6.3 Aspekte des Wahrscheinlichkeitsbegriffs[1]
„So zeigt ein erster flüchtiger Gesamtüberblick, dass es wohl kaum einen anderen mathematischen Begriff gibt, der eine ähnliche Vielfalt verschiedenartiger Definitionen und gegensätzlicher Interpretationen aufweist, wie der Begriff der Wahrscheinlichkeit. … Dies macht den Wahrscheinlichkeitsbegriff zwar zu einem sehr interessanten, aber gleichzeitig wohl zu einem der problematischsten Begriffe für die Schule überhaupt.“ (Steinbring 1980, S. 1). Der Wahrscheinlichkeitsbegriff ist ein Grundbegriff der Stochastik und durchzieht mit seinen unterschiedlichen Facetten den gesamten Stochastikunterricht in der Schule wie ein roter Faden.
Wir konzentrieren uns bei der folgenden Analyse des Wahrscheinlichkeitsbegriffs auf ausgewählte Aspekte, die für den Stochastikunterricht in der Sekundarstufe I von Bedeutung sind. Dabei kommt linguistischen und insbesondere semantischen Analysen von Wörtern und Wortverbindungen eine große Bedeutung zu. Dies betrifft neben dem Substantiv „Wahrscheinlichkeit“ z. B. auch die Adverbien wahrscheinlich, möglich, sicher und unmöglich sowie die Substantive Chance und Risiko. Auf die Rolle der Sprache bei der Aneignung inhaltlicher Aspekte des Wahrscheinlichkeitsbegriffs wird insbesondere in der englischsprachigen Literatur hingewiesen (Jones et al. 2007). Im Englischen gibt es drei Wörter (probability, likelihood und chance), die in verschiedenen Zusammenhängen den Begriff Wahrscheinlichkeit bezeichnen.
Borovcnik (1992) hat in einer grundlegenden Arbeit das Verhältnis von intuitiven Vorstellungen zu stochastischen Begriffen und ihrer Verwendung in der „offiziellen“ Mathematik eingehend untersucht. Er betont dabei, dass die inhaltlichen Bedeutungen und die formalen Verwendungen in einem engen Wechselverhältnis stehen und „nicht ohne wesentlichen Bedeutungsverlust voneinander isoliert werden können“ (Borovcnik 1992, S. 10). Deshalb wollen wir im Folgenden inhaltliche und formale Aspekte nicht getrennt, sondern unter verschiedenen Gesichtspunkten in ihrem Wechselverhältnis betrachten.
In der Literatur und auch in Schulbüchern werden Aspekte des Wahrscheinlichkeitsbegriffs oft durch adjektivische Attribute zum Wort „Wahrscheinlichkeit“ oder „Wahrscheinlichkeitsbegriff“ zum Ausdruck gebracht. Man findet in entsprechenden Publikationen[2] meist folgende Bezeichnungen:
- Laplace-Wahrscheinlichkeit oder klassische Wahrscheinlichkeit,
- objektive Wahrscheinlichkeit,
- frequentistische, statistische oder empirische Wahrscheinlichkeit,
- subjektive, subjektivistische oder epistemische Wahrscheinlichkeit.
Weiterhin gibt es u. a. noch folgende Wortverbindungen:
- axiomatische (Wolpers 2002), theoretische (Jones et al. 2007) oder formale (Borovcnik 1992) Wahrscheinlichkeit,
- prognostische Wahrscheinlichkeit (Riemer 1991).
Wir werden uns in den folgenden Abschnitten mit Problemen dieser Bezeichnungen und ihrer Verwendung auseinandersetzen sowie eigene Vorschläge für geeignete Vorgehens- und Sprechweisen im Unterricht unterbreiten, die sich an Aspekten der Prozessbetrachtung orientieren.
