Analysen der Wörter Gegenteil, Komplementarität, Dichotomie und Polarität

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Vorbemerkungen

Es werden geeignete Termini gesucht, um Relationen des Gegensatzes zwischen zwei mentalen oder nichtmentalen Objekten bzw. innerhalb eines solchen Objektes bezeichnen. Dazu werden Bedeutungen folgender Wörter in der Philosophie und der Alltagssprache untersucht: Gegenteil, Komplementarität, Dichotomie und Polarität.

Zu Ermittlung der Bedeutungen der Wörter im Alltag und der Häufigkeit ihrer Verwendung wird das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (www.dwds.de/) verwendet (DWDS).

Um die Bedeutungen der Wörter in der Philosophie zu analysieren, werden in allen Fällen die folgenden Wörterbücher und Enzyklopädien verwendet. Sie liegen auch in elektronischer Form vor, wodurch eine Suche nach den Wörtern im gesamten Text möglich ist. Neben einer Bestimmung der Frequenz der einzelnen Wörter erfolgt aber im Wesentlichen eine Beschränkung auf den Inhalt der entsprechenden Stichwörter.

  1. Ritter u. a. (2007): Historisches Wörterbuch der Philosophie, 17.144 Sp. (8.572 S.) (HWPh)
  2. Prechtl und Burkard (2008): Metzler Lexikon Philosophie, 705 S. (MLPh)
  3. Sandkühler (2010): Enzyklopädie Philosophie, 3.209 S. (EPh)

Es werden in einigen Fällen weitere Literaturquellen hinzugezogen, insbesondere die folgenden linguistischen Fachpublikationen:

  • Glück und Rödel (2016): Metzler Lexikon Sprache (MLS)
  • Meibauer u. a. (2015): Einführung in die germanistische Linguistik (EgL)

Weitere Informationen zu den Wortanalysen und Auswahlkriterien sind auf der Seite „Zu den Wortanalysen und Auswahlkriterien“ enthalten.

Gegenteil

Literaturanalysen

DWDS

Frequenz: 53,9

Kollokationen:  verkehren (9.6, 2336), bewirken (8.2, 1212), beweisen (7.8, 1963), umschlagen (7.5, 525), genau (7.5, 2570), behaupten (7.3, 1396), Beweis (7.0, 742), glatt (6.6, 304), Fall (6.3, 2201), überzeugen (6.2, 607)

Bedeutungen:

Person, Sache, die den Gegensatz zu einer anderen Person, Sache ausdrückt, ihr entgegengesetzt ist

Bsp.: das Gegenteil von „schwarz“ ist „weiß“, das Gegenteil von „alt“ ist „jung“, er ist das genaue Gegenteil von ihr

Wiktionary

etwas, das der Bedeutung oder Beschaffenheit von etwas anderem vollkommen entgegengesetzt ist

Wiki

Das Gegenteil einer Sache oder einer Eigenschaft ist umgangssprachlich meistens eine Sache oder eine Eigenschaft, die von der erstgenannten eine Art Spiegelung in einem gedachten Mittelpunkt darstellt.

So wäre also umgangssprachlich das Gegenteil von groß klein, weil groß und klein gefühlt gleich weit weg sind vom gedachten Mittelpunkt „normal groß“. Das Gegenteil von winzig wäre allerdings riesig, da der gefühlte Abstand von winzig zu normal groß als größer empfunden wird, als dies bei dem einfachen „klein“ der Fall wäre.

HWPh

398 (4,6) Ergebnisse, davon 81 (0,9) „im Gegenteil“

Es gibt das Stichwort „Gegenteil“ (Autor: A. Menne), das folgende Aussagen enthält:

  • Gegenteil eines Begriffes A heißt ein Begriff, der sich zu A ausschließend, widersprechend oder widerstreitend verhält;
  • Gegenteil einer Aussage p heißt eine Aussage q, wenn zwischen beiden die Exklusion p/q (s.d.) oder die Kontravalenz p  q  (p >-< q) besteht oder wenn p und q in Widerstreit stehen. Bd. 3, S. 136

Weitere Zitate

  • Im vierten Buch der Metaphysik entwickelt Aristoteles anläßlich der Einführung des Begriffes Dynamis eine Fassung von möglich, die vorab zu nennen ist: «Möglich» ist alles das, dessen «Gegenteil nicht notwendig falsch ist» Bd. 1, S. 135
  • Für SCHOPENHAUER ist die Anarchie ein wilder, tierhafter Naturzustand, das Gegenteil der gesetzlichen Ordnung. Bd. 1, S. 276
  • Auch bei CHR. WOLFF ist kontingent dasjenige, dessen Gegenteil keinen Widerspruch einschließt, und kontingent seiend das, dessen Existenz keinen hinreichenden Grund in seiner Wesenheit hat, sondern in einem anderen. Bd. 4, S. 1032
  • Besondere Probleme wirft der Masochismus auf, bei dem ein Leiden keinen Leiden erzeugt, sondern eher das Gegenteil: Lust bzw. ein suchtartiges Sichhingezogenfühlen zum Leiden. Bd. 5, S. 214
  • In der Sphäre des realen Seins gilt das «Spaltungsgesetz der (Real-)Möglichkeit», dem zufolge das kontradiktorische Gegenteil dessen, was real möglich ist, real nicht möglich ist [14], so daß sich das real Mögliche (im Sinne eines «Megarischen» Möglichkeitsbegriffs [15]) als das zugleich real Notwendige mit dem real Wirklichen deckt. Bd. 6, S. 4
  • Tarde hat seine Theorie später dadurch ergänzt, daß er neben der universellen Tendenz zur Nachahmung eine ebenso universelle Tendenz zur Gegen-Nachahmung angenommen hat, also dazu, genau das Gegenteil von dem zu tun und zu sagen, was man andere tun sieht und sagen hört Bd. 6, S. 324
  • Für das Quantitative ist zudem charakteristisch, daß es kein konträres Gegenteil hat, daß es kein Mehr und Weniger zuläßt und daß es gleich und ungleich genannt wird Bd. 7, S. 1793
  • Auch in Deutschland wird Sensualismus als philosophischer Fachbegriff übernommen, vornehmlich, um mit ihm das Gegenteil einer rein spekulativen Philosophie zu bezeichnen. Bd. 9, S. 616
  • Indem das kontradiktorische Gegenteil der Konklusion mit der ersten Prämisse verknüpft wird, erhält man unter Zuhilfenahme von Barbara das kontradiktorische Gegenteil der zweiten Prämisse. Bd. 10, S. 692
  • ARISTOTELES definiert tarsos, das «Gegenteil der Furcht», im philosophischen Diskurs über die Affekte als «mit Vorstellungen naher Rettung verbundene Hoffnung» Bd. 12, S. 1470

MLPh

22 (3,1) Ergebnisse

  • Nach dem Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten (Bivalenz) ist ein Satz p genau dann wahr, wenn sein kontradiktorisches Gegenteil non-p falsch ist. S. 36
  • Bei der dialektischen Aufhebung wird z.B. eine Kategorie durch Bezug auf ihr Gegenteil (ihre Negation) in ihrer universalen Gültigkeit negiert. S. 49
  • Die Tatsachenwahrheiten sind zufällig und ihr Gegenteil kann ohne Widerspruch gedacht werden. S. 152
  • Dieses Begehren kann ein natürliches instinkthaftes Gefallen an, eine Vorliebe für etwas (und die Verachtung seines Gegenteils) sein oder ein »natürliches Verlangen nach Wissen « (Aristoteles). S. 677
  • Zufällig, im reinen Sinne der Kategorie, ist das, dessen kontradiktorisches Gegenteil möglich ist. S. 702

EPh

122 (3,8) Ergebnisse, davon 100 (3,1) „im Gegenteil“

  • In dieser Dialektik von Ding und Eigenschaft geht das Ding selbst zugrunde. Es erweist sich als »das Gegenteil seiner selbst« und hebt sich damit auf. Das Bewusstsein dagegen »tritt hier erst wahrhaft in das Reich des Verstandes ein. S. 431
  • Auch die 1944 entstandene Dialektik der Aufklärung von M. Horkheimer und Th. W. Adorno ist der Marxschen Erkenntnistheorie verpflichtet, insofern sie angesichts von Faschismus und Stalinismus die prinzipielle Verletzlichkeit aller Erkenntnistheorien und die Möglichkeit ihres Umschlagens in ihr Gegenteil schonungslos sichtbar zu machen versucht. S. 488
  • Auch die Versuche, den Idealismus neu zu begründen, sind – so ist man überzeugt – gescheitert: Der Idealismus sei nur das schiere Gegenteil des Materialismus; S. 595
  • Entsprechend vielfältig sind die Definitionen des Friedens: Er wird entweder negativ als das Gegenteil oder als die Abwesenheit des Krieges, des Kampfs, des Streits oder der Gewalt bzw. als die Abwesenheit der Störung einer Ordnung bestimmt, oder positiv als Ruhe der Ordnung, als Tugend, als Sicherheit oder als Eintracht. S. 749b
  • Absolut gewiss ist das, dessen Gegenteil oder Nichtsein als unmöglich (widerspruchsvoll) festgestellt ist. S. 910
  • Erkenntnis ist das Ergebnis von Konstruktionsverfahren, die das genaue Gegenteil zur Spontaneität als Kennzeichen der Intuition darstellen: S. 1166b

Auswertungen und Schlussfolgerungen zur Verwendung des Terminus

„Gegenteil“ in der Alltagssprache

Das Wort „Gegenteil“ wird in der Alltagssprache häufig verwendet, häufiger etwa als die Wörter Gegensatz oder Einheit.

