Inhalte der Analytischen Philosophie übertragen, in der der dynamische Charakter des Existierenden nicht theoretisch erfasst wird.

Nach Löffler sind Umschreibungen für Werden „der in der Zeit stattfindende Übergang von einem Zustand, Sachverhalt etc. in einen anderen, insbesondere der Übergang vom Nichtsein eines Gegenstandes oder seiner Eigenschaften zum Sein; Entstehen; Entwicklung; Wechsel; Veränderung; Prozess; Geschehnis“ (Löffler 2008, S. 675). Das philosophische Problem des Werdens besteht nach Löffler „allgemein darin, in der dauernd erfahrenen Veränderung Strukturen und Zusammenhänge zu erkennen und denkerisch-sprachlich festzuhalten, da unser Erkenntnisstreben auf die Erkenntnis dessen geht, was der Fall ist; näherhin in dem Problem, wie im Verlauf des Werdens etwas sein kann, was vorher nicht war bzw. etwas nicht mehr sein kann, was vorher war, wie also Nichtseiendes in Seiendes übergehen kann bzw. umgekehrt, und ob in irgendeinem Augenblick des Werdens ein und derselbe Sachverhalt zugleich sein und nicht sein muss“ (Löffler 2008, S. 675). In dem Zitat wird zunächst auch der Begriff des Werdens auf beliebige Veränderungen ausgedehnt, dann wird aber mit der Formulierung, dass beim Werden Nichtseiendes zum Seienden übergeht, eine Einschränkung vorgenommen.

Auswertung von Schriften des Aristoteles

Wie bereits aus der Tabelle der normierten Häufigkeiten erkennbar ist, hat sich Aristoteles in seinen Schriften Metaphysik, Physikvorlesung und vor allem in Über Werden und Vergehen viel ausführlicher als es in den philosophischen Lexika der Fall ist mit Problemen des Entstehens und Vergehens beschäftigt. Dabei sind deutliche Unterschiede in der Verwendung des Wortes „Werden“ im Vergleich zu den Wörtern Entstehen und Vergehen zu erkennen. Während in der Metaphysik das Wort „Werden“ am seltensten von den drei verwendet wird, benutzt es Aristoteles in der Physikvorlesung und in Über Werden und Vergehen am häufigsten, wobei es im letzten Werk mit sehr großer Häufigkeit aufritt (105,4 Ergebnisse pro 100 Seiten). Während das Wort „Entstehen“ dagegen in der Metaphysik am häufigsten auftritt, kommt es in der Physikvorlesung nur halb so oft vor und in Werden und Vergehen gar nicht. Vergehen ist in der Metaphysik mit mittlerer Häufigkeit, in den Physikvorlesungen selten und in Über Werden und Vergehen sehr häufig anzutreffen.

Es ist allerdings fraglich, ob diese Unterschiede in der Verwendung der Wörter auf Aristoteles oder auch auf die Übersetzer zurückzuführen sind. Die Hypothese, dass Aristoteles im Laufe seiner Arbeiten zu einer anderen Art der Formulierung gekommen ist, wird dadurch gestützt, dass nach Buchheim die Schrift Über Werden und Vergehen „allem Dafürhalten nach einer recht späten Phase seines Schaffens zugeordnet werden muss“ (Buchheim 2010, S. 111).

Obwohl sich Aristoteles bereits in der Metaphysik und der Physikvorlesung an vielen Stellen mit Problemen des Entstehens und Vergehens beschäftigt hat, hat er offensichtlich in seinem Werk Über Werden und Vergehen bei manchen Aspekten eine neue Qualität der Betrachtung erreicht. Dies wird insbesondere von dem Übersetzer und Kommentator der Schrift Thomas Buchheim hervorgehoben. „De generatione et corruptione [ist] die einzige Schrift des Aristoteles, die nicht in erster Linie über Dinge oder Seiendes und seine Akzidentien, sondern vielmehr über Vorgänge oder eine Art von Bewegungen handelt. … Man kann es kaum deutlich genug sagen: De generatione et corruptione handelt gar nicht von Dingen – und seien es auch die vier Elemente – sondern vielmehr ausschließlich von Vorgängen in der Natur, deren Begriffen oder Definitionen und deren Ursachen“ (Buchheim 2011, S. XV). „Denn Aristoteles ist sich, wie nur wenige andere Philosophen, des großen Unterschieds kIar bewußt, den es macht, von der Wirklichkeit und Beschaffenheit gewisser Dinge oder aber der von Vorgängen zu reden“ (Buchheim 2010, S. 84). Nach Auffassung von Buchheim ist „die von Aristoteles vorgelegte Analyse, Unterscheidung und Definition der Vorgänge – des Werdens und Vergehens, der Veränderung und des Wachstums – … das Eingehendste, philosophisch Durchdachteste und Gewinnbringendste, was bisher zu diesem Thema überhaupt je geschrieben wurde. Allenfalls Alfred North Whiteheads spätes und schwerverständliches Werk Process and Reality ist der Abhandlung des Aristoteles an die Seite zu stellen (Buchheim 2011, XV-SVI). Umso erstaunlicher ist es, dass diese Schrift „so gut wie unbekannt geblieben [ist]. Ein kleines Meisterstück naturphilosophischer Durchdringung harrt seiner modernen Wiederentdeckung“. (Buchheim 2011, S. XI).

Im Folgenden sollen Ergebnisse von Aristoteles genannt als auch Probleme diskutiert werden, die in den drei Schriften enthalten sind.