6.3.1 Objektive und subjektive Wahrscheinlichkeit aus Sicht der Prozessbetrachtung
Ein zentrales Thema in vielen Diskussionen zum Wahrscheinlichkeitsbegriff ist das Verhältnis von sogenannten „objektiven“ und „subjektiven“ Wahrscheinlichkeiten. Damit bezeichnet man bestimmte Auffassungen von der Natur des Wahrscheinlichkeitsbegriffs, die sich teilweise diametral gegenüber stehen. Anhänger dieser beiden Interpretationen werden auch als „Objektivisten“ bzw. „Subjektivisten“ oder „Bayesianer[3]“ bezeichnet. Damit verbunden spricht man von zwei unterschiedlichen Theorien der Wahrscheinlichkeitsrechnung, der klassischen Statistik und der Bayes-Statistik, die beide insbesondere beim Interpretieren statistischer Daten und Zusammenhänge mit wahrscheinlichkeitstheoretischen Mitteln unterschiedliche Methoden verwenden. Beide Theorien stützen sich auf den gleichen axiomatischen Aufbau der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Dies zeigt, dass sich aus dem Axiomensystem keine der beiden Interpretationen ableiten lässt.
Der Stochastikunterricht in der Schule kann sich diesem Spannungsfeld zwischen den unterschiedlichen Auffassungen zum Wahrscheinlichkeitsbegriff nicht entziehen. Bereits bei elementaren Anwendungen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs aber vor allem bei der Behandlung von Problemen der beurteilenden Statistik in der Oberstufe stößt man unweigerlich auf die beschriebenen Probleme, was im Folgenden verdeutlicht werden soll.
Bei der objektiven bzw. klassischen Auffassung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs werden Wahrscheinlichkeiten als Objekten zukommende Eigenschaften angesehen, die unabhängig von einem erkennenden Subjekt existieren. Eng verbunden mit dieser Auffassung ist die Forderung, dass die Vorgänge beliebig oft unter gleichen Bedingungen wiederholt werden können und dabei die relative Häufigkeit des betrachteten Ergebnisses sich der Wahrscheinlichkeit des Ergebnisses im stochastischen Sinne beliebig genau annähert. Die Wahrscheinlichkeit wird als ein Häufigkeitsmaß angesehen und muss immer mit Massenerscheinungen verbunden sein. Wird zum Beispiel mit einem Quader gewürfelt, so gibt es nach dieser Auffassung eine objektive Wahrscheinlichkeit für jede der sechs Seiten, die sich aus den geometrischen und physikalischen Eigenschaften des Quaders ergibt. Die Wahrscheinlichkeit für ein mögliches Ergebnis lässt sich näherungsweise durch wiederholten Ablauf des Vorgangs und Bestimmung der Häufigkeit des Auftretens dieses Ergebnisses ermitteln. Für Vorgänge, die nicht wiederholbar sind, wie etwa ein Fußballspiel, ist nach dieser Auffassung die Angabe einer Wahrscheinlichkeit für das zu erwartende Ergebnis sinnlos.
Die subjektive bzw. intuitive Auffassung des Wahrscheinlichkeitsbegriffes geht davon aus, dass eine Wahrscheinlichkeit wie etwa beim Würfeln mit einem Quader niemals exakt sondern immer nur näherungsweise bestimmt werden kann. Es ist deshalb nicht sinnvoll, die objektive Existenz der Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Die Angabe von Wahrscheinlichkeiten ist immer an ein Subjekt gebunden und deshalb abhängig von den Kenntnissen des Objektes. Eine Wahrscheinlichkeit ist aus dieser Sicht deshalb auch nicht an die Wiederholbarkeit eines Vorgangs gebunden. Hypothesen als Vermutungen über künftige Ergebnisse besitzen eine Wahrscheinlichkeit. Ausgewiesene Vertreter dieser Richtung in der deutschen Mathematikdidaktik sind Riemer (1991) und Wickmann (1990). Ein umfassender Vergleich beider Auffassungen wurde u. a. von Borovcnik (1992), Buth (1996), Wickmann (1998) und in einer neueren Publikation von Spandaw (2013) vorgenommen, der in verständlicher Weise Argumente für und gegen beide Auffassungen zusammenstellt und Vorschläge für den Mathematikunterricht unterbreitet.