Das Wort Gegenteil hat teilweise einen operationalen Charakter, wie die Kollokationen mit „verkehren“ (ins Gegenteil verkehren) und „umschlagen“ (ins Gegenteil umschlagen) zeigen. Obwohl sich „Gegenteil“ immer auf etwas anderes bezieht, steht im Unterschied zum Wort „Gegensatz“ nicht ein Paar von Objekten im Zentrum der Bedeutung, sondern eines der beiden Objekte (das Gegenteil).

„Gegenteil“ bezieht sich auf Personen, Sachen oder Eigenschaften und wird eng mit etwas „Entgegengesetztem“ verbunden. Das Entgegengesetzte ist aber im Allgemeinen nicht die Negation des ursprünglichen, zumal es von Personen keine Negation gibt. Es erfolgt in den Bedeutungserklärungen kein Bezug auf Begriffe oder Aussagen. Die Art der Entgegensetzung ist meist unbestimmt.

Wie die Beispiele aus dem DWDS und aus Wikipedia zeigen, bezieht sich „Gegenteil“ häufig auf einen konträren Gegensatz.

Die Probleme in der umgangssprachlichen Verwendung des Wortes Gegenteil zeigen sich besonders deutlich im Stochastikunterricht, wenn es im Zusammenhang mit dem Fachbegriff Gegenereignis um die Negation von Anzahlaussagen geht. So stellte Motzer (2003) beim Lösen entsprechender Aufgaben und Befragungen von Studierenden sowie Schülerinnen und Schülern obere Klassen unter anderem folgendes fest.

  • Es sollte das Gegenteil von folgender Aussage gebildet werden: „In einer Klasse mit 20 Kindern mögen mindestens zehn Kinder Mathe.“ Die richtige Antwort lautet: „In einer Klasse mit 20 Kindern mögen höchstens neun Kinder Mathe.“ Eine häufig auftretende falsche Antwort lautete: „In der Klasse mögen höchstens zehn Kinder Mathe nicht.“ Diese Antwort entspricht aber genau der Aussage, zu der das Gegenteil gebildet werden sollte. Wenn in der Klasse zehn Kinder oder mehr Mathe mögen, so gibt es zehn Kinder oder auch weniger, die Mathe nicht mögen. Die Aussage stellt also nur eine andere Sichtweise auf den gleichen Sachverhalt dar.
  • Bei der Aufgabe, das Gegenteil der Aussage „Alle mögen Mathe.“ zu bilden, war eine häufige Antwort: „Keiner mag Mathe.“ Es wurden damit zwei konträre Aussagen als das Gegenteil voneinander bezeichnet. Die Negation der Aussage lautet: „Es gibt mindestens ein Kind das Mathe nicht mag.“
  • In einer Befragung von Schülerinnen und Schülern einer zwölften Klasse sollten diese an einem selbst gewählten Beispiel erläutern, was sie unter einem Ereignis, einem Gegenereignis und einem Gegenteil verstehen. Dabei gab es unter anderem folgende Antworten:
    • Als Gegenteil vom Kaufen einer Packung Eier, die alle unbeschädigt sind, gab ein Schüler an: „Wir kaufen uns 1 kg Tomaten.“ Er erläutert dies mit den Worten: „Ich denke, dass das Gegenereignis im direkten Bezug zum Ereignis steht und dass das Gegenteil ein anderes Ereignis schildert.“
    • Als Gegenteil vom Stattfinden einer Hochzeit gab eine Schülerin an, dass nie eine Hochzeit stattfindet.
    • Viele sahen im ,,Gegenteil“ starke Gegensätze wie ,,schwarz – weiß“, ,,oben – unten“.
    • Das Gegenteil war nur für viele ein konkretes Ergebnis, während sich das Gegenereignis auf eine Menge von Ergebnissen bezieht. Eine Schülerin formulierte es so: „Gegenereignis ist ein größerer Raum an Ereignissen. Gegenteil ist ein Ergebnis, das Gegenteil des wahren Ergebnisses.“

Die Befragungsergebnisse zeigen unter anderem, dass mit dem Gegenteil eine andere Sicht auf den gleichen Sachverhalt, ein Umkehren von Handlungen, eine Negation von Tatsachen oder ein konkretes Ereignis verbunden wird.

Insgesamt zeigt sich, dass in der Alltagssprache das Wort „Gegenteil“ mit vielen unterschiedlichen Vorstellungen verbunden ist und auch zu fehlerhaften Aussagen führen kann.

„Gegenteil“ in der Philosophie

In allen drei philosophischen Lexika tritt das Wort „Gegenteil“ mit fast der gleichen Häufigkeit sehr selten auf.

Nur in einem der Lexika gibt es das Stichwort „Gegenteil“, in dem in sehr knapper Weise das Gegenteil von Begriffen und Aussagen erklärt wird. Dabei werden die Wörter ausschließend, widersprechend, widerstreitend und Widerstreit verwendet, auf deren Bedeutung nicht eingegangen wird. Bei Aussagen kann es sich nach dieser Erklärung um eine Exklusion (konträrer Gegensatz) oder eine Kontravalenz (kontradiktorischer Gegensatz) handeln.

Bei den weiteren Ergebnissen fällt auf, dass in zwei Lexika häufig die Wortverbindung „im Gegenteil“ verwendet wird, in der Enzyklopädie Philosophie sogar fast ausschließlich. Mit dieser Wortverbindung wird etwas Gegenteiliges zu einer meist komplexen Sache oder einem Sachverhalt bezeichnet, ohne dass die Art des Gegenteiligen näher bestimmt ist. Dies entspricht der alltagssprachlichen Verwendung des Wortes.

Das Wort „Gegenteil“ wird sowohl im Sinne eines kontradiktorischen als auch konträren Gegensatzes verwendet. In einigen Fällen wird diese Bedeutung durch die entsprechenden Adjektive explizit zum Ausdruck gebracht.

Bei Ausführung im Zusammenhang mit Fragen der Logik wird das Wort „Gegenteil“ im Sinne von Negation bzw. der Kontradiktion von Begriffen oder Aussagen verwendet. In den meisten anderen Fällen bezieht sich das Wort „Gegenteil“ auf komplexe Sachverhalte wie gesetzliche Ordnung, Leiden, Nachahmung, spekulative Philosophie, Furcht, Begehren, Erkenntnistheorie, Materialismus, Krieg oder Spontaneität.

Aufgrund des seltenen Auftretens in philosophischen Texten, fehlender Explikationen und unterschiedlicher Verwendungen kann das Wort „Gegenteil“ nicht als ein philosophischer Terminus bezeichnet werden. Dagegen sprechen auch die aufgeführten Probleme seiner alltagssprachlichen Verwendung.

Komplementarität, komplementär

Literaturanalysen

DWDS

Komplementarität

Frequenz: 0,05

Kollokationen:  Begriff (1.4, 16), Prinzip (1.2, 13)

Bedeutungen: bildungssprachlich: wechselseitige Entsprechung, Ergänzung

komplementär

Frequenz: 0,63

Kollokationen:  DNS-Strang (7.8, 12), Beziehungssystem (7.7, 11), Raumvision (7.1, 7), Basenpaarung (7.1, 7), Bausteinfolge (6.8, 6)

