Hans-Dieter Sill, 26.03.2021
Zur Entwicklung von Schullehrbüchern
Zu denen Faktoren, die den Unterrichtsprozess in einem Unterrichtsfach wesentlich beeinflussen, gehören die zentrale Bereitstellung von Lehrbüchern und anderen Unterrichtsmitteln. Unter kapitalistischen Wirtschaftsverhältnissen ist die Bereitstellung von Lehrbüchern und Unterrichtsmaterialien Gegenstand des Marktes. Als Herausgeber einer Lehrbuchreihe zum Mathematikunterricht für die Klassen 5-10 war ich über zehn Jahre von 1995-2005 in diesen Prozess involviert. Im Ergebnis meiner eigenen Erfahrungen und aus Kenntnissen über andere Prozesse der Lehrbuchentwicklung kann ich folgendes feststellen.
- Die Entwicklung oder Überarbeitung eines Lehrbuches erfolgt in der Regel in einem kleinen Kreis von Experten. Dazu zählen vor allem Lehrkräfte, beteiligt sind oft auch Personen aus dem Bereich der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften. Die Einbeziehung von fachdidaktischen Wissenschaftlern ist wie in meinem Fall eher die Ausnahme. Dies hat zur Folge, dass dem Lehrbuch vor allem die eigenen Erfahrungen und Vorstellungen der beteiligten Personen zugrunde liegen.
- Ein Austausch zwischen den Entwicklungsgruppen von Lehrbüchern findet nicht statt. Ich habe mich bemüht, einen Erfahrungsaustausch von Lehrbuchherausgebern anzuregen, bin aber nur belächelt worden, da dies unter Konkurrenzbedingungen nicht denkbar sei.
- Auch mein Vorschlag, Schullehrbücher als Gegenstand didaktischer Forschung zu verwenden (Sill 1995), fand keine Resonanz. Aufgrund ihres hohen Verwendungsgrades im Unterricht und der enthaltenen Fülle didaktische und methodische Ideen bieten sie einen idealen Gegenstand für eine unterrichtsnahe didaktische Forschung. Zur Entwicklung einer eigenen Unterrichtsreihe habe ich mir über 20 verschiedene Lehrbuchwerke aller Schularten angesehen und sehr viele Anregungen für die eigene Arbeit erhalten. Ich war sehr überrascht über die Anzahl der unterschiedlichen Zugänge zu den einzelnen Themen.
- Forschungen in der Mathematikdidaktik führen selten zu konkreten Unterrichtsvorschlägen, was unter anderem auch an der bewussten Vermeidung eine Beschäftigung mit den aktuellen Schulbüchern liegt. Bei der von mir als alleiniger Herausgeber neu entwickelten Unterrichtsreihe hatte ich das Ziel, die Erfahrungen im Mathematikunterricht der DDR mit den neuesten didaktischen Erkenntnissen in der Bundesrepublik zu verbinden. Bei keinem der zentralen Themen des Mathematikunterrichts fand ich in der damaligen Zeit, das hat sich bis heute wenig geändert, Antworten auf konkreten Fragen der didaktisch fundierten und schülergerechten Aufbereitung der Themen.
- Um konkurrenzfähig zu bleiben werden Lehrbücher nach kurzer Zeit wieder überarbeitet, wobei vor allen gegebenen äußere Faktoren der Gestaltung eine Rolle spielen. Damit wird für Lehrkräfte eine kontinuierliche Arbeit über Jahre hinweg erschwert.
- Das Entwickeln von Mathematiklehrbüchern ist für die beteiligten Herausgeber und Autoren ein sehr einträgliches Geschäft, bei dem man leicht in wenigen Jahren einige 10.000 € verdienen kann. Der Absatz dieser Lehrbücher ist in der Regel gesichert und die Bezahlung erfolgt aus Steuergeldern. Die Verdienstmöglichkeiten verhärten die Fronten zwischen den Autorenteams weiter.
Die ökonomischen Rahmenbedingungen führen insgesamt zu einem für Lehrkräfte kaum überschaubaren Angebot von Materialien. Für das aktuelle Schuljahr 2020/21 stehen z. B. für Mathematiklehrkräfte in Nordrhein-Westfalen aus dem Schulbuchkatalog des Landes für Realschulen 10 und für Gymnasien in der Sekundarstufe I 5 Lehrwerke zur Auswahl.
Es wird eine wissenschaftliche Evaluation dieser Materialien bis hin zu gemeinsamen Diskussionen der Autoren und Verantwortlichen für die Einstellung von Unterrichtsmaterialien verhindert, da eine wissenschaftliche Analyse von Lehrbüchern und ihre wissenschaftlich fundierte Entwicklung prinzipiell nicht möglich ist. Durch die nicht abgestimmte Entwicklung von Lehrbüchern und die weit über den Bedarf hinaus produzierter Anzahl findet eine enorme Vergeudung gesellschaftlicher Ressourcen statt. Die fehlende Zusammenarbeit von Lehrbuchautoren vergeudet geistige Ressourcen in erheblichem Umfang. Insgesamt leiden unter diesen Verhältnissen die Schülerinnen und Schüler des Landes.
In einer nicht kapitalistischen Gesellschaft wird die Entwicklung von Lehrbüchern nicht mehr durch die Gesetze des Marktes bestimmt. Man kann für jedes Fach eine bestimmte Anzahl von unterschiedlichen Lehrbuchwerken konzipieren, die den spezifischen Interessen von Lehrkräften entsprechen. Für den Mathematikunterricht würden für weiterführende Schulen etwa 3-4 unterschiedliche Unterrichtsreihen ausreichen. Die wissenschaftliche Entwicklung und Evaluation von Lehrbüchern erfolgt als Dienstaufgabe von Hochschullehrern, Mitarbeitern in Bildungsinstituten und Schullehrkräften. Die Gewinne der Verlage, die sich in öffentlicher Hand befinden, werden für die Verbesserung der Rahmenbedingungen in der Schule und zur Fortbildung von Lehrkräften eingesetzt.
Literaturverzeichnis
Sill, Hans-Dieter (1995): Lehrbücher als Gegenstand didaktischer Forschungen. In: Kurt Peter Müller (Hg.): Beiträge zum Mathematikunterricht. Vorträge auf der 29. Bundestagung für Didaktik der Mathematik in Kassel. Kassel, 6. – 10.3. Hildesheim: Franzbecker, S. 444–447.