Wir sind der Auffassung, dass in der Schule beide Auffassungen in angemessener Weise berücksichtig werden sollten. Das ist auf der Grundlage unserer Prozessbetrachtung möglich. Da wir zunächst immer einen einzelnen Vorgang betrachten und die Wiederholbarkeit gesondert thematisieren, können beide Sichtweisen eingeordnet werden. Wie im Folgenden dargestellt wird, unterscheiden wir dazu zwei verschiedene Arten stochastischer Vorgänge. Dieser Ansatz liegt unseren Unterrichtsvorschlägen in den Kapiteln 3 bis 5 zu Grunde. Er ist nicht als expliziter Gegenstand des Unterrichts gedacht, sondern sollte zum Hintergrundwissen einer Lehrkraft gehören und Orientierungen zur Auswahl von Lehrinhalten und zur Interpretation von Wahrscheinlichkeiten geben.
Zur ersten Art von stochastischen Vorgängen zählen wir solche, deren Objekte reale Dinge oder Personen sind. Dazu gehören z. B. das Werfen eines Würfels, der Weitsprung eines Schülers oder die Produktion eines Schrankes.
Werden Merkmale dieser Vorgänge betrachtet, wie etwa die geworfene Augenzahl, die Sprungweite oder die Anzahl der Fehler bei einem produzierten Schrank, so haben alle möglichen Ergebnisse eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, die sich aus den konkreten Bedingungen des betreffenden Vorgangs ergibt. Diese Vorgänge müssen nicht beliebig oft unter gleichen Bedingungen wiederholbar sein. Auch für einen einzelnen nicht wiederholbaren Vorgang wie etwa ein Fußballspiel gibt es eine Wahrscheinlichkeit für die möglichen Ergebnisse. Diese ergeben sich aus den im Verlauf des Spiels relativ konstanten Bedingungen wie der Leistungsfähigkeit der beiden Mannschaften aber auch aus sehr variablen Bedingungen etwa beim Schießen des Balls, insbesondere beim Schuss auf ein Tor. Die meisten Unterrichtsvorschläge in unserem Buch betreffen diese Art von stochastischen Vorgängen.
Die Objekte einer zweiten Art von stochastischen Vorgängen sind die Gedanken von Menschen zu Ergebnissen eines Vorgangs der ersten Art. Zu den Bedingungen, unter denen die Überlegungen bzw. Erkenntnisprozesse ablaufen, gehören die fachlichen Kenntnisse der betreffenden Person aber vor allem auch die ihr zur Verfügung stehenden Informationen über den realen Vorgang in Form von Daten. Die Wahrscheinlichkeitsaussagen sind an die Personen und ihre Erkenntnisfähigkeiten gebunden und stellen subjektive Einschätzungen der objektiven Wahrscheinlichkeiten dar. Die personenbezogenen Wahrscheinlichkeiten der Aussagen können sich ändern, wenn die Personen weitere Informationen über den realen Vorgang erhalten. Man kann bei Vorgängen der zweiten Art folgende Fälle unterscheiden.
- Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit künftiger Ergebnisse
Dazu gehören Überlegungen zum nächsten Wurf eines Würfels oder dem nächsten Weitsprung eines Schülers. Die Überlegungen führen zu einer subjektiven Schätzung der Wahrscheinlichkeit von Ergebnissen. Bei genauer Kenntnis der Bedingungen des Vorgangs können diese Schätzungen der tatsächlichen Wahrscheinlichkeit sehr nahekommen.
- Überlegungen einer Person zur Wahrscheinlichkeit eingetretener aber ihr unbekannter Ergebnisse
Beispiele für diesen Fall sind Überlegungen zu der gewürfelten aber unbekannten Augenzahl, zur eingetretenen aber unbekannten Krankheit eines Patienten oder zur Ursache für einen Defekt in einem Gerät. Überlegungen dieser Art beschäftigen sich mit Wahrscheinlichkeitsaussagen über einen „unbekannten Zustand“ der Welt (Wickmann 1990, S. 13). Je mehr Informationen über den unbekannten Zustand vorhanden sind, umso genauer kann die Wahrscheinlichkeit möglicher Ergebnisse ermittelt werden.