Werden/Entstehen und Vergehen als untrennbarer Gegensatz

In den drei analysierten Schriften betrachtet Aristoteles an vielen Stellen das Werden bzw. Entstehen und das Vergehen von Seiendem in enger Verbindung, wie z. B. in folgendem Zitat: „Die Veränderung nun aus einem Nicht-Zugrundeliegenden in ein Zugrundeliegendes nach einem kontradiktorischen Gegensatze ist das Entstehen, und zwar, wo sie schlechthin stattfindet, Entstehen schlechthin, wo sie Veränderung von etwas Bestimmtem ist, bestimmtes Entstehen. Die Veränderung dagegen aus einem Zugrundeliegenden in ein Nicht-Zugrundeliegendes ist das Vergehen, und zwar, wo sie schlechthin stattfindet, Vergehen schlechthin, wo sie Veränderung von etwas Bestimmtem ist, bestimmtes Vergehen“ (Met. XI 11, 1067b21-24). Man kann sagen, dass Aristoteles die Formulierung „Entstehen und Vergehen“ bzw. „Werden und Vergehen“ quasi als Mehrwortausdruck verwendet. Er diskutiert beide Vorgänge, insbesondere in Gen. Corr. meist im Zusammenhang, wenn auch der Schwerpunkt auf dem Werden bzw. Entstehen liegt. Beide Vorgänge sind invers zueinander, wie er mehrfach hervorhebt.

Zum Entstehen und Vergehen von Begriffen und anderen mentalen Objekten

Aristoteles ist der Meinung, dass Begriffe nicht entstehen und vergehen können. „…, so kommt bei den konkreten Dingen ein Vergehen vor, weil auch Entstehen stattfindet; bei dem Begriff aber kann kein Vergehen stattfinden, weil auch kein Entstehen (denn nicht das Haus-sein entsteht, sondern die Existenz dieses bestimmten Hauses), sondern ohne Entstehen und Vergehen sind die Begriffe und sind nicht; denn daß niemand sie erzeugt oder hervorbringt, ist erwiesen“ (Met. VII 15, 1039b21-29).

Zur Erörterung der Problematik muss zunächst zwischen Begriffen imS. und Begriffen inmS. unterschieden werden (vgl. https://philosophie-neu.de/neue-analysen-zu-wort-terminus-und-begriff/). Begriffe imS. entstehen im Kopf eines Menschen durch Lernvorgänge, zum Beispiel bei Kindern und Jugendlichen, oder im Ergebnis von Erkenntnisvorgängen zu noch nicht erkannten Objekten. Sie vergehen durch Vergessen oder mit dem Tod des Menschen. Begriffe inmS. in Form von Texten entstehen durch Entäußerung von Begriffen imS. Sie können also nur Vergehen, wenn die Texte, die sie enthalten, vergehen.

Aristoteles grenzt auch an anderer Stelle in der Metaphysik generell mentale Objekte von Vorgängen des Entstehens und Vergehens aus: „Denn nur der uns umgebende Raum der Sinneswelt befindet sich in beständigem Vergehen und Entstehen“ (Met. IV 5, 1010a27-30)

Zur Existenz von Objekten, die weder entstehen noch vergehen

Als Beispiel für Objekte, die weder entstehen noch vergehen können, gibt Aristoteles Punkte, Linien und Flächen in der Geometrie an. So betrachtet er zwei geometrische Figuren, die sich in einem Punkt berühren. Dieser eine Berührungspunkt gehört zu beiden Figuren, d. h. vor der Berührung waren es zwei Punkte und nach der Berührung sind es wieder zwei (Met. III 5, 1002a28-1002b11). Punkte und Linien sind als Bestandteil einer axiomatischen Geometrie mentale Objekte, die nicht in der Realität existieren. Deshalb können die Überlegungen zum Entstehen und Vergehen realer Objekte nicht angewendet werden. Wenn zwei reale Objekte sich berühren, sind auch an der Berührungsstelle die Objekte getrennt. Wenn Sie an der Berührungsstelle miteinander verschmelzen (zum Beispiel durch einen Schweißvorgang) handelt es sich um das Entstehen eines neuen Objektes an der Stelle. Dies gilt etwa auch für zwei sich berührende, mit einem Zirkel gezeichnete Kreise. Ein Punkt als mentales geometrisches Objekt entsteht durch Überlegungen eines Menschen, etwa beim Lösen geometrischer Probleme. Nach dem Abschluss der Überlegungen ist der mentale Punkt nicht mehr im Arbeitsgedächtnis des Menschen vorhanden.

Ein weiteres Beispiel ist für Aristoteles die Zeit. „Ähnlich verhält es sich auch mit dem Jetzt in der Zeit; denn auch dies kann ebensowenig entstehen und vergehen und scheint doch immer ein anderes zu sein, so daß es also nicht Wesenheit ist“ (Met. III 5, 1002b4-8). Auf das philosophische Problem der Zeit soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Wie bei vielen Problemen lässt sich durch meine Bestimmungen der Begriffe Merkmal und Eigenschaft auch in diesem Fall ein neuer Zugang gewinnen.