Bedeutungen: ergänzend, Bsp.: komplementäre Farben

Wiktionary

Komplementarität: das sich Ergänzen von verschiedenen Dingen oder Aspekten

komplementär: jemanden oder etwas ergänzend

Wiki

Stichwort „Komplementarität“, Version vom 12. November 2020

  • Komplementarität ist ein Begriff der Erkenntnistheorie für zwei (scheinbar) widersprüchliche, einander ausschließende, nicht aufeinander reduzierbare Beschreibungsweisen oder Versuchsanordnungen, die aber in ihrer wechselseitigen Ergänzung zum Verständnis eines Phänomens oder Sachverhaltes im Ganzen notwendig sind. Diesen Begriff hatte der Physiker Niels Bohr als Komplementaritätsprinzip in die Quantenphysik eingeführt und anschließend auf viele Gebiete übertragen. Deshalb wurde der Begriff vieldeutig und bezeichnet häufig nur noch ein grundsätzliches „Sowohl-als-auch“.
  • Als Beispiel aus der Quantenmechanik dient vielfach der Sachverhalt, dass eine gleichzeitige Bestimmung von Wellen- und Teilchencharakter des Lichts nicht möglich ist, sondern je nach Versuchsanordnung die eine oder die andere Eigenschaft hervortritt. Wellen- und Teilcheneigenschaften können durch zwei verschiedene, komplementäre Beobachtungssätze (komplementäre Observablen, Welle-Teilchen-Dualismus) beschrieben werden.
  • Von Anfang an, bereits in der Diskussion zwischen den theoretischen Physikern, vor allem Werner Heisenberg, Albert Einstein, Wolfgang Pauli, Carl Friedrich von Weizsäcker, ergaben sich beträchtliche Verständigungsschwierigkeiten hinsichtlich Bohrs Auffassungen, und seitdem hat das Komplementaritätsprinzip zahlreiche unterschiedliche Interpretationen gefunden
  • Eine wissenschaftstheoretisch fundierte Definition (Explikation) des Komplementaritätsprinzips wurde erst im Jahr 1963 von Hugo Bedau und Max Oppenheim versucht, nachdem sie sich mit einer Reihe bekannter Physiker und Wissenschaftstheoretiker abgestimmt hatten.
    Aus: Hugo Bedau and Paul Oppenheim: Complementarity in quantum mechanics: A logical analysis. Synthese, vol. 13 (1961), S. 201-232
    • „Der Zweck dieser Arbeit ist es, eine präzise Explikation des Konzepts der Komplementarität in der Quantenmechanik (kurz QM) zu geben, wie es von Niels Bohr eingeführt und bekannt gemacht wurde. Einstein hat einmal darauf hingewiesen, dass es für diesen Begriff keine adäquate Definition gibt, und das gilt auch heute noch.“ S. 201
    • „Angenommen, dass in der QM die Phänomensätze komplementär sind, haben wir gesehen, dass sie (a) Beobachtungen beschreiben, die durch Bezugnahme auf sich gegenseitig ausschließende Versuchsanordnungen wohldefiniert sind, (b) sich auf kokausale Objekte beziehen, (c) erschöpfend sind, (d) in klassischer Sprache ausgedrückt werden und (e) durch koreferenzielle Interpretationen interpretiert werden, die (f) in einer quasi-klassischen Sprache sind. Somit sind zwei Phänomensätze nur dann komplementär, wenn sie (a) – (f) erfüllen. Keine von (a) – (f) ist jedoch eine unabhängige Bedingung für die Komplementarität.“ S. 224
    • „Was die Anwendung von Komplementarität in anderen Bereichen als QM betrifft, so verwendet unseres Wissens nach niemand eine Verallgemeinerung (oder auch nur ein sehr genaues Analogon) des Konzepts der Komplementarität im QM. Beispielsweise halten Autoren die Beseitigung einer paradoxen Situation – ohne die die Notwendigkeit von Komplementarität im QM einfach nicht besteht – normalerweise nicht wie wir für eine Bedingung für die Einführung von Komplementarität. Somit sind alle uns bekannten Beispiele für Komplementarität außerhalb des QM bestenfalls Beispiele für Nichtkompatibilität. Aber Nichtkompatibilität, so wichtig sie ist, reicht für Komplementarität im QM oder anderswo nicht aus.“ S. 225
  • Das Komplementaritätsprinzip wurde, dem Vorbild Bohrs folgend, in verschiedene Wissenschaftsbereiche übernommen. Kritisch kann eingewendet werden, dass die Verallgemeinerung des ursprünglichen Begriffs auf andere Gegensätze im Sinne eines vagen Sowohl-als-auch kaum mehr als eine Metapher liefert. Der Ausdruck Komplementarität sei im Grunde überflüssig oder decke Widersprüche nur zu. Nicht jedes Paar von Gegensätzen, jedes Dilemma oder jede Dualität könne als komplementäre Beziehung bezeichnet werden. (nach Fahrenberg: Zur Kategorienlehre der Psychologie. Komplementaritätsprinzip. Perspektiven und Perspektiven-Wechsel, 2013, S. 318–321 S. 357–361.)
    Solche Übertragungen weichen von wichtigen Definitionsmerkmalen des Komplementaritätsprinzips in der Quantenmechanik ab. In der Regel sind keine physikalisch formulierten Beobachtungssätze aus experimentellen Versuchsanordnungen gegeben. Die verwendeten Methoden sind nur selten genau definiert, und die Fragen, ob sie sich wechselseitig ausschließen oder nicht gleichzeitig anzuwenden sind, bleiben offen. Unterscheiden sich die verwendeten (beiden) Methoden grundsätzlich und gehören sie vielleicht in kategorial grundverschiedene Bezugssysteme? Der bestehende Unterschied oder Widerspruch ist selten in einer sich strikt ausschließenden Form formuliert, also nicht paradox. Es geht nicht mehr um unvereinbare, experimentell nebeneinander bestehende Beobachtungssätze, sondern um Interpretationssätze (Siehe Komplementaritätsprinzip) oder sogar nur um einfache Kombinationen von Methoden bzw. Ansichten oder um Wechselwirkungen.

Stichwort „Begriffsbeziehungen“ (Version vom 19. Juni 2019)

  • Komplementäre Begriffe (Komplement, Komplementarität): Zwei sich ausschließende Begriffe A und B sind komplementär (es besteht die Beziehung des Komplements, eine Komplementär-Relation), wenn die Extension von A die Komplementmenge der Extension von B ist, d. h. der gesamte (Diskussions-)Bereich fällt entweder unter den Begriff A oder B.

HWPh

Komplementarität: 44 (0,5) Ergebnisse, komplementär: 145 (1,7) Ergebnisse

Es gibt das Stichwort „Komplementarität“ (Autor: M. Meyer-Abich), das u. a. folgende Gedanken enthält (Bd. 4, S. 933 ff.):

  • Der Begriff ‹Komplementarität› stammt von N. BOHR (1927) und ist von ihm ursprünglich zum Verständnis der in der Quantentheorie aufgetretenen Schwierigkeiten in die Philosophie eingeführt worden. … Der Sache nach handelt es sich jedoch von Anfang an keineswegs um einen physikalischen Begriff, sondern Bohr sah in jenen Schwierigkeiten vielmehr «eine lehrreiche Erinnerung an die allgemeinen Bedingungen der menschlichen Begriffsbildungen», so wie sie z.B. auch aus der Psychologie bekannt sind, «wo wir stets an die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt erinnert werden»
  • ‹Komplementarität› heißt die Zusammengehörigkeit verschiedener Möglichkeiten, dasselbe Objekt als verschiedenes zu erfahren. Komplementäre Erkenntnisse gehören zusammen, insofern sie Erkenntnis desselben Objekts sind; sie schließen einander jedoch insofern aus, als sie nicht zugleich und für denselben Zeitpunkt erfolgen können.
  • Die Wurzeln des Begriffs ‹Komplementarität› liegen bei Bohr einerseits im Problem der Willensfreiheit, andererseits in der Besinnung auf Sprache und Ausdrucksmittel. In einem komplementären Verhältnis stehen nach Bohr z.B. Denken und Wollen; Liebe und Gerechtigkeit; die strenge Anwendung der an die Beschreibung der leblosen Natur angepassten Begriffsbildungen zu der Berücksichtigung der Gesetzmäßigkeiten der Lebenserscheinungen; die physiologische Verfolgung der Gehirnvorgänge und das Gefühl des freien Willens.

Weitere Zitate

  • Auch J. PIAGET verwendet den Begriff Autonomie zur Beschreibung der zunehmenden kindlichen Selbstbehauptung gegenüber starkem Außendruck. Die «heteronome» Phase frühkindlicher Entwicklung ist für ihn gekennzeichnet durch den massiven elterlichen Zwang und komplementär dazu durch die extreme, gänzlich distanzlose Unterwerfung des Kindes unter die elterlichen Satzungen und Gebote: Bd. 1, S. 716
  • Ein Programm N. HARTMANNS erfüllend, versucht H. WEIN, Hegels Dialektik in die Sprache einer nichthegelschen «Real-Dialektik» zu übersetzen: Dialektik wird ersetzt durch phänomenologische Deskriptionen «dynamischer Systeme von gegenläufigen, sich wechselseitig regulierenden, komplementierenden, kompensierenden Prozessen» im Bereich menschlichen Verhaltens. Solche als Prozeßgestalten gefaßte Handlungsgefüge, «Einungen» verschiedener Momente (Individuen, Handlungen, Gruppen) zu «Ganzen», in denen die Momente «aufgehoben» sind, identifiziert Wein mit Einheiten, die in der Tradition von Hume, Montesquieu, Herder, Hegel und Dilthey als Volks-, Zeit-, Gemein- und objektiver Geist bezeichnet wurden. Derartige Kulturgebilde sind «Realstrukturen», zu denen Menschen in dialektische Verhältnisse treten: Zwischen System und Individuum herrschen Wechselwirkung, Interdependenz, Komplementarität und Realrepugnanz. Bd. 2, S. 223
  • Bezogen auf die maximale Informationsmenge und auf die zeitliche Dauer, haben die verschiedenen «Speicher» unterschiedliche Kapazität. Im Mittelpunkt des gegenwärtigen Forschungsinteresses stehen die Transformationsprozesse von einem Speicher zum anderen, komplementär dazu die speichertypischen Vorgänge des «Vergessens» und die Formen und Mechanismen des Abrufs gespeicherter Informationen. Bd. 3, S. 40
  • Leben ist ein Geschehen der Selbstauslegung, eine Komplementarität von Unbestimmtheit und Bestimmtheit. Bd. 5, S. 414
  • … sondern hauptsächlich das objektive Korrelat für die Komplementarität der Ethnologie zur Geschichtswissenschaft bezeichnen soll. Diese Komplementarität besteht vornehmlich darin, daß, da Naturvölker für Bastian entwicklungsarme und einfach strukturierte Protoformen der Kulturvölker sind, ihr Studium die Komplexität der Kulturvölker durchsichtiger zu machen verspricht: Bd. 6, S. 638
  • Letztes Ziel dieses Programms ist, aus der gemeinsamen Sicht von H. ROTH und H. THIERSCH, die Beilegung der alten Kontroverse «zwischen einem geisteswissenschaftlich-auslegenden oder phänomenologischen Verfahren und einem, das sich an den Erfahrungswissenschaften orientiert» [16], durch den Nachweis ihrer wechselseitigen Komplementarität. Bd. 7, S. 32
  • Heute deutet einiges darauf hin, daß die alte Kluft zwischen naturalistischer und verstehender Soziologie einer Auffassung von der Komplementarität qualitativer und quantitativer Methoden weicht. Bd. 9, S. 1279
  • Komplementär zur Historisierung der Vergangenheiten verhält sich die modernitätsbedingt abnehmende Prognostizierbarkeit der Zukunft. Bd. 12, S. 1250

MLPh

Komplementarität: 4 (0,6) Ergebnisse, komplementär: 16 (2,3) Ergebnisse

Es gibt das Stichwort „Komplementarität“ (Autor: Michael Esfeld), das u. a. folgende Gedanken enthält.