Ein Vergleich dieser beiden unterschiedlichen Arten von Vorgängen mit den dargestellten objektivistischen und subjektivistischen Auffassungen zum Wahrscheinlichkeitsbegriff zeigt, dass bei subjektiven, d.h. von Personen angegebenen Schätzungen von Wahrscheinlichkeiten verschiedene Fälle zu unterscheiden sind. Es gibt unterschiedliche Arten von subjektiven Wahrscheinlichkeiten, die getrennt betrachtet werden sollten. Der von den Bayesianern verwendete Begriff der subjektiven Wahrscheinlichkeit betrifft nur den zweiten Fall von Vorgängen der zweiten Art.
Die Beziehungen zwischen den beiden Arten von Vorgängen sind bei genauerer Betrachtung allerdings weitaus vielschichtiger, als es hier vereinfachend dargestellt werden konnte. So können etwa auch die Überlegungen von bestimmten Personen als ein realer (objektiver) Vorgang angesehen werden, zu denen andere Personen wiederum Überlegungen anstellen.
Insgesamt gesehen ist es aus unserer Sicht in der Schule und auch in der Didaktik nicht sinnvoll, von einem objektiven bzw. subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff zu sprechen. Es gibt, entsprechend unserer Auffassungen zum epistemologischen Status von Begriffen, nur einen Wahrscheinlichkeitsbegriff, der verschiedene Aspekte hat. Diese ergeben sich aus seinen Bedeutungen in verschiedenen Kontexten. Man sollte also z. B. nur von dem objektiven oder subjektiven Aspekt des Wahrscheinlichkeitsbegriffs sprechen. Dies sind aber Metabetrachtungen, die kein Gegenstand des schulischen Stochastikunterrichts sein sollten. Im Unterricht sollte nach unserer Auffassung von Beginn an nur das Wort „Wahrscheinlichkeit“ ohne weitere Zusätze verwendet werden. Wenn die Schüler im Laufe des Unterrichts mit den verschiedenen Bedeutungen dieses Wortes in entsprechenden Zusammenhängen vertraut gemacht werden, bildet sich bei ihnen ein System von Gedanken aus, das den Aspekten des Wahrscheinlichkeitsbegriffs entspricht. Mit der immanenten Berücksichtigung der beiden Arten stochastischer Vorgänge können ohne explizite Betrachtungen oder Begrifflichkeiten die Intensionen beider Richtungen im Unterricht sinnvoll erfasst werden.
Zum objektiven Aspekt des Wahrscheinlichkeitsbegriffs können u. a. folgende Vorstellungen gezählt werden.
- Wahrscheinlichkeiten geben den Grad der Möglichkeit des Eintretens von Ergebnissen zufälliger Vorgänge in der Natur oder der Gesellschaft an.
- Die Wahrscheinlichkeit der Ergebnisse hängt von Bedingungen des Vorgangs ab.
- Die Wahrscheinlichkeit der Ergebnisse wird durch das Denken eines Menschen, der den Vorgang untersucht, nicht beeinflusst, d.h. sie existiert unabhängig („objektiv“). Ein Mensch kann sie nur möglichst genau schätzen oder bestimmen.
Als subjektiven Aspekt des Wahrscheinlichkeitsbegriffs bezeichnen wir ein System von Vorstellungen, zu dem folgende Aspekte gehören
- Wahrscheinlichkeiten können den Grad der Sicherheit einer Person zu Ergebnissen ihrer Denkvorgänge über ein eingetretenes aber unbekanntes Ergebnis eines zufälligen Vorgangs angeben, die als Vermutungen (Hypothesen) geäußert werden.
- Die Wahrscheinlichkeit der geäußerten Vermutungen hängt von den Kenntnissen der Person und den ihr bekannten Informationen über das eingetreten Ergebnis und Bedingungen des Vorgangs ab.
- Die Wahrscheinlichkeit der Vermutungen kann sich bei weiteren Informationen, die die Person erhält, ändern.
6.3.2 Ermitteln von Wahrscheinlichkeiten
Zur Diskussion von weiteren Aspekten des Wahrscheinlichkeitsbegriffs und der genannten unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsbegriffe soll im Folgenden von der Frage ausgegangen werden, wie Wahrscheinlichkeiten ermittelt werden können.