Ausgangszustand, Vorgang der Entstehung und Endzustand beim Entstehen

Aristoteles hat sich in Met. VII 6, 1032a15-28 zu Vorgängen der Entstehung geäußert wobei er sich offensichtlich nach den verwendeten Beispielen (Pflanzen, Lebewesen, Mensch) auf Vorgänge in der belebten Natur bezieht. Er unterscheidet dasjenige, woraus etwas wird, wodurch es wird und was es wird, also den Ausgangszustand, den Vorgang und Endzustand beim Entstehen. Das Entstandene bezeichnet er, entsprechend der Übersetzung „im strengsten Sinne als Wesen“. Dies enthält den Gedanken, dass es sich beim Entstehen im Endergebnis um ein Objekt mit einem neuen Wesen handeln muss. Bezogen auf Ausgangszustand und Endzustand stellt er fest, dass es sich in beiden Fällen um einen Stoff handelt. Als Beispiel formuliert er den berühmten, der christlichen Schöpfungsgeschichte widersprechenden Satz „Denn ein Mensch erzeugt einen Menschen.“ Das Beispiel bezieht sich auf die Frage, wodurch etwas wird, „nämlich das als formgebend bezeichnete, gleichartige Wesen; dieses aber ist in einem anderen.“ Bezogen auf das Beispiel bedeutet dies, dass ein Mensch durch einen anderen Menschen entsteht. Das ist zwar biologisch nicht korrekt, da zum Entstehen eines Menschen immer zwei weitere benötigt werden, aber es sind insgesamt folgende Grundideen erkennbar: Alles, was vergeht und entsteht besteht aus einem Stoff. Die Quelle des Entstehens liegt außerhalb des neu Entstandenen.

In der Phys. hat Aristoteles diesen Gedanken ebenfalls dargestellt und dabei noch weitere Gedanken berührt: „Auch wird Mensch aus Mensch, aber nicht Liege aus Liege. Eben deshalb wird ja behauptet, nicht der Umriss sei die Natur, sondern das Holz; denn wenn es sprießen würde, dann entstünde nicht Liege, sondern Holz. Wenn dieses demnach Natur ist, dann auch die Gestalt. Denn aus Mensch wird Mensch. Ferner: Soweit von der Natur als Entstehen gesprochen wird, handelt es sich um einen Weg in die Natur. Es ist hier nämlich nicht so wie bei der Verarztung: Verarztung heißt nicht der Weg in die ärztliche Kunst, sondern der Weg in die Gesundheit. Denn Verarztung ist zwangsläufig [ein Weg] von der ärztlichen Kunst in etwas anderes als die ärztliche Kunst. Aber die Natur [nämlich: die Natur als Entstehen oder Aufkeimen] verhält sich nicht so zur Natur. Sondern was aufkeimt, kommt, indem es aufkeimt, aus etwas in etwas hinein“ (Phys. II 1, 193b11-17). Aristoteles unterscheidet hier zum einen am Beispiel des Keimens einer Pflanze „einen Weg in die Natur“, also einer neuen Substanz, „aus etwas in etwas hinein“ und die Veränderung von Eigenschaften eines Existierenden am Beispiel des Gesundwerdens eines kranken Menschen. Er tangiert weiterhin das Verhältnis von Inhalt (Holz, Natur) und Form (Umriss, Gestalt).

Das Problem des Entstehens einer neuen Substanz

Bereits in der Metaphysik und der Physikvorlesung hat Aristoteles vereinzelt den Gedanken geäußert, dass Entstehen eines Neuen auf dem Vergehen eines anderen beruht. In Met. sagt er bei der Diskussion seines oft verwendeten Beispiels der Änderung des Aggregatszustandes von Wasser: „Wie aus Wasser Luft, damit meinen wir das Entstehen durch den Untergang des andern“ (Met. II 2, 994a31). In Phys. betrachtet er das Aufhören des Entstehens bei Begrenztheit des Alls und kommt zu folgendem Ergebnis: „Damit das Entstehen nicht aufhört, muss es keinen im Sinne des Verwirklichtseins unbegrenzten wahrnehmbaren Körper geben. Denn wenn das All begrenzt ist, kann das Vergehen des einen das Entstehen des anderen sein“ (Phys. III 8, 208a8-10). Dahinter steht der Gedanke, das fortlaufendes Entstehen nicht zur Unbegrenztheit führen muss, wenn mit dem Entstehen des einen gleichzeitig das Vergehen eines anderen verbunden ist.

Neben diesem Ansatz entwickelt Aristoteles bei seinen Überlegungen zur Bewegung in der Physikvorlesung zur Erklärung des Entstehens den Gedanken einer Unterscheidung von potentiellem Vermögen und realisiertem Zustand. „In der jeweiligen Gattung [des Seienden] sei unterschieden zwischen ›im Vollendungszustand‹ und ›potentiell‹. Dann ist der Vollendungszustand des Potentiellen [d. h. dessen, was potentiell soundso ist] als solchen Bewegung“. Als Beispiele führt an. „Wenn das Verbaubare, als dasjenige, das wir so bezeichnen, im Vollendungszustand ist, dann wird es verbaut, und das ist Hausbau; ebenso Verarztung, Reifung, Alterung, sowie beim Lernen, Wälzen und Springen“ (Phys. III 1, 201a10-18).

In Gen. Corr. hat er diesen Gedanken erneut aufgegriffen und als ein „erstaunliches Problem“ erkannt. „Was aber auch mit diesen Unterscheidungen ein erstaunliches Problem bereitet, ist erneut aufzugreifen: wie schlichtes Werden denn existiert – sei es, daß es aus einem der Möglichkeit nach Seienden existiere, oder sei es auch irgendwie anders?“ (Gen. Corr. I 3, 317b18-21). Er löst dieses Problem in folgender genialen Weise: „Ist es also aus dem Grunde, weil das Vergehen des einen das Werden des anderen ist und das Werden des einen das Vergehen des anderen, daß der Wandel notwendigerweise unaufhörlich ist?“ (Gen. Corr. I 3, 318a24-26). Das heißt also: „Der Weg also zum Nichtseienden schlechthin ist schlichtes Vergehen, der Weg aber zum schlechthin Seienden ist schlichtes Werden. Wo also dieser Unterschied gemacht wird, sei es beim Feuer und der Erde oder irgendwelchen anderen Dingen, da ist das eine ein Seiendes, das andere aber ein Nichtseiendes“ (Gen. Corr. I 3, 318b9-12).