  • (1) Verschiedene, sich gegenseitig ausschließende Erklärungen desselben Objekts stehen im Verhältnis der Komplementarität zueinander, wenn sie als sich ergänzende Aussagen angesehen und akzeptiert werden.
  • (2) Bezugspunkt für die philosophische Diskussion ist der Begriff der Komplementarität, wie er von Bohr zur Interpretation der Quantentheorie (Quantenmechanik) eingeführt wurde: Ort und Impuls z.B. sind komplementäre Größen, weil einem mikrophysikalischen System wie einem Elektron nicht zugleich ein beliebig genauer Ortswert und ein beliebig genauer Impulswert zugeschrieben werden kann (Unschärferelation).
  • Notwendig für die Komplementarität zweier Merkmale ist, dass diese Merkmale sich auf denselben Gegenstand beziehen und dass sie inkompatibel sind: Beide Merkmale können nicht zugleich in Bezug auf denselben Gegenstand in beliebig genauer Weise bestimmt werden.
  • Geht man von der Bestimmung des einen zu der Bestimmung des anderen von zwei inkompatiblen Merkmalen über, so ist das Ergebnis nicht exakt prognostizierbar; es kann höchstens eine Übergangswahrscheinlichkeit angegeben werden.

Weitere Zitate

  • Als Theorien stehen Idealismus und Realismus in einem komplementären Verhältnis. – Eine solche komplementäre Auffassung vertritt Kant: Seinem transzendentalen Idealismus entspricht ein empirischer Realismus, insofern die Wirklichkeit der Gegenstände unterschieden werden muss von der begrifflichen Struktur der Erscheinungen als Gegenstände der Erkenntnis. S. 254
  • Von diesem Bemühen setzt sich in der Folge der junge Schelling ab und exponiert in seiner Naturphilosophie als komplementäre Fragestellung, wie sich die Materie über die verschiedenen Stufen des Naturprozesses zum Geist (und damit zur Möglichkeit der Selbsterkenntnis) hinaufpotenziert S. 360

EPh

Komplementarität: 17 (0,5) Ergebnisse, komplementär: 49 (1,5) Ergebnisse

Es gibt das Stichwort „Komplementarität“ (Autor: Michael Otte), das u. a. folgende Gedanken enthält.

  • Komplementarität ist ein Merkmal zur Bestimmung eines ›Komplement‹ genannten Faktors oder Verhältnisses i. S. von Ergänzung, insbes. zur Bezeichnung eines zusätzlichen Faktors. …
    Das Prinzip der Komplementarität meint in erster Linie die Tatsache, dass jede begriffliche Explizierung und jede Darstellung eine Unter ich scheidung beinhaltet, d.h. eine Grenzziehung zwischen dem Gesagten und Erklärten, einerseits, und dem, was nicht erfasst wurde und unbestimmt bzw. unerklärt blieb, andererseits.
    Die Begriffe Komplementarität oder auch ›komplementär‹ verwendet man in logischen oder rhetorischen Kontexten allerdings häufiger auch in einem weiteren Sinne, etwa nur um ein Verhältnis von Gegenständen untereinander zu bezeichnen, die sich in ihrer begrifflichen Beziehung unterscheiden, nach Sachbezug beurteilt sich aber gegenseitig ergänzen können (Licht- Schatten, Tag- Nacht, Körper- Seele). S. 1273u
  • Komplementarität wird je nach Kontext oft auch Verhältnissen zugeschrieben, die als ›Wechselwirkung‹, als ›Interdependenz‹ oder als ›Realrepugnanz‹ bezeichnet werden, …
  • Als wesentliche Grundlage aller Erscheinungen dieses Begriffs ist die Komplementarität von Struktur (Ordnung) und Information (Entropie) anzusehen. Struktur (oder Ordnung) und Information (oder Entropie) sind zwei komplementäre Begriffe, die auf alles Gegebene anwendbar sind, und die Anwendung dieser Komplementarität stellt ein fruchtbares methodologisches und erkenntnistheoretisches Prinzip dar. S. 1273b
  • In diesem Sinne ist – dies drückt sich beispielsweise in der Popperschen Kritik an Bohr aus – das Komplementaritätsprinzip eng mit dem Theorie- Praxis- Problem moderner Wissenschaft verbunden. S. 1275

Weitere Zitate

  • Charakteristisch für weite Bereiche der Ästhetik des 18. Jh. ist die Polarität von Geschmack und Genie, in der sich die Perspektiven der Rezeption und der Produktion komplementär gegenüberstehen. S. 160b
  • Denn für die menschliche Erkenntnis ist die Komplementarität von zwei simultanen Erkenntnisvermögen – Sinnlichkeit und Verstand/ Vernunft – und von zwei Vorstellungsarten – Anschauung (als Leistung der Sinne) und Begriff (als Leistung des Verstandes) – konstitutiv. Keines der beiden Momente könnte getrennt vom anderen zu Erkenntnis führen: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegentand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. S. 592
  • Komplementär zur subjektzentrierten ›Interessiertheit an‹ kann das Interesse auch auf Seiten des Gegenstandes lokalisiert werden S. 1138
  • Nun setzt aber kommunikatives Handeln Kontexte voraus, die Habermas durch die »Komplementarität« zwischen dem kommunikativen Handeln und der Lebenswelt S. 1264b
  • Unter dem Gesichtspunkt der Komplementarität von Recht und Moral bedeuten das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren, die gerichtlich institutionalisierte Entscheidungspraxis und die professionelle Arbeit einer Rechtsdogmatik, die Regeln präzisiert und Entscheidungen systematisiert, für den Einzelnen eine Entlastung von den kognitiven Bürden der eigenen moralischen Urteilsbildung. S. 1542b
  • Weltanschauung entstehen für Dilthey aus Perspektiven des Lebens. Für das Leben aber gilt: »Leben kann nicht vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht werden«. Um den daraus resultierenden Relativismus zu entschärfen und die Bedeutung des naturwissenschaftlichen Wissens nicht völlig zu ignorieren, entwickelt Dilthey eine Typologie der Weltanschauung, die als »Philosophie der Philosophie« eine Komplementarität unterschiedlicher weltanschaulicher Gesichtspunkte aufweisen und in der auch der Naturalismus seinen Platz finden soll. S. 2964

MLS (S. 349)

  • (lat. complēmentum ›Ergänzung(smittel)‹) Semantische Gegensatzbeziehung zwischen Prädikaten, deren Anwendung auf identische Argumente kontradiktorische bzw. kontravalente Propositionen ergibt.
  • Lexempaare wie bekannt/unbekannt, tot/lebendig, männlich/weiblich unterscheiden zwei disjunkte Zustände und sind weder graduierbar noch steigerbar. Jedoch können auch Skalen disjunkt aufgeteilt werden, wobei die Graduierbarkeit auf ein Glied beschränkt (z. B. verschieden vs. gleich,) oder beidseitig sein kann (ordentlich/unordentlich).
  • Zwischen negierenden un-Ableitungen und dem Grundwort besteht prinzipiell Komplementarität; doch hat sich diese oft zur Antonymie (mit neutralem Mittelbereich) entwickelt; z. B. angenehm/unangenehm, glücklich/unglücklich.

EgL

  • Zwei Ausdrücke A und B sind komplementär zueinander, wenn sie miteinander inkompatibel sind und alles entweder unter den durch A oder den durch B benannten Begriff fällt. S. 184
  • Komplementäre Ausdrücke sind inkompatibel und die Negation des einen Ausdrucks impliziert den anderen Ausdruck. Glossar S. 353

Auswertungen und Schlussfolgerungen zur Verwendung des Terminus

Die Wörter „Komplementarität“ und „komplementär“ werden sowohl in der Alltagssprache als auch in den philosophischen Lexika sehr selten verwendet, wobei die relative Häufigkeit in allen drei Lexika mit 0,5 bzw. 0,6 für „Komplementarität“ und 1,5 bis 2,3 für „komplementär“ fast gleich ist.

Als Bedeutungen in der Alltagssprache werden angegeben: sich gegenseitig ergänzend, sich wechselseitig entsprechend. Diese Bedeutung entspricht der Bedeutung des lateinischen Wortes complēmentum (Ergänzung, Vervollständigung[smittel], Fertigstellung), von dem das Wort Komplementarität stammt. Diese Bedeutung ist auch in den Wörtern Komplement und komplettieren enthalten.

In allen drei philosophischen Lexika gibt es ein Stichwort „Komplementarität“, sodass das Wort als Terminus in der neuzeitlichen Philosophie angesehen werden kann.

In der Philosophie bezieht sich der Terminus „Komplementarität“ auf den vom Physiker Niels Bohr eingeführten Begriff der Komplementarität bzw. des Komplementaritätsprinzips. Anlass seiner Begriffsbildung waren die paradoxen Phänomene des Welle-Teilchen-Dualismus und der Unschärferelation in der Quantenmechanik. Hintergrund ist die experimentelle Bestimmung von Merkmalen von Objekten. Niels Bohr verallgemeinerte diese Probleme zu prinzipiellen Fragen des Verhältnisses der Rolle des Subjekts bei der Erkenntnis objektiver Zusammenhänge und nannte als Beispiele für komplementäre Verhältnisse das Verhältnis von Denken und Wollen sowie Liebe und Gerechtigkeit.

Sowohl die Begriffsbildung von Bohr als auch seine Übertragung auf erkenntnistheoretische und andere Probleme standen von Beginn an in der Kritik von Physikern und Philosophen.

Von Hugo Bedau und Max Oppenheim wurde eine exakte Definition des Komplementaritätsprinzips in der Quantenmechanik angegeben. Sie stellen zugleich fest: „Was die Anwendung von Komplementarität in anderen Bereichen als QM [Quantenmechanik] betrifft, so verwendet unseres Wissens nach niemand eine Verallgemeinerung (oder auch nur ein sehr genaues Analogon) des Konzepts der Komplementarität im QM. Beispielsweise halten Autoren die Beseitigung einer paradoxen Situation – ohne die die Notwendigkeit von Komplementarität im QM einfach nicht besteht – normalerweise nicht wie wir für eine Bedingung für die Einführung von Komplementarität.“ (Hugo Bedau and Paul Oppenheim. Complementarity in quantum mechanics: A logical analysis. Synthese, vol. 13 (1961) S. 225)

In der Internet Enzyklopädie Wikipedia wird kritisch eingeschätzt, „dass die Verallgemeinerung des ursprünglichen Begriffs auf andere Gegensätze im Sinne eines vagen Sowohl-als-auch kaum mehr als eine Metapher liefert. Der Ausdruck Komplementarität sei im Grunde überflüssig oder decke Widersprüche nur zu. Nicht jedes Paar von Gegensätzen, jedes Dilemma oder jede Dualität könne als komplementäre Beziehung bezeichnet werden. (nach Fahrenberg: Zur Kategorienlehre der Psychologie. Komplementaritätsprinzip. Perspektiven und Perspektiven-Wechsel, 2013, S. 318–321 S. 357–361.)“

Diese generelle Kritik kann im Ergebnis der Analyse der drei philosophischen Lexika in den meisten Fällen bestätigt werden.