Es gibt keine explizite Definition oder einen Satz, auf deren Grundlage man die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses allgemein berechnen kann. Der Begriff Wahrscheinlichkeit ist ein Grundbegriff, der durch Axiome festgelegt wird und nicht mithilfe anderer Begriffe definierbar ist. Es sind lediglich drei Axiome erforderlich, um die gesamte Wahrscheinlichkeitsrechnung axiomatisch aufzubauen (Kütting u. Sauer 2011, S. 97 ff.). Dieser Nachweis gelang erstmalig im Jahre 1933 dem sowjetischen Mathematiker A. N. Kolmogorov (1903-1987). Für den Fall einer endlichen Ergebnismenge kann der Begriff Wahrscheinlichkeit in folgender Weise axiomatisch festgelegt werden (Kütting u. Sauer 2011, S. 98).
Sei Ω eine nicht leere, endliche Ergebnismenge und sei P : P (Ω) → R
eine Abbildung (Funktion) P der Potenzmenge P (W) in die Menge der reellen Zahlen R. Dann heißt die Abbildung P ein Wahrscheinlichkeitsmaß (eine Wahrscheinlichkeitsverteilung) genau dann, wenn gilt
- P(A) ≥ 0 für alle A ∈ P (Ω)
- P(Ω) = 1
- P(A ∪ B) = P(A) + P(B) für alle A, B ∈ P (Ω) mit A ∩ B = ∅
P(A) heißt die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses A.
Für abzählbar und überabzählbar unendliche Ergebnismengen müssen geeignete Erweiterungen der Definitionsmenge der Wahrscheinlichkeit erfolgen (vgl. Kütting u. Sauer 2011, S. 286 ff.)
Der auf diese Weise auf der formalen Ebene axiomatisch festgelegte Wahrscheinlichkeitsbegriff wird auch als axiomatischer bzw. formaler Wahrscheinlichkeitsbegriff bezeichnet. Teilweise wird auch von einer axiomatischen Definition des Wahrscheinlichkeitsbegriffs gesprochen. Dies halten wir nicht für sinnvoll, da das Wort „Wahrscheinlichkeit“ im Axiomensystem lediglich eine Variable ist, die erst in einem Modell des Axiomensystems eine Bedeutung erhält (Buth 1996, S. 5). In den bekannten Modellen des Axiomensystems wird allerdings das gleiche Wort verwendet, was das Verständnis des Zusammenhangs erschwert.
Wahrscheinlichkeiten müssen also auf andere Arten ermittelt werden. Die Reihenfolge der im Folgenden genannten folgenden Möglichkeiten entspricht in etwa der zeitlichen Folge ihrer Realisierung im Unterricht.
Einschätzung der Wahrscheinlichkeit auf der Grundlage von persönlichen Erfahrungen, Kenntnissen oder Vorstellungen
Die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses kann von einer Person auf der Grundlage von Kenntnissen dieser Person über Bedingungen des Vorgangs geschätzt werden. Dies sind stochastische Vorgänge der zweiten Art, wie sie im vorherigen Abschnitt beschrieben wurden. Die so ermittelten Wahrscheinlichkeiten sollten aus sprachlich-logischer Sicht nicht, wie es in der Literatur oft üblich ist, als subjektive oder intuitive Wahrscheinlichkeiten bezeichnet werden, sondern als Schätzungen von Wahrscheinlichkeiten. So werden etwa Schätzungen von Größenangaben auch nicht als subjektive Größen bezeichnet.
Beim Schätzen von Wahrscheinlichkeiten allein auf der Grundlage von persönlichen Erfahrungen, Kenntnissen und Vorstellungen kann es zu Abweichungen von dem tatsächlichen Wert der Wahrscheinlichkeit kommen. Wenn es sich um verbreitet auftretende große Abweichungen handelt, wird meist von stochastischen Fehlintuitionen gesprochen. Diese Fälle sind Gegenstand zahlreicher insbesondere psychologischer Forschungen und werden oft als ein besonderes Problem der Ausbildung stochastischen Wissens und Könnens angesehen. Fehlerhafte Schätzungen sind aber an sich nichts Ungewöhnliches, sie treten auch beim Schätzen von Größen wie etwa bei Volumina oder großen Anzahlen auf.
Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten auf der Grundlage von Modellannahmen
Damit erfolgt der Übergang von der Ebene der realen stochastischen Vorgänge zur Ebene der Realmodelle. Der für die Schule bedeutsamste Fall ist die Annahme einer Gleichverteilung, d. h. der gleichen Wahrscheinlichkeit für alle möglichen Ergebnisse eines Vorgangs. Ein prototypisches Beispiel ist das Würfeln mit einem normalen Spielwürfel. Unter der Annahme, dass aufgrund des symmetrischen und homogenen Aufbaus des Würfels die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten aller Augenzahlen gleich ist, kann die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Ergebnisse des Vorgangs bei Betrachtung eines Merkmals wie etwa der Augenzahl berechnet werden. Die Formel zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit wird Laplace-Formel genannt, nach dem französischen Mathematiker und Physiker Pierre-Simon (Marquis de) Laplace (1749-1827), der als einer der Ersten auf diese Weise Wahrscheinlichkeiten berechnete. Die so ermittelten Wahrscheinlichkeiten werden oft Laplace-Wahrscheinlichkeiten oder klassische Wahrscheinlichkeiten genannt. Wir halten die Verwendung dieser Bezeichnungen in der Schule nicht für sinnvoll, da es sich nicht um einen speziellen Wahrscheinlichkeitsbegriff handelt, sondern um eine Möglichkeit zur Ermittlung von Wahrscheinlichkeiten bei bestimmten Modellannahmen. Daher sollte von der Laplace-Formel zur Ermittlung von Ereignis-Wahrscheinlichkeiten im Fall von gleichwahrscheinlichen Ergebnissen gesprochen werden.
Bestimmung der Wahrscheinlichkeit auf der Grundlage von Daten aus Beobachtungen oder Experimenten
Wenn es möglich ist, die Vorgänge unter gleichen bzw. im Wesentlichen gleichen Bedingungen mehrfach zu wiederholen, kann die Wahrscheinlichkeit eines Ergebnisses auf der Grundlage der ermittelten Häufigkeiten geschätzt werden. Im Rahmen der mathematischen Theorie bei Voraussetzung einer Wiederholung unter genau gleichen Bedingungen lässt sich beweisen, dass mit zunehmender Anzahl von Wiederholungen die relative Häufigkeit des Ergebnisses im stochastischen Sinne gegen seine Wahrscheinlichkeit strebt (Gesetz der großen Zahlen, Kütting u. Sauer 2011, S. 180). In der Realität ist immer nur eine endliche Anzahl von Wiederholungen und in den seltensten Fällen auch unter genau gleichen Bedingungen möglich. Mit Mitteln der Wahrscheinlichkeitsrechnung kann aber in diesen Fällen eine sinnvolle Schätzung der Wahrscheinlichkeit durch Angabe eines bestimmten Konfidenzintervalls vorgenommen werden. Im Unterricht lassen sich die Zusammenhänge durch Simulationen veranschaulichen.
Die so ermittelten Wahrscheinlichkeiten werden oft als frequentistische Wahrscheinlichkeiten bezeichnet. Wir halten auch diese Formulierung in der Schule nicht für sinnvoll, da es sich nicht um einen neuen Wahrscheinlichkeitsbegriff handelt und die Zusammenhänge von Wahrscheinlichkeit und relativer Häufigkeit auch ohne diese Bezeichnung diskutiert werden können. Mit der Bezeichnung „frequentistische Wahrscheinlichkeit“ ist in Schulbüchern teilweise eine einseitige Sicht auf den Wahrscheinlichkeitsbegriff verbunden, wenn diese Bezeichnung bei der Erarbeitung des empirischen Gesetzes der großen Zahlen eingeführt und sogar der Begriff Wahrscheinlichkeit auf diese Weise erklärt wird. Dadurch besteht die Gefahr, dass die Schüler den Wahrscheinlichkeitsbegriff mit langen Versuchsreihen unter gleichen Bedingungen und oft auch eng mit Zufallsgeräten verbinden. Es wird dann in der Regel nicht thematisiert, dass auch relative Häufigkeiten aus statistischen Untersuchungen Grundlage für Wahrscheinlichkeitsangaben sein können.