Mit diesem grundsätzlichen Gedanken steht nach Buchheim „Aristoteles in der Philosophie und Wissenschaftsgeschichte praktisch allein. …  Man kann buchstäblich suchen, wo man möchte, in der maßgeblicheren Philosophie und Naturwissenschaft der Neuzeit: bei Spinoza, Descartes, Leibniz, Kant – alle teilen die Auffassung, daß Substanzen nicht werden und vergehen, sondern höchstens geschaffen und ›annihiliert‹ (Leibniz) werden können – obwohl der Erfinder des Substanzbegriffs hier ganz anderer Meinung gewesen ist. Die Substanz ist für die genannten Geistesriesen der Neuzeit immer das Beharrende in allem Wechsel, … (Buchheim 2011, S. XVII-XVIII). „Eine sich selbst als „rational“ verstehende Metaphysik und Erkenntnistheorie hat seither die Entstehung von Substanzen auseinander, als ein reales Faktum der Natur, tendenziell ausgeschlossen“ (Buchheim 2010, S. 87).

Dieser Gedanke von Aristoteles hat mich veranlasst mein Axiomensystem zum Existierenden um zwei Punkte zu erweitern: mit dem Entstehen eines Existierenden vergeht zugleich ein anderes Existierendes und mit dem Vergehen eines Existierenden entsteht zugleich ein neues Existierendes.

Beziehungen von Werden, Vergehen, Wandlung, Veränderung und Wachstum sowie Entstehen und Vergehen von Eigenschaften

Zu den Beziehungen der fünf Begriffe und zu dem Problem des Entstehens und Vergehens von Eigenschaften hat sich Aristoteles in der Metaphysik und der Physikvorlesung an mehreren Stellen geäußert, wobei die Aussagen teilweise widersprüchlich sind.

In den folgenden Beispielen geht es um das Entstehen oder Vergehen von Eigenschaften eines Existierenden:

  • „Der Lernende ist ein werdender Gelehrter, und das meinen wir, wenn wir sagen, daß aus dem Lernenden ein Gelehrter werde“ (Met. II 2, 994a29-31).
  • In der Physikvorlesung betrachtet er das Beispiel, dass ein Mensch „musisch“ wurde, also seine musikalischen Fähigkeiten entwickelt hat. Er bezeichnet dieses Werden als zusammengesetzt, denn es „bleibt das Werdende beim Werden teils bestehen, teils bleibt es nicht bestehen. Denn der Mensch bleibt und ist Mensch, während er musisch wird“ (Phys. I 7, 190a10-11).

Andererseits bringt er aber auch an mehreren Stellen zum Ausdruck, dass Eigenschaften nicht entstehen oder vergehen können: „Denn das Akzidentelle zeigt sich als dem Nichtseienden nahe verwandt. Das ergibt sich auch aus Erörterungen folgender Art: Bei dem nämlich, was in anderem Sinne ist, findet Entstehen und Vergehen statt, bei dem akzidentellen Sein aber nicht“ (Met. VI 2, 1026b22-24). Das Akzidentelle ist bei Aristoteles eine mögliche Eigenschaft (vgl. https://philosophie-neu.de/momente-des-begriffs-eigenschaft-bei-aristoteles/).

Die Beziehungen der fünf Begriffe, die Aristoteles beim Schreiben der Physikvorlesung im Kopf hatte, können aus dem folgenden Zitat entnommen werden: „Dass aber auch die Substanzen und [das heißt], was im schlichten Sinne ist, aus etwas Zugrundeliegendem werden, dürfte bei näherer Betrachtung offensichtlich werden. Denn immer gibt es etwas, das zugrunde liegt und aus dem das [im schlichten Sinne] Werdende [hervorgeht], z. B. die Pflanzen und die Tiere aus Samen. Was im schlichten Sinne wird, wird teils durch Umformung, z. B. eine [bronzene] Statue, teils durch Zugabe, z. B. was dabei größer wird, teils durch Wegnahme, z. B. die Herme aus einem Stein, teils durch Zusammensetzung, z. B. ein Haus, teils durch Veränderung, z. B. wenn ein stofflicher Umschlag stattfindet“ (Phys. I 7, 190b1-8). Zunächst ist erkennbar, dass er an dieser Stelle das Werden immer aus einem Zugrundeliegenden annimmt. Werden ist für ihn in diesem Zitat der Oberbegriff. Spezielle Formen des Werdens sind die Umformung (Änderung der Form), das Wachstum (Zugabe oder Wegnahme) und Veränderung. An anderer Stelle zählt er auch das Entstehen und Vergehen sowie den Ortswechsel zu den Formen des Werdens (Phys. III 1, 201a10-18).

In Gen. Corr. hat er, sicher auch als eine Konsequenz aus seinen neuen Gedanken zum Entstehen die Beziehungen der fünf Begriffe in anderer Form gesehen und damit im Zusammenhang auch das Verändern von Eigenschaften nicht mehr als Entstehen und Vergehen gezählt.