Im historischen Wörterbuch der Philosophie werden bei der Explikation des Terminus „Komplementarität“ lediglich die Bedeutung in der Physik sowie recht vage mögliche Anwendungen in der Erkenntnistheorie diskutiert.

Die anderen beiden Lexika explizieren den Terminus „Komplementarität“ in der Philosophie in sehr weitem Sinne. So wird im Metzler Lexikon Philosophie als einziges Merkmal angegeben, dass es sich um verschiedene, sich gegenseitig ausschließende Erklärungen desselben Objekts handelt, die als sich ergänzende Aussagen angesehen und akzeptiert werden. Damit wird der Terminus der Komplementarität ausschließlich in die Ebene der Reflexion verlagert und mit den Termini „Erklärung“ und „Aussagen“ verbunden, von komplementären Beziehungen zwischen realen Objekten kann nach dieser Erklärung nicht mehr gesprochen werden.

Weiterhin wird das umgangssprachliche Moment des sich Ergänzens aufgenommen. Mit dieser Erklärung des Terminus werden alle Explikationen von Begriffen, die gegensätzliche Momente beinhalten, unter den Terminus gefasst. Weiterhin wird angeführt, dass zwei komplementäre Merkmale eines Gegenstandes nicht zugleich in beliebig genauer Weise bestimmt werden können. Damit wird versucht, eine Beziehung zu dem physikalischen Begriff der Komplementarität herzustellen. Es bleibt aber offen, was es heißt, bei einem nicht physikalischen Gegenstand wie etwa der Moral zwei Merkmale zugleich zu bestimmen und was unter der Genauigkeit in diesem Fall verstanden wird.

In der Enzyklopädie Philosophie wird Komplementarität als „Ergänzung eines Faktors oder eines Verhältnisses“ verstanden, ohne zu sagen was ergänzt wird. Außerdem wird angegeben, dass der Terminus Komplementarität verwendet wird, „um in einem weiteren Sinne, etwa nur um ein Verhältnis von Gegenständen untereinander zu bezeichnen, die sich in ihrer begrifflichen Beziehung unterscheiden, nach Sachbezug beurteilt sich aber gegenseitig ergänzen können (Licht- Schatten, Tag- Nacht, Körper- Seele).“ Damit wird bestätigt, was in der Enzyklopädie Wikipedia ausgesagt wurde, dass der Terminus nichtssagend und also entbehrlich und ist.

Bei der Analyse der wenigen Zitate, in denen die Wörter „Komplementarität“ und „komplementär“ vorkommen, zeigt sich, dass es weniger um Beziehungen zwischen Merkmalen geht und auch das Moment der Ergänzung kaum eine Rolle spielt. In der Mehrzahl der Fälle geht es um eine zweistellige Relation des Gegensatzes. Es lassen sich folgende Typen von Gegensatzpaaren unterscheiden. Teilweise werden diese auch als dialektische Beziehungen charakterisiert.

  • Erkenntnismethoden, z. B.:
    • geisteswissenschaftlich-auslegende oder phänomenologische Verfahren und einem, das sich an den Erfahrungswissenschaften orientiert
    • qualitative und quantitative Methoden
    • Sinnlichkeit und Verstand/Vernunft
  • Wissenschaftsgebiete bzw. Forschungsrichtungen, z. B.:
    • Ethnologie und Geschichtswissenschaft
    • Idealismus und Realismus
    • Historisierung der Vergangenheiten und Prognostizierbarkeit der Zukunft
    • Recht und Moral
  • Prozesse in der Realität, z. B.:
    • System und Individuum (dabei Wechselwirkung, Interdependenz, Komplementarität und Realrepugnanz)
    • Transformationsprozesse von einem Speicher zum anderen und die speichertypischen Vorgänge des «Vergessens»
    • massiver elterlicher Zwang und die extreme, gänzlich distanzlose Unterwerfung des Kindes
    • Rezeption und Produktion
    • kommunikatives Handeln und Lebenswelt

In der Linguistik bezieht sich der Terminus „Komplementarität“ auf zwei kontradiktorische bzw. kontravalente Aussagen. Die Aussagen sollen durch Negation auseinander vorgehen. Teilweise (EgL) wird auch eine Dichotomie als Merkmal genannt. Damit unterscheidet sich diese Bedeutung von Komplementarität von der physikalischen und der darauf aufbauenden philosophischen.

Insgesamt ergibt sich, dass die Wörter „Komplementarität“ und „komplementär“ im Alltag und in der Philosophie nur marginal und in der Philosophie sowie in der Linguistik mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet werden. Die Wörter sind sprachlich anspruchsvoll und ihre Bedeutung ist nicht intuitiv zu erfassen. Aus all diesen Gründen sind sie als Termini für die Neue Philosophie nicht geeignet.

Dichotomie

Literaturanalysen

DWDS

Frequenz: 0,26

Kollokationen: simpel (3.1, 6), Böse (3.1, 8), Ost (2.2, 5), Moderne (1.8, 7), Gut (1.4, 7)

Bedeutungen:

  1. [fachsprachlich] Zweiteilung, zweigliedrige Einteilung, Zweigliedrigkeit
  2. [Botanik] Gabelung des Pflanzensprosses

Wiktionary

Aufteilung von etwas in zwei Teile

Wiki (Stichwort „Dichotomie“, Version vom 18. Juli 2021)

  • Dichotomie bezeichnet eine Struktur aus zwei Teilen, die einander ohne Schnittmenge gegenüberstehen. Sie können einander ergänzen, zum Beispiel ein komplementäres Begriffspaar, oder eine Aufteilung in zwei Teile ausdrücken, zum Beispiel die Aufteilung eines Bereichs in zwei Teilbereiche.
  • In der Klinischen Psychologie steht Dichotomie für ein absolutes Denkmuster und eine Kognitive Verzerrung, bei dem eine Person Dinge nur in zwei extreme Stufen bzw. Kategorien unterteilt und ignoriert wird, dass sich dazwischen noch eine Skala von Graustufen befindet.
  • In der Philosophie gibt es verschiedene Lehren, die den Aufbau der Wirklichkeit auf zwei Prinzipien zurückführen. Ein Beispiel ist der Hylemorphismus.

HWPh

135 (1,6) Ergebnisse

Es gibt das Stichwort „Dichotomie“ (Autor: F. P. Hager), das u. a. folgende Gedanken enthält.

  • Bei PLATON ist unter den von ihm eingeführten und angewandten Begriffseinteilungen die am meisten bevorzugte die D., d.h. der methodische Nachweis notwendiger logischer Verbindungen zwischen allgemeineren und spezielleren Begriffen durch fortschreitende Zweiteilung der Begriffe vom obersten Gattungsbegriff durch die Mittelbegriffe (Mittelglieder, Arten) bis zum untersten Artbegriff, welcher nicht mehr weiter teilbar sein soll, zum Zwecke der Definition des Wesens dieses untersten Artbegriffs: Bd. 2, S. 232
  • Der Wert der D. wie der Dihairesis im Ganzen der platonischen Philosophie ist strittig: Bd. 2, S. 232

Weitere Zitate

  • Die Dichotomie Kants von Begriff und Anschauung, die Trennung des Allgemeinen der Verstandes- und Vernunftbegriffe und des Besonderen, Mannigfaltigen der Erfahrung, bildet im Deutschen Idealismus die Basis der Kritik und Weiterführung. Bd. 1, S. 183
  • Im Brockhaus von 1851/55 wird die Dichotomie der Forderungen nach politischer und nach materieller und sozialer Gleichheit registriert Bd. 2, S. 54
  • Nach Anklängen bei Schleiermacher und Herbart … begründet F. TÖNNIES die idealtypische Dichotomie der gewachsenen oder spontanen, um ihrer selbst willen bejahten Gemeinschaft und der auf Konvention, Vertrag und Recht beruhenden, «gewillkürten» und überwiegend zweckrationalen Gesellschaft Bd. 3, S. 462
  • Dabei wird Gesellschaft als ein autarkes Sozialsystem verstanden, in dem die Dichotomie von Individuum und Kollektiv durch die Konzeption standardisierter und integrierter sozialer Rollen überwunden wird. Bd. 3, S. 464
  • In The Concept of Mind versucht Ryle nachzuweisen, daß die traditionelle Theorie der Dichotomie von Körper und Geist nichts anderes ist, als ein eklatanter Kategorienfehler bzw. ein Bündel von solchen. Bd. 4, S. 782
  • Er [Jaspers] übernimmt die geisteswissenschaftliche Dichotomie von Erklären und Verstehen und postuliert eine absolute Verstehensgrenze, die die krankhaften Weisen des Erlebens und Verhaltens von denjenigen trenne, die allein als Normvarianten zu begreifen sind. Bd. 7, S. 1686

MLPh

12 (1,7) Ergebnisse

Es gibt das Stichwort „Dichotomie“ (Autor: F. P. Hager), das u. a. folgende Gedanken enthält.