Bestimmen der Wahrscheinlichkeit auf der Grundlage bereits bekannter Wahrscheinlichkeiten
Mit Regeln und Sätzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung können aus bekannten Wahrscheinlichkeiten von Ergebnissen die Wahrscheinlichkeiten für weitere Ergebnisse bzw. Ereignisse berechnet werden. Zwei Möglichkeiten spielen in der Schule eine wichtige Rolle. Eine davon ist das Berechnen von Wahrscheinlichkeiten für Ereignisse mit der Additionsregel. In der Sekundarstufe I sollten nur die Ereignisse betrachtet werden, die sich aus disjunkten Ereignissen, insbesondere aus möglichen Ergebnissen durch „Oder-Verknüpfungen“ bilden lassen. Dazu ist es ausreichend, die Wahrscheinlichkeiten der Ergebnisse zu addieren, die das Ereignis bilden.
Eine weitere Möglichkeit ist die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten für zusammengesetzte Ergebnisse bei mehrstufigen Vorgängen. Wir plädieren für die Anwendung von Pfadregeln, die anhand eines Baumdiagrammes visualisiert werden. Diese Methode ist für alle mehrstufigen Vorgänge anwendbar.
Mehrstufige stochastische Vorgänge können auch mithilfe eines Urnenmodells in die Sprache der Mathematik übersetzt werden. Urnenmodelle haben einen Modellcharakter und existieren nur in der Vorstellung. Reale Ziehungen oder Verteilungen von Objekten, die sich mit dem Urnenmodell beschreiben lassen, genügen oft nicht der wesentlichen Bedingung, dass bei jeder Ziehung alle Objekte die gleiche Wahrscheinlichkeit haben, gezogen zu werden. Die Urnen werden im Unterricht häufig auf der Realebene als reale Lostrommeln oder Behälter beschrieben, aus denen „jemand“ ohne hineinzusehen Kugeln zieht. Allerdings wirken die beschriebenen Vorgänge meistens ausgedacht, da kein Grund angegeben wird, warum ein Mensch aus einer Schale mit bunten Kugeln nacheinander zwei mit geschlossenen Augen oder aus einem Stapel mit verdeckten Spielkarten zwei Karten nacheinander ziehen sollte. Dadurch vermischen sich oft die Realebene und die Modellebene für Schüler und die Urnenaufgaben wirken künstlich. Bei der Modellierung stochastischer Situationen durch Urnenmodelle werden die Wahrscheinlichkeitsberechnungen wegen der zugrunde gelegten zufälligen Auswahl eines Objektes auf Laplace-Wahrscheinlichkeiten zurückgeführt und häufig kombinatorische Regeln zur Anzahlbestimmung für günstige und mögliche Ergebnisse verwendet. Wir schlagen vor, die Modellierung durch Urnenmodelle nur an wenigen Beispielen im gymnasialen Bildungsgang exemplarisch zu thematisieren.
Zusammenfassend ergab die Diskussion erneut, dass die Einführung von verschiedenen Wahrscheinlichkeitsbegriffen aus Sicht eines Schülers verwirrend und aus theoretischer Sicht problematisch ist. Anstelle etwa von einem axiomatischen Wahrscheinlichkeitsbegriff zu sprechen, sollte der Gedanke bei Schülern ausgebildet werden, dass nicht definiert werden kann, was eine Wahrscheinlichkeit ist, sondern diese auf andere Art und Weise ermittelt werden muss. Man sollte nicht die Bezeichnung Laplace- oder klassische Wahrscheinlichkeit einführen, sondern vermitteln, dass man bei der Modellannahme einer Gleichverteilung Wahrscheinlichkeiten mit der Laplace-Formel berechnen kann.
6.3.3 Qualitative Angabe von Wahrscheinlichkeiten
Wahrscheinlichkeiten können auf verschiedene Weise qualitativ oder numerisch angegeben werden. In der Primarstufe ist nur eine qualitative Beschreibung möglich, diese wird aber auch in der Sekundarstufe zur Interpretation von quantitativen Wahrscheinlichkeitsangaben benötigt.