In der Übersetzung von Buchheim (2011) zu Über Werden und Vergehen treten die Wörter und ihre Wortformen mit folgenden absoluten Häufigkeiten auf:

Wörter

Werden

Vergehen, vergehen

Wandlung, Wandel, wandeln

Veränderung, verändern

Wachstum, wachsen

Anzahl

156

75

48

48

36

Im Aristoteles Handbuch (Rapp und Corcilius 2021) tritt das Wort Wandlung nicht auf, sondern es wird nur von Veränderung gesprochen: „Aristoteles unterscheidet vier Arten von Veränderung (Phys. III 1, 201a3–9; III 1 201a11–15; Met. VIII 1, 1042a32–1042b3; XII 2, 1069b9–13): (1) qualitative Veränderung (alloiôsis), (2) quantitative Veränderung (Wachstum und Schwinden, auxêsis/phthisis), (3) Ortsveränderung bzw. Ortsbewegung (phora oder kinêsis kata topon), welche der modernen Bedeutung des Wortes ›Bewegung‹ entspricht, und (4) Entstehen und Vergehen, auch ›substantielle Veränderung‹ (genesis/ phthora, kinêsis kat’ ousian) genannt. Bei all diesen vier Arten handelt es sich um Veränderungen/Bewegungen, da sie alle im Sinne der Definition der Bewegung definierbar sind (Rapp und Corcilius 2021, S. 438). Dies könnte die Abhängigkeit wörtlicher Interpretationen von dem jeweiligen Übersetzer zeigen oder die Nichtberücksichtigung der Übersetzung von Buchheim im Handbuch.

Die Relationen und Bedeutungen der Wörter in Gen. Corr. in der Übersetzung von Buchheim sind aus folgenden Zitaten erkennbar:

  • Was Werden und Veränderung betrifft, können wir (nunmehr) definieren, worin ihr Unterschied besteht; denn unsere Behauptung ist, dass diese Wandlungen voneinander verschieden sind. Nachdem nun etwas das Zugrundeliegende ist und anderes die Beschaffenheit, die naturgemäß von dem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, und nachdem die Wandlung eines von diesen beiden betreffen kann, handelt es sich um Veränderung, wenn bei Permanenz des Zugrundeliegenden als ein wahrnehmbares Ding ein Wandel in seinen Beschaffenheiten vor sich geht: entweder in die gegensätzlichen oder in eine dazwischen, wie zum Beispiel der Körper gesund und wiederum krank wird, während er doch als derselbe weiter besteht, und das Erz rund, bald aber auch eckig wird, während es doch dasselbe ist (Gen. Corr. I 4, 319b6-15).
  • Wenn aber etwas als ein Ganzes sich wandelt ohne Fortbestehen irgendeines Wahrnehmbaren als dasselbe Zugrundeliegende – sondern zum Beispiel aus dem Keim insgesamt Blut oder aus Wasser Luft oder aus Luft zur Gänze Wasser wird – dann ist so etwas bereits ein Werden, vom anderen hingegen Vergehen, … (Gen. Corr. I 4, 319b15-18)
  • Wenn nun der Wandel im Sinne quantitativer Gegensätzlichkeit erfolgt, handelt es sich um Wachsen und Schwinden, wenn in Bewegung auf den Ort, um Fortbewegung, wenn in der Beschaffenheit und Qualität, um Veränderung, wenn hingegen nichts weiter besteht von das andere eine Beschaffenheit oder überhaupt Akzidenz ist, dann um Werden bzw. Vergehen (Gen. Corr. I 4 319b31-320a2).

Nach diesen Zitaten ist der Oberbegriff die Wandlung bzw. der Wandel. Werden, Vergehen, Veränderung und Wachstum sind spezielle Wandlungen. Die Unterschiede zwischen diesen Wandlungen ergeben sich aus ihren Bezügen zu dem „Zugrundeliegenden“ und der „Beschaffenheit“ eines Zugrundeliegenden. Zugrundeliegendes einer Sache ist nach dem Aristoteles-Handbuch „in den grundlegenden Fällen die Materie dieser Sache“ (Rapp und Corcilius 2021, S. 365). Bei Buchheim (2011; 2010) findet sich keine Erklärung. Für Zugrundeliegendes verwendet Aristoteles auch die Begriffe Stoff oder Material. Daraus ergibt sich, dass die Überlegungen von Aristoteles zur Wandlung und damit auch zum Entstehen und Vergehen sich nur auf nichtmentale Objekte beziehen. Das hat er bereits in der Metaphysik zum Ausdruck gebracht: „Denn nur der uns umgebende Raum der Sinneswelt befindet sich in beständigem Vergehen und Entstehen“ (Met. IV 5, 1010a27-30).

Zum Wort „Beschaffenheit“ gibt es weder im Aristoteles-Handbuch noch bei Buchheim erläuternde Bemerkungen. Beschaffenheit ist ein juristischer Begriff, der im BGB wie folgt definiert ist: „Die Beschaffenheit einer Sache umfasst physische Eigenschaften der Sache und ihre tatsächlichen, wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Beziehungen zur Umwelt, sofern sie nach der Verkehrsanschauung für die Brauchbarkeit oder den Wert der Sache bedeutsam sind.“ (§ 434 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB). Anstelle von Beschaffenheit spricht Aristoteles auch von Form oder Akzidentien als möglichen Eigenschaften. Beschaffenheiten eines Objektes sind also gleichbedeutend mit Eigenschaften des Objektes. Auch die in der juristischen Definition von Beschaffenheit erwähnten Beziehungen zur Umwelt sind Eigenschaften einer Sache.

Nach Aristoteles handelt es sich um eine Veränderung, wenn sich nur die Beschaffenheit, aber nicht das Zugrundeliegende ändert. Werden bedeutet, dass es eine Wandlung ohne Fortbestehen eines bisherigen Zugrundeliegenden gibt und Vergehen umgekehrt, dass das bisherige Zugrundeliegende nicht fortbesteht. Wachsen und Schwinden ist ein gegensätzlicher quantitativer Wandel.