  • Lehre von der Einteilung … Eine Dichotomie ergibt sich bei zwei Einteilungsgliedern, indem man ein Einteilungsmerkmal bestimmt, das für alle Teile der einen Teilmenge zutrifft und für die Teile der anderen Teilmenge nicht, S. 114
  • Für eine strenge Dichotomie gilt, dass beide Teilmengen die Gesamtheit (des Einteilungsganzen) ergeben. S. 114

Weitere Zitate

  • In der analytischen Handlungstheorie und Philosophie des Geistes wird Ereignis im Zusammenhang mit der Dichotomie von physikalischen und mentalen Ereignissen diskutiert (Leib-Seele- Problem). S. 146
  • In diesem Sinn prägt Tönnies durch seine Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft die zwei Grundtypen menschlicher Soziabilität: Die Gemeinschaft als naturhaft gewachsener, wertbetonter Verband wird dem rationalen Zweckverbund gegenübergestellt. Diese z.T. ideologisch missbrauchte Dichotomie ist von der modernen Sozialphilosophie zugunsten einer differenzierten Betrachtung der Verbindung und Mischung beider Bereiche aufgegeben worden. S. 203

EPh

38 (1,2) Ergebnisse

  • Wolff, selbst vom Verdacht des Spinozismus und Atheismus bedroht – Spinoza gilt weithin als Hauptvertreter des ›Materialismus‹ -, führt wenig später die folgenreiche Dichotomie Materialist/ Idealist ein. S. 1026b
  • Mit der seit den späten 1950er Jahren immer stärker werdenden Renaissance tugendethischer Ansätze wird mehr und mehr deutlich, dass die moderne Dichotomie von Selbst- und Allgemeininteresse zu strikt ist. S. 1231
  • Durkheims Bemühen war auch darauf gerichtet, die von F. Tönnies eingeführte Dichotomie zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft zu überwinden S. 2484b
  • Ineins mit der absoluten Dichotomie zwischen Tatsachen und Werten kritisiert Putnam auch die Dichotomie zwischen Tatsachenaussagen und Wertaussagen. S. 2693

MLS

(griech. dichotomia ›Zweiteilung‹) Grobgliederung eines Gegenstandbereichs durch ein komplementäres, d. h. kontradiktorisches Begriffspaar, z. B. Zeit – Ewigkeit; konkret – abstrakt; Form – Inhalt. In der Linguistik haben einige Dichotomien grundlegende Bedeutung erlangt, z. B.  Synchronie – Diachronie; Signifikant – Signifikat; Langue – Parole. Dichotomie kann als Spezialfall des Prinzips binärer Zerlegungen gesehen werden, das insbes. in strukturalistischen Forschungen dominiert S. 150

Auswertungen und Schlussfolgerungen zur Verwendung des Terminus

Das Wort „Dichotomie“ ist sowohl im Alltag als auch in den philosophischen Lexika sehr selten anzutreffen. Es gibt nur in zwei Lexika ein entsprechendes Stichwort mit wenigen Ausführungen. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie bezieht sich der Autor ausschließlich auf die Verwendung der Dichotomie bei Platon zur Definition von Begriffen und in Metzlers Lexikon Philosophie wird die Dichotomie lediglich als formales Einteilungskriterium von Mengen angesehen.

Für das Vorliegen einer dichotomen Einteilung ist es nicht notwendig, dass die beiden Teilbereiche eine Aufteilung eines Ganzen darstellen. Wenn dies der Fall ist, wird nach Metzlers Lexikon Philosophie von einer strikten Dichotomie gesprochen. Auf diese Bezeichnung wird in den anderen untersuchten Texten nicht eingegangen.

Als Beispiele für Dichotomien werden in den ausgewählten Zitaten aus den philosophischen Lexika genannt:

  1. Dichotomie von Begriff und Anschauung
  2. Dichotomie der Forderungen nach politischer und nach materieller und sozialer Gleichheit
  3. Dichotomie der gewachsenen und der auf Vertrag und Recht beruhenden Gesellschaft
  4. Dichotomie von Individuum und Kollektiv
  5. Dichotomie von Körper und Geist
  6. Dichotomie von Erklären und Verstehen
  7. Dichotomie von physikalischen und mentalen Ereignissen
  8. Dichotomie von naturhaft gewachsenem, wertbetonten Verband und dem rationalen Zweckverbund
  9. Dichotomie Materialist – Idealist
  10. Dichotomie von Selbst- und Allgemeininteresse
  11. Dichotomie zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft
  12. Dichotomie zwischen Tatsachen und Werten

Eine Analyse der angegebenen Dichotomien ergibt folgende Ergebnisse:

  • Die folgenden angeführten Dichotomien stammen teilweise aus vergangenen Epochen der Philosophiegeschichte und werden heute als kritikwürdige bzw. als wissenschaftlich überwundene Auffassungen charakterisiert: A, E, H, J, K, L.
  • Bei B und C handelt es sich nicht um einander ausschließende Zustände. Politische und soziale Gleichheit bedingen einander. Eine Gesellschaft ist sowohl gewachsen als auch auf Vertrag und Recht beruhend.
  • Bei D handelt es sich um eine Element-System-Beziehung.
  • Bei den Wortpaaren Erklären und Verstehen (F.) sowie Materialist und Idealist (I.) handelt es sich um Wörter mit mehreren Bedeutungen, sodass Aussagen zum Verhältnis der Wörter nicht eindeutig getroffen werden können.
  • Wenn anstelle von physikalischen von nichtmentalen Ereignissen gesprochen wird, kann die angegebene Dichotomie G. als strickte Dichotomie in der Menge der Ereignisse angesehen werden.

In der strukturalistisch orientierten modernen Linguistik spielt das Prinzip der binären Zerlegung offensichtlich eine wichtige Rolle, sodass dort Dichotomie in eigentlichem Sinne anzutreffen sind.

Insgesamt ergibt sich, dass das Wort „Dichotomie“ durchaus als philosophischer Terminus verwendet werden kann, der aber eine sehr geringe Anwendungsbreite hat. Von den ohnehin sehr wenigen Beispielen in den philosophischen Lexika hat sich bei den übernommenen Zitaten nur ein einziges als tatsächliche Dichotomie herausgestellt.

Polarität

Literaturanalysen

DWDS

Frequenz: 0,17

Kollokationen: entgegengesetzt (5.0, 11), Umkehrung (4.7, 5), magnetisch (4.6, 5), eigentümlich (3.8, 5), Geschlecht (3.4, 16)

Bedeutungen:

  1. [Geografie, Astronomie, Physik] das Vorhandensein von zwei Polen
  2. Verhältnis zweier einander bedingender Gegensätze zueinander, Gegensätzlichkeit

Wiktionary

  1. Physik, Geografie; kein Plural: die Existenz zweier Pole, also zweier Punkte mit entgegengesetzten Eigenschaften
  2. gehoben: ein Verhältnis zweier entgegengesetzter, in Wechselwirkung miteinander stehender Pole; Gegensätzlichkeit
  3. Mathematik: eine involutorische Korrelation

Wiki (Version vom 8. Juni 2021)

Polarität steht für:

  • Polarität (Physik), Anordnung zweier Pole im Raum oder an einem Bauteil
  • Polarität (Chemie), Bindung von getrennten Ladungsschwerpunkten in Atomgruppen
  • Polarität (Virologie), Verhältnis eines einzelsträngigen viralen Genoms zur Leserichtung der mRNA
  • Polarität (Internationale Beziehungen), Machtverteilung im internationalen System in den internationalen Beziehungen
  • Polarität (Philosophie), Verhältnis sich gegenseitig bedingender Größen
  • Polarität (Goethe), Begriff in Goethes naturwissenschaftlichen Schriften
  • Zellpolarität, spezifische Ausrichtung der Zellstruktur einer Zelle in der Biologie
  • eine Zuordnung zwischen Punkten und Geraden einer Ebene mit bestimmten Eigenschaften, siehe Korrelation (Projektive Geometrie)
  • ein Prinzip in der chinesischen Philosophie, siehe Taiji (chinesische Philosophie)
  • ein grammatisches Prinzip in der Linguistik, siehe Polaritätselement

Polarität (Philosophie)

  • Polarität ist ein Ausdruck der Philosophie für das Verhältnis sich gegenseitig bedingender Größen. Sie unterscheidet sich vom Dualismus, bei dem die Größen als antagonistisch (nicht miteinander vereinbar) gesehen werden. Bei der Polarität geht es nicht um einen unvereinbaren Gegensatz, sondern um ein komplementäres Verhältnis.
  • Eine Polarität besteht aus einem Gegensatzpaar und der Beziehung zwischen den Polen: hell – dunkel, kalt – heiß, schwarz – weiß, Mann – Frau, Liebe – Hass, arm – reich, krank – gesund usw. wobei einem einzelnen Pol nie eine Wertung (etwa gut oder schlecht) zukommt. Die Pole sind die zwei gegenüberliegenden Enden derselben Sache, untrennbar zu einer Einheit verbunden und bedingen einander. Tag lässt sich nur im Kontrast zur Nacht definieren, Heiß nur, wenn es auch Kalt gibt, keine Armut ohne Reichtum usw.
  • Im deutschen Idealismus, einer philosophischen Strömung, findet der Begriff Polarität besonders Verwendung bei Schelling und Hegel. So spricht Hegel von der Polarität als „von einem Unterschiede, in welchem die Unterschiedenen untrennbar sind“.
  • In der chinesischen Philosophie ist die Polarität (Taiji) ein zentraler Begriff. Insbesondere im Daoismus wird eine Einheit von polaren Gegensätzen (Yin und Yang) besonders betont.

HWPh

109 (1,3) Ergebnisse

Es gibt das Stichwort „Polarität“ (Autor: P. Probst), das u. a. folgende Gedanken enthält.