Damit bezeichnet Aristoteles die alleinige Veränderung von Eigenschaften nicht als Werden und Vergehen. Diese Einschränkung des Begriffsumfangs ist natürlich möglich, da Begriffsfestlegungen auch einen arbiträren Charakter haben, zumal wenn diese wie bei Aristoteles sich noch nicht in der Wissenschaft manifestiert haben. Zu diskutieren ist lediglich, ob diese Einschränkung sinnvoll und eine Erweiterung durchaus möglich ist.

Dazu sollen Beispiele von Aristoteles betrachtet werden. Im vierten Kapitel von Gen. Corr. erläutert Aristoteles den Unterschied von Veränderung und Werden am Beispiel des Wandels von einem ungebildeten zu einem gebildeten Menschen. „… der gebildete Mensch ist vergangen, der ungebildete Mensch entstanden, doch der Mensch besteht als dasselbe weiter. Wenn nun nicht an sich die Bildung bzw. Unbildung Beschaffenheit von ihm wäre, so wurde es sich um ein Werden der letzteren und Vergehen der ersteren handeln. Daher sind sie Beschaffenheiten vom Menschen, während Werden und Vergehen vom Menschen als gebildet und vom Menschen als ungebildet galten. Nun ist dies aber Beschaffenheit des Weiterbestehenden; und folglich ist derlei doch Veränderung“ (Gen. Corr I 4, 319b25-31). Zunächst ist zu bemerken, dass Aristoteles bei der Angabe dieses Beispiels, das er öfter verwendet, die Adjektive „gebildet“ und „ungebildet“ zu Beginn vertauscht hat, sodass es heißen müsste „der ungebildete Mensch ist vergangen, der gebildete Mensch entstanden“. Da es sich nach Aristoteles um eine Veränderung, aber kein Werden handelt, dürfte die Formulierung „aus dem ungebildeten Menschen ist eingebildeter geworden“ nicht verwendet werden. Dies ist aber in der Alltagssprache durchaus üblich und verständlich.

Im gleichen Kapitel nennt er als Beispiel für einen Wandel der Beschaffenheit bei gleichbleibendem Zugrundeliegenden, dass „ein Körper gesund und wiederum krank wird“. Nun spricht man aber durchaus vom Entstehen und Vergehen einer Krankheit. Krankwerden ist eine Veränderung der Ausprägungen des Merkmals „Gesundheitszustand“. Eine Betrachtung zu der Erkrankung beinhaltet die Untersuchung von Symptomen und möglichen Ursachen. Es wird also auch das Vergangene, die Eigenschaften des Gesundheitszustandes vor der Erkrankung, sowie auch das Überwinden der Erkrankung und die Entstehung neuer Ausprägungen des Gesundheitszustandes in den Blick genommen. 

Ähnlich verhält es sich mit dem Beispiel zum Wandel, dass „das Erz rund, bald aber auch eckig wird, während es doch dasselbe ist“. Wenn Erz bzw. Metall verarbeitet wird, ändert sich seine Form. Durch das Entstehen dieser neuen Form vergeht die alte Form. mit dem Vergehen der neuen Form, etwa durch Umarbeiten, Einschmelzen oder Zerstörung entsteht eine neue Form. Es wird damit sowohl die bisherige Form des Materials und damit auch seine Herkunft und Entstehung in den Blick genommen, als auch im Sinne der Nachhaltigkeit die weitere Verwendung des entstandenen Objektes.

Auch im folgenden Beispiel ist es sinnvoll, dass Entstehen auch auf Änderung einer Eigenschaft zu beziehen. „Denn auf diese Weise ist es möglich, Feuer zu machen zu vorhandenem hinzu, indem man Holz dazulegt. So ist es aber Wachstum, während, wenn die Hölzer selbst angezündet wurden, Werden“ (Gen. Corr. I 5, 322a14-16). Wenn man zu einem brennenden Feuer Holz dazulegt, dann entsteht eine größere Flamme. Es vergeht der Zustand einer kleinen oder geringeren Flamme.

Endlichkeit des Wechsels von Entstehen und Vergehen, geradliniger oder kreisförmige Verlauf des Werdens

Aristoteles hat in der Metaphysik die Meinung geäußert, dass jede Bewegung die durch Entstehen und Vergehen bestimmt ist, eine Grenze haben muss, da jede Bewegung ein Ziel hat (Met. III 4, 999b10-12). Das bedeutet, dass die Bewegung des Entstehens und Vergehens beendet ist, sobald das Ziel der Bewegung erreicht ist.

Am Ende seiner Schrift Über Werden und Vergehen erörtert Aristoteles erneut die Frage der Begrenztheit des Werdens. Er nähert sich diesmal der Frage aus der Sicht der Notwendigkeit von Veränderungen. Wenn eine Veränderung aus Notwendigkeit erfolgt und umgekehrt das Vorherige eine notwendige Bedingung für die Veränderung ist, so gibt es sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft einen unendlichen Regress. Musterbeispiel ist für ihn an dieser Stelle der Wechsel der Jahreszeiten und die Bewegung der Sonne. Dieser astronomische Hintergrund ist möglicherweise Ausgangspunkt seiner Idee, dass in einem solchen Fall das Werden nicht geradlinig, sondern im Kreis verläuft. „Wenn folglich das Werden von irgendetwas schlechthin aus Notwendigkeit ist, dann muss es im Kreis laufen und zurückkehren. Denn notwendig hat das Werden entweder eine Grenze oder nicht, und wenn nicht, entweder in gerader Linie oder im Kreis. Von diesen Dingen aber kann es, wenn es doch ewig der Fall sein soll, nicht geradlinig sein, weil es sonst niemals ein Prinzip gäbe (weder nach unten, für die als „künftig“ genommenen Dinge, noch nach oben, für die als „vergangenen“) (Gen. Corr. II 11, 338a4-9). „Folglich liegt in der Bewegung und dem Werden im Kreis das „aus Notwendigkeit schlechthin“; und wenn es im Kreis geht, ist es notwendig, dass jedes wird und geworden ist, und wenn diese Notwendigkeit besteht, geht ihr Werden im Kreis.
Das ist durchaus einleuchtend – nachdem sich ohnehin die Bewegung im Kreis und d. h. die des Himmels als ewig herausgestellt hat –, dass dasjenige aus Notwendigkeit zustande kommt und sein wird, was an Bewegungen zu ihr gehörig und weiterhin durch sie (verursacht) ist. (II 11, 338a15-b1).