  • In seiner Schrift Von der Weltseele erklärt F. W. J. SCHELLING: «Es ist erstes Princip einer philosophischen Naturlehre, in der ganzen Natur auf Polarität und Dualismus auszugehen»
  • Gegenüber dem bloß formalen Gebrauch des Begriffs Polarität besteht Hegel jedoch auf der begrifflichen Durchdringung und Verarbeitung des Sachverhalts: «Denn der Gedanke der Polarität ist eben nichts Anderes, als die Bestimmung des Verhältnisses der Notwendigkeit zwischen zwei Verschiedenen, die Eines sind, insofern mit dem Setzen des Einen auch das Andere gesetzt ist. Diese Polarität schränkt sich nur auf den Gegensatz ein; durch den Gegensatz ist aber auch die Rückkehr aus dem Gegensatz als Einheit gesetzt, und das ist das Dritte. Dies ist es, was die Notwendigkeit des Begriffs mehr hat, als die Polarität»
  • In lebensphilosophischem Zusammenhang bestimmt L. KLAGES den Gedanken der Polarität «als bestehend in wechselseitiger Zusammengehörigkeit von Entfremdetsein und Zusammenhängen»; und dabei bilden «Erleidnisvermögen» und «Wirkungsvermögen» jene «Polarität, auf die alle Polaritäten zurückführen und somit zuletzt der Polarität-Begriff selbst»
  • In verstehenspsychologischer Absicht übernimmt K. JASPERS den Gedanken der Polarität: Es handelt sich bei ihm «um eine universale Form allen Denkens, das nicht vollziehbar ist … ohne mindestens zwei Bezugspunkte, und um eine Form allen Seins, wie es für uns erscheint, denn da unser Verstand nichts denken kann, das nicht ein anderes außer sich hätte, ist alles Sein für den Verstand sogleich Gespaltensein»
  • Unter dieser methodischen Rahmenbedingung beschreibt dann auch A. WELLEK «die Polarität im Aufbau des Charakters» und meint, «daß die sogenannten Bereiche oder ‚Schichten der Charakterstruktur jeweils nach zwei grundverschiedenen Seiten hin ausgeformt sind …, die sich in typischer Weise ‚polar … gegenüberstehen; und daß … das, was man gemeinhin ‚Charaktereigenschaften nennt, in dieser ‚polaren Weise differenziert zu denken ist»

Weitere Zitate

  • Ebenso eng als sozialpsychologisches Phänomen sieht A. WELLEK den Egozentrismus: Soziale Erschlossenheit oder Zugewandtheit und Egozentrismus sind in Polarität zueinander zu denken. Bd. 2, S. 319
  • Zunächst handelt es sich um die strukturnotwendige wechselseitige Abhängigkeit, die Polarität von Heimat und Welt oder von vertrauter eigener Welt einerseits und fremder Welt (Bedrohung, Entwurzelung, Heimweh) andererseits. Einen Grenzfall bildet dann die selbstgewählte oder die aus Not bei Vertreibung oder Flucht erzwungen gegründete «zweite Heimat» in der «Fremde». Bd. 3, S. 1038)]
  • Wenn L. FEUERBACH seine Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie (1842) formuliert, sieht er in Herz und Kopf die «wesentlichen Werkzeuge, Organe der Philosophie». Ihrer Polarität entspricht eine Vielfalt von Begriffspaaren; das Verhältnis Herz/Kopf kann adäquat erscheinen als Aktivität, Freiheit, metaphysische Unendlichkeit, Idealismus / Leiden, Endlichkeit, Bedürfnis, Sensualismus; Denken / Anschauung; System / Leben; Ich / Nicht-Ich. Feuerbach fordert eine Vereinigung dieser Gegensätze in einem radikalen Sinne, denn nur in ihr «ist Leben und Wahrheit» Bd. 3, S. 1111
  • Das Immer-Zusammen zweier Gegensätze, die sich bald bekämpfen, bald steigern, bildet den Tatbestand der Polarität. Solche Polaritäten sind alle speziellen Dualismen, um die sich der philosophische Dualismus bemüht. Alle Dualismen bilden polare Einheiten von zwei Gegengliedern nach Analogie der Zwei-Einheit von Einheit und Vielheit. Als Zwei-Einheitenlehre wird so der Dualismus zum Monodualismus, damit zum dritten Glied des Monopluralismus, da die Zwei-Einheit eine Ein-Vielheit ist: die einfachste, kleinste. Im Monopluralismus sind demnach Monismus, Pluralismus und Dualismus sinnvoll aufeinander bezogen. Bd. 6, S. 139
  • Auf der Stufe des Lebendigen beruft sich Schelling auf die von J. BROWN herausgestellte Polarität zwischen Erregbarkeit und Erregung sowie die von K. F. KIELMEYER dargestellten Verhältnisse «organischer Kräfte», wie derjenigen der Sensibilität, der Irritabilität und der Reproduktion, von denen jeweils zwei von ihnen miteinander in ein polares Verhältnis treten. Verfolgt man den Aufbau dieser Stufen in dem Bereich des «geistigen» Naturreiches, so nimmt die Polarität hier die Form von Liebe und Haß, Gut und Böse, Individuum und Staat an. Bd. 6, S. 550
  • Gleichwohl bleibt die Polarität des Normalen und Pathologischen für die Humanwissenschaften, die sich im 19. Jh. im Gefolge der Wissenschaften vom Leben und speziell der Medizin konstituieren, fundamental. Bd. 6, S. 924
  • Von den weiteren Autoren, die zu Beginn des 19. Jh. an den Kantischen Sprachgebrauch anknüpfen, sei hier auf F. D. E. SCHLEIERMACHER hingewiesen, der in dem Begriffspaar Spontaneität/Rezeptivität bzw. Selbsttätigkeit/ Empfänglichkeit eine irreduzible und grundlegende Polarität ausgesprochen findet, wie sie sich etwa in einer entsprechenden «Duplizität des Selbstbewußtseins», in dem jedoch die «ursprüngliche Agilität» immer «auf einen früheren Moment getroffener Empfänglichkeit bezogen» bleibe, äußert. Bd. 9, S. 1431
  • Die Polarität von männlich und weiblich ist in allen Jahrhunderten in verschiedenen Bereichen angewendet worden: kosmisch (Sonne und Mond), alchemistisch (Sulphur und Quecksilber, Feuer und Wasser) oder allgemein (Tag und Nacht, Wachen und Schlafen, Geist und Materie). Bd. 12, S. 346

MLPh

3 (0,4) Ergebnisse

  • Im Deutschen Idealismus und in der Romantik, vor allem bei Schelling, gewinnt die Vorstellung an Bedeutung, dass der gesamte Kosmos ein hierarchisch geordnetes, lebendiges System bildet, welches aufgrund einer fundamentalen Polarität durch eine unendlich zeugende Produktivität gekennzeichnet ist. S. 434
  • In der Triade von Ethnographie, Ethnologie und Anthropologie stellt die Ethnologie einen wissenschaftlichen Diskurs dar, in dem man ein möglichst umfangreiches Datenmaterial, das nicht nur von Ethnographen, sondern auch von Reisenden und Missionaren stammt, systematisiert und theoretisch integriert. Die Polaritäten dieser Systematisierung sind dreifach: die biologische von Natur und Kultur, die soziale von Individuum und Gesellschaft und die epistemologische von natur- und geisteswissenschaftlichen Methoden. S. 167

EPh

13 (0,4) Ergebnisse

  • Charakteristisch für weite Bereiche der Ästhetik des 18. Jh. ist die Polarität von Geschmack und Genie, in der sich die Perspektiven der Rezeption und der Produktion komplementär gegenüberstehen. S. 160b
  • Die Geschichte des Menschen bewegt sich konstant zwischen einer Reihe von Polaritäten: Ordnung und Fortschritt, Statik und Dynamik, Sein und Bewegung. S. 845
  • Auch wenn andere Polaritäten wie ›Materialismus/ Immaterialismus‹ oder ›Naturalismus/ Spiritualismus‹ noch begegnen, bezeichnet seit Wolff ›Idealismus‹ das Veto gegen materialistische Konzeptionen. S. 1026b
  • Mit der Entwicklung der Militärtechnik (Atomwaffen, Interkontinental- Raketen usw.) war eine historisch einzigartige Situation entstanden, die für das Verhältnis der (National-)Staaten zueinander nicht folgenlos bleiben konnte. Der Besitz der ›absoluten Waffe‹ und die Fähigkeit, sie jederzeit und überall in der Welt einzusetzen, war zur Bedingung der äußeren Souveränität geworden; über sie verfügten nur zwei Staaten – die ich, die um sich jeweils weitere S. im Rahmen verschiedener (militärischer, wirtschaftlicher) Bündnissysteme gruppierten. S. 2609

MLS

Polarität, S. 522

  • Gegenüber einer weiten Bestimmung von Polarität als Oberbegriff für alle mögl. »zweiseitigen Wortbeziehungen« in allen Wortarten (z. B. Eltern/Kind, schlafen/wachen, süß/bitter, hier/dort) wird der Begriff in einer auf Lyons basierenden Tradition schärfer gefasst: Gegensatzpaare sind häufig nicht äquipollent, sondern enthalten einen »positiven« und einen »negativen« Pol, wobei mit Gsell zwischen »Richtungspolarität« (oberhalb/unterhalb) »Gradpolarität« (lang/kurz) und »Wertungspolarität« (gut/schlecht) unterschieden werden
  • Wichtig ist, dass i. d. R. nur der Minuspol markiert ist: Die »positiven« Lexeme können – bei «Neutralisation« der Polarität – als Hyperonym, d. h. etwa bei graduierbaren Antonymen zur Gradbezeichnung auf der gesamten Skala verwendet werden.
  • Nicht alle formalen Polaritätskriterien lassen sich auf alle Wortklassen anwenden; für viele Lexempaare (z. B. von Bewertungsadjektive) lassen sich nur kontext- und sprecherabhängige »Trendmeldungen« angeben, die allerdings bei asymmetrischer formaler Markierung deutlicher ausfallen, so z. B. bei den privativen Adjektiven mit Präfix un- oder bei den movierten Feminina mit Suffix -in.