Anschließend wirft er dann eine grundlegende Frage auf, die jegliches Werden betrifft. „Warum also verhalten sich die einen Dinge augenscheinlich so, wie zum Beispiel Wasser und Luft im Kreislauf werdende sind: …, während die Menschen und Tiere nicht wieder zu sich selbst zurückkehren, sodass erneut dasselbe entstünde? Denn es ist nicht notwendig, wenn der Vater geworden ist, dass du wirst, sondern nur: wenn du, jener; so scheint dieses Werden vielmehr geradlinig zu sein“ (Gen. Corr. II 11, 338b6-11). Er äußert dann abschließend die Vermutung, dass „manches der Zahl nach, anderes hingegen nur der Form nach“ wiederkehrt (Gen. Corr. II 11, 338b14).

Der Gedanke einer kreisförmigen oder weiterführend eher spiralförmigen Entwicklung ist eine fundamentale Idee, deren Grundlage offensichtlich bei Aristoteles zu suchen ist. Sie ergibt sich folgerichtig aus seinem mehrstufigen Ansatz des Werdens: „Vergehen, Entstehen, Vergehen und erneutes Entstehen“, bei dem man am Ende wieder an den Anfang zurückkehrt und sich von selbst die Frage der Unbegrenztheit ergibt. Das Modell eines kreisförmigen Verlaufs enthält die unendliche Fortsetzung bei räumlicher Beschränkung.

Um dieses Modell auch auf die Entwicklung des menschlichen Lebens anzuwenden, sind weitere Überlegungen erforderlich. Aristoteles hat recht, dass nicht jeder Mann mit Notwendigkeit ein Kind zeugt. Wenn auch im Ausnahmefall eine einzelne Abstammungslinie unterbrochen werden kann, reproduziert sich aber fortwährend die Menschheit als Ganzes. Etwa alle 30 Jahre entsteht eine neue Generation. Der Gedanke eines Kreislaufes betrifft aber nicht nur die Menschheit, sondern auch solche zentralen Probleme, wie der Ernährungs-, Stoff- oder Energiekreislauf. Damit sind grundlegende Probleme der Nachhaltigkeit des menschlichen Lebens verbunden.

Auswertung von Schriften Hegels

In der WL I hat Hegel das Wort „Werden“ mit mittlerer Häufigkeit sowie Entstehen und Vergehen nur selten verwendet. Das Werden betrachtet er meist im Zusammenhang mit dem Sein und dem Nichts. So spricht er davon, dass das Werden „die Wahrheit des reinen Seins und des reinen Nichts die Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des einen in dem anderen“ ist (S. 83), dass das Werden das Dritte ist, „worin Sein und Nichts ihr Bestehen haben“ (S. 95), dass Sein und Nichts im Werden „nur als Verschwindende“ sind; „aber das Werden als ist solches ist nur durch die Unterschiedenheit derselben“ (Seite 113).

Er stellt fest, dass der Spruch von Heraklit „Alles fließt“ bedeutet: „Alles ist Werden“ und das Übergehen dasselbe ist wie Werden. Nur sehr selten unterscheidet er Werden von seinen Formen Entstehen und Vergehen: „Das Werden ist auf diese Weise in gedoppelter Bestimmung … Entstehen und Vergehen. Beide sind dasselbe, Werden, und auch als diese so unterschiedenen Richtungen durchdringen und paralysieren sie sich gegenseitig. Die eine ist Vergehen; Sein geht in Nichts über, aber Nichts ist ebensosehr das Gegenteil seiner selbst, Übergehen in Sein, Entstehen. Dies Entstehen ist die andere Richtung; Nichts geht in Sein über, aber Sein hebt ebensosehr sich selbst auf und ist vielmehr das Übergehen in Nichts, ist Vergehen. – Sie heben sich nicht gegenseitig, nicht das eine äußerlich das andere auf, sondern jedes hebt sich an sich selbst auf und ist an ihm selbst das Gegenteil seiner. Das Gleichgewicht, worein sich Entstehen und Vergehen setzen, ist zunächst das Werden selbst. Aber dieses geht ebenso in ruhige Einheit zusammen. (S. 112-113). Hegel spricht davon, dass aus dem Werden das Dasein hervorgeht (S. 116), ohne dies weiter auf Entstehen und Vergehen aufzuschlüsseln. Auch bei weiteren Betrachtungen spricht er generell nur vom Werden.

Schlussfolgerungen

Aristoteles hat mit seiner Schrift über Werden und Vergehen zahlreiche neue Gedanken entwickelt, die im Grundsatz, wenn auch in modifizierter Form weitergeführt werden sollten. Ein entscheidender Gedanke ist für mich, dass mit dem Entstehen eines Existierenden immer auch das Vergehen eines anderen Existierenden verbunden ist und mit dem Vergehen des Existierenden ein anderes Existierendes entsteht.