Antonymie, S. 45/46

  • Gegenwärtig wird Antonymie zumeist auf graduierbar- polare Lexeme (z. B. groß/klein, stark/schwach, hell/dunkel, schön/hässlich) angewendet:
  • (a) Ihre Bedeutungen sind teilsynonym, nur durch ein polares Merkmal unterschieden.
  • (b) Antonyme stehen zueinander in konträrer Relation, d. h. sie können gemeinsam nur negativ, nicht aber affirmativ über dasselbe Objekt prädiziert werden
  • (c) In der unspezifizierten Grundform bezeichnen sie die Pole oder Polbereiche einer Eigenschaftsskala, relativ zu einer Erwartungs-/ Wertungsnorm (Heckenausdruck), die entweder asymmetr.-polnah ist (z. B. sauber/schmutzig) oder einen mittleren Normalbereich bildet, der von Fall zu Fall variieren kann: Die große Maus sitzt unter dem kleinen Elefanten.
  • (d) Ist die Skala prinzipiell quantifizierbar und die Polarität symmetrisch, dient das unmarkierte der beiden Lexeme im Verein mit Maßangaben als neutrales Hyperonym: Mein Enkel ist jetzt vier Tage alt. Das winzige, 1/10 mm große Insekt.
  • (e) Antonyme können i. d. R. vergleichend prädiziert werden. Komparative Aussagen sind im Maße der Polsymmetrie (denotativ) konvers: Geparden sind kleiner/schneller als Löwen = Löwen sind größer/langsamer als Geparden.

EgL

  • Zwei Ausdrücke A und B sind antonym, wenn sie miteinander inkompatibel sind und die durch A und B benannten Begriffe die Endpunkte einer Skala bilden. S. 185

Auswertungen und Schlussfolgerungen zur Verwendung des Terminus

Das Wort „Polarität“ kommt in der Alltagssprache sehr selten vor und wird oft im physikalischen Sinne verwendet, wie die Kollokationen mit „entgegengesetzt“ und „magnetisch“ zeigen.

Nach Wikipedia tritt der Terminus „Polarität“ in zahlreichen Wissenschaften auf.

Im DWDS und in Wiktionary wird als eine Bedeutung von Polarität angegeben, dass es sich um ein Verhältnis zweier einander bedingender Gegensätze zueinander bzw. zweier entgegengesetzter, in Wechselwirkung miteinander stehender Pole handelt. Diese Aspekte der Gegensätzlichkeit und Wechselwirkung werden auch im Artikel zu Polarität in der Philosophie aus der Internet-Enzyklopädie Wikipedia genannt. Nach diesem Beitrag sind Pole „die zwei gegenüberliegenden Enden derselben Sache, untrennbar zu einer Einheit verbunden“. Sie können als Enden einer Skala aufgefasst werden und sind nie mit einer Wertung verbunden.  Zu diesen Bestimmungen passen mehrere der angegebenen Beispiele für Polaritäten nicht. So lassen sich Mann und Frau wohl kaum auf einer Skala darstellen und das Paar arm und reich enthält durchaus eine Wertung.

Weiterhin wird angegeben, dass die Pole einander bedingen. Die Bedingtheit wird dadurch erklärt, dass der eine Pol nur im Zusammenhang mit dem anderen definiert werden kann, wie etwa Tag und Nacht oder heiß und kalt. Dieser Begriff der Bedingtheit bezieht sich aber nicht auf ursächliche Zusammenhänge, sondern lediglich auf die Tatsache, dass die beiden Pole nur im Zusammenhang definiert werden können. Man könnte also lediglich von einer definitorischen Bedingtheit sprechen.

In den gesichteten philosophischen Lexika kommt das Wort „Polarität“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie sehr selten und in den beiden anderen nur marginal vor. Nur im Historischen Wörterbuch gibt es das Stichwort „Polarität“, in dem auf die Verwendung des Wortes im deutschen Idealismus (Schelling, Hegel), in der Lebensphilosophie (Klages, 1872-1956) und auf die Auffassung des Psychologen Albert Wellek (1904-1972) zur Polarität von Charaktereigenschaften eingegangen wird. Eine Explikation des Terminus, insbesondere seine Beziehungen zum Terminus Gegensatz, wird nicht vorgenommen. Es wird lediglich Hegel zitiert, der unter Polarität versteht „die Bestimmung des Verhältnisses der Notwendigkeit zwischen zwei Verschiedenen, die Eines sind, insofern mit dem Setzen des Einen auch das Andere gesetzt ist.“ Hegel stellt weiter heraus, dass in dem Begriff des Gegensatzes auch die Einheit des Gegensätzlichen enthalten ist, was im Begriff der Polarität nicht der Fall sei.

In der Linguistik wird neben einer weiten Bestimmung des Terminus als Oberbegriff für alle Arten von Gegensätzen eine engere Fassung vorgenommen. In Abgrenzung zu äquipollenten Gegensätzen, bei denen die Glieder des Gegensatzpaares nicht durch Negation oder Graduierung auseinander hervorgehen, gibt es bei polaren Gegensätzen einen „positiven“ und einen „negativen“ Pol. Dabei kann zwischen »Richtungspolarität« (oberhalb/unterhalb) »Gradpolarität« (lang/kurz) und »Wertungspolarität« (gut/schlecht) unterschieden werden. In diesem Sinne sind äquipollente Gegensatzpaare wie Tag und Nacht, Frau und Mann oder schwarz und weiß keine Polaritäten im linguistischen Sinne.

Der linguistische Terminus Antonymie hat in seiner aktuellen Bedeutung als graduierbar- polare Lexeme enge Beziehungen zur Bedeutung von Polarität.

Die in den ausgewählten Zitaten aus den philosophischen Lexika als Polaritäten bezeichneten Gegensatzpaare können in folgender Weise gruppiert werden.

  • Äquipollente Gegensatzpaare: Herz und Kopf, vertraute eigene Welt und fremde Welt, männlich und weiblich, Sonne und Mond, Feuer und Wasser, Tag und Nacht, wachen und schlafen, USA und die Sowjetunion als Pole eines spannungsgeladenen internationalen Staatensystems
  • Dichotomien: Ich und Nicht-Ich
  • Psychischer Zustand und psychischer Prozess: Erregbarkeit und Erregung
  • Psychische Eigenschaften oder Prozesse mit entgegengesetztem Charakter: Zugewandtheit und Egozentrismus, Liebe und Hass, Gut und Böse, Normales und Pathologisches, Spontaneität und Rezeptivität, Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit, «Erleidnisvermögen» und «Wirkungsvermögen»
  • Element und System: Individuum und Staat, Individuum und Gesellschaft
  • Wissenschaften oder wissenschaftliche Methoden mit teilweise entgegengesetztem Charakter: natur- und geisteswissenschaftlichen Methoden, Materialismus und Immaterialismus, Naturalismus und Spiritualismus
  • philosophische Termini mit teilweise entgegengesetzten Merkmalen: Geist und Materie, Natur und Kultur
  • Nicht zuordbar: Aktivität, Freiheit, metaphysische Unendlichkeit, Idealismus und Leiden, Endlichkeit, Bedürfnis, Sensualismus; Denken und Anschauung; System und Leben; Geschmack und Genie; Ordnung und Fortschritt; Sein und Bewegung; Statik und Dynamik

Die Zusammenstellung ergibt eine große Vielfalt der Verwendung des Wortes „Polarität“ in den philosophischen Lexika. Eine einheitliche Verwendung ist nicht erkennbar. In den meisten Fällen, insbesondere bei äquivalenten Gegensatzpaare, ist es fraglich, ob von Polen im Sinne von Enden einer Skala gesprochen werden kann. Der einzige Fall, in dem dies sinnvoll erscheint, sind psychische Eigenschaften oder Prozesse mit entgegengesetztem Charakter. In diesen Fällen ist eine Graduierung der Gegensatzpaare möglich, woraus sich dann eine Skalierung des betrachteten Merkmals ergibt. Man kann etwa von mehr oder weniger großer Zugewandtheit oder Egozentrismus sprechen. Auch die Gefühle Liebe und Hass zwischen Personen sind skalierbar.

Insgesamt ergibt sich, dass es Wort Polarität aufgrund seiner dominierenden physikalischen Bedeutung in der Alltagssprache, den unterschiedlichen Bedeutungen in anderen Bereichen und der sehr unterschiedlichen Verwendung in der Philosophie wie auch der Linguistik kein geeigneter Terminus der neuen Philosophie ist. Hinzu kommt die sehr geringe Häufigkeit seines Auftretens.

Möglich wäre, skalierbare Gegensätze auch als polare Gegensätze zu bezeichnen. In dieser adjektivischen Verwendung ist die Bedeutung von „polar“ auch alltagssprachlich verständlich. Die Verwendung des ebenfalls möglichen linguistischen Terminus anonym, der in seiner neuen Bedeutung die Merkmale dieses Gegensatzes zu treffen beschreibt, ist für die alltagssprachliche Verwendung weniger sinnvoll.

Literaturverzeichnis

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Prechtl, Peter; Burkard, Franz-Peter (Hg.) (2008): Metzler Lexikon Philosophie. Begriffe und Definitionen. 3., erw. und aktualisierte Aufl. Stuttgart: Metzler. Online verfügbar unter https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/.

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Sandkühler, Hans Jörg; Borchers, Dagmar; Regenbogen, Arnim; Schürmann, Volker; Stekeler-Weithofer, Pirmin (Hg.) (2010): Enzyklopädie Philosophie. In drei Bänden mit einer CD-ROM. Hamburg: Meiner.

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