Ein weiterer Gedanke von großer Tragweite ist die Feststellung von Aristoteles, dass das Werden nicht linear, sondern kreisförmig erfolgt. Dies führt auf hochaktuelle Themen wie Stoff- und Energiekreisläufe oder Probleme der Nachhaltigkeit. Eine philosophische Bearbeitung dieser Problematik halte ich für erforderlich. Sie ist mit Fragen der Elementsystem Beziehungen und dem Verhältnis von Notwendigkeit und Kontingenz verbunden, kann aber hier nicht geleistet werden.

Eine Modifizierung der Auffassung und Begriffsbildungen von Aristoteles halte ich in folgenden Fragen für sinnvoll:

Der Begriff des Zugrundeliegenden bei Aristoteles, also dem Stoff oder Material aus dem ein Existierendes besteht, kann in folgender Weise in mein Begriffssystem werden. Aus einem Material oder Stoff zu bestehen ist ein Merkmal eines Existierenden. Existierende können dieses Merkmal besitzen, wie alle Gegenstände und Lebewesen der Realität, oder nicht besitzen, wie alle mentalen Objekte. Merkmalsausprägungen sind bei anorganischen Objekten z. B. Holz, Stein oder Bronze und bei organischen Objekten z. B. die Zellen oder Knochen. Damit wird der Begriff des Zugrundeliegenden nicht benötigt.

Die Einschränkung von Aristoteles, Entstehen und Vergehen nicht auf Veränderung von Eigenschaften zu beziehen, kann aufgehoben werden. Eine Diskussion, was unter Werden und Vergehen aus inhaltlicher Sicht zu verstehen ist, ist bei der Anwendung der axiomatischen Methode nicht erforderlich. Die Wörter sind bei mir axiomatisch ohne Inhalt festgelegt und können in geeigneter Weise interpretiert werden. Auch die Veränderung von Eigenschaften eines Objektes können als Interpretation des Axiomensystems aufgefasst werden. Zum Begriff der Veränderung vgl. https://philosophie-neu.de/analysen-zu-den-wortern-verandern-und-veranderung/.

Der Gedanke von Aristoteles, die Änderung von Zugrundeliegenden (in seinem Sinne) und Beschaffenheit zu unterscheiden, kann in folgender Weise umgesetzt werden. Es kann unterschieden werden, ob ein entstandenes Existierendes im Vergleich zu dem oder den vergangenen Existierenden neue Merkmale hat, oder ob es sich nur um die Änderung der Ausprägungen vorhandener Merkmale, also der Beschaffenheit handelt. Die Art des Entstehens, bei der das Entstandene neue Merkmale hat, kann als Wandlung bezeichnet werden. Das Verb „wandeln“ hat nach dem DWDS die Bedeutung „sich im Wesen ändern, wesentlich anders werden, in einen neuen, anderen Zustand übergehen“ und Wandlung die Bedeutung „das Anderswerden, die wesentliche Änderung“.

Mit dieser Bezeichnung ergibt sich folgendes System von Begriffen, ohne auf die Explikationen näher einzugehen. Grundbegriffe sind das Entstehen und Vergehen. Es werden zwei Arten unterschieden, die Wandlung, also die Entstehung neuer Merkmale, und die alleinige Veränderung von Eigenschaften, wobei es auch Mischformen gibt. Das Wachstum ist eine spezielle Form der Veränderung von Eigenschaften, bei der es um quantitative Änderungen geht.

Weiterhin kann die Beschränkung von Aristoteles auf das Entstehen und Vergehen von nichtmentalen Objekten aufgehoben werden. Auch mentale Objekte wie Gedanken, Gefühle und Gedächtnisinhalte können entstehen und vergehen.

Die Begriffe sollen an folgenden Beispielen erläutert werden.

  • Wenn aus einer Eizelle und einer Samenzelle durch Befruchtung ein neuer Mensch entsteht, so hat das Entstandene eine große Anzahl von neuen Merkmalen wie Geschlecht, Wahrnehmungsfähigkeit oder sprachliche und geistige Fähigkeiten. Es liegt also eine Wandlung vor.
  • Wenn aus einem Stück Bronze eine Statue ansteht, so hat die Statue neue Merkmale wie künstlerischer Ausdruck und künstlerischer Wert, während bisherige Merkmale wie Masse und Volumen erhalten geblieben sind. Es kann sich auch die Ausprägung des Merkmals „Oberflächenbeschaffenheit“ verändert haben. Es handelt sich um eine Wandlung und gleichzeitige Veränderung.
  • Wenn sich bei einem Menschen durch eine Ausbildung ein neues Bildungsniveau entstanden ist, so haben sich die Ausprägungen des Merkmals „Bildungsstand“ verändert, ohne dass neue Merkmale hinzugekommen sind. Es liegt also eine reine Veränderung vor.

Hegel hat in der WL I keinen Beitrag zur Weiterentwicklung der vielen von Aristoteles aufgeworfenen Probleme geleistet. Die generellen Aussagen von Stekeler-Weithofer und Buchheim zur Geringschätzung dynamischer Betrachtungen treffen auch auf Hegel zu.

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[1] Metaphysik in der Übersetzung von Bonitz/Seidel (Aristoteles 1995)

[2] Metaphysik in der Übersetzung von Bassenge 1990.

[3] in der Besetzung von Heinemann 2021.

[4] in der Besetzung von Buchheim 2010.