Vergleichen von Wahrscheinlichkeiten
Als eine erste Stufe der Angabe von Wahrscheinlichkeiten kann das Vergleichen der Wahrscheinlichkeit von Ergebnissen eines Vorgangs angesehen werden. Dies wird auch als komparativer Aspekt des Wahrscheinlichkeitsbegriffs bezeichnet. Zum Vergleichen von Wahrscheinlichkeiten ist es nicht erforderlich einen konkreten Wert zu kennen oder geschätzt zu haben. Bei der Entwicklung inhaltlicher Vorstellungen zum Wahrscheinlichkeitsbegriff beginnend in der Primarstufe sollte als erster Schritt ein Vergleichen von Wahrscheinlichkeiten erfolgen.
Qualitative Angabe von Wahrscheinlichkeiten
Wahrscheinlichkeiten können durch verbale Formulierungen qualitativ zum Ausdruck gebracht werden. In einer ersten Phase der qualitativen Angabe sind folgende fünf Sprechweisen ausreichend: unmöglich (p = 0), weniger wahrscheinlich (0 < p < 0,5), fifty-fifty (p = 0,5), eher wahrscheinlich (0,5 < p < 1) und sicher (p = 1).
Bei der Verwendung der Wörter „unmöglich“ und „sicher“ sind allerdings die folgenden Probleme zu beachten. Oft werden diese Begriffe als Fachbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung bezeichnet, was aber nur bedingt zutrifft. Auf der theoretischen Ebene gibt es die Begriffe „unmögliches Ereignis“ und „sicheres Ereignis“, die Bezeichnung „mögliches Ereignis“ dagegen nicht. Das unmögliche und das sichere Ereignis gehören zudem aus theoretischer Sicht zu den Elementen des Ereignisfeldes, also zu den „zufälligen Ereignissen“. Inhaltlich kann man sie aber nicht als „zufällig“ bezeichnen. In der umgangssprachlichen Verwendung haben die Wörter mehrere Bedeutungen, was im Unterricht beachtet werden sollte. Als Adverb bedeutet das Wort „sicher“ (Kunkel-Razum et al. 2003, S. 1449), dass etwas höchstwahrscheinlich, mit ziemlicher Sicherheit passiert, z. B.: Sicher kommt er bald. Er hat es sicher vergessen. Die zweite Bedeutung ist gewiss, sicherlich, ohne Zweifel, z. B.: Das ist sicher richtig. Nur in der zweiten Bedeutung geht es um ein Ereignis, das mit der Wahrscheinlichkeit 1 eintritt. In der ersten Bedeutung kann die Wahrscheinlichkeit auch kleiner als 1 sein. Um diese Interpretation auszuschließen, sollte im Unterricht mit entsprechenden Zusätzen gearbeitet werden, wie etwa: ganz sicher, absolut sicher, völlig sicher, mit absoluter Sicherheit, mit 100%iger Sicherheit.
Das Wort „unmöglich“ hat neben den Bedeutungen „nicht durchführbar“, „nicht denkbar“, die einem Ereignis mit der Wahrscheinlichkeit 0 entspricht, auch umgangssprachlich die Bedeutung des Nichtzulässigen, Nichttragbaren, Nichtvertretbaren, Nichtanständigen (Kunkel-Razum et al. 2003, S. 1661), z. B.: Du hast dich unmöglich verhalten. In dieser Bedeutung kann das Wort „unmöglich“ nicht zur Beschreibung eines Ergebnisses mit der Wahrscheinlichkeit 0 verwendet werden.
6.3.4 Angabe von Wahrscheinlichkeiten durch Chancen
Anstelle von Wahrscheinlichkeit wird im Alltag auch oft von Chancen gesprochen. Zwischen beiden Begriffen gibt es enge Beziehungen. Wenn die Wahrscheinlichkeit für ein Ereignis groß ist, sind auch die Chancen für das Eintreten dieses Ereignisses groß und umgekehrt. In der Literatur, insbesondere auch in Schulbüchern werden diese Begriffe deshalb auch oft synonym verwendet, was fachlich nicht korrekt ist. Dies ist bereits bei der Angabe der Wahrscheinlichkeit 0,5 durch die Chancen 1 : 1 (oder fifty-fifty) ersichtlich.
Unter den Chancen (engl. Odds) für das Eintreten eines Ereignisses A versteht man das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit von A zur Wahrscheinlichkeit des Gegenereignisses. Die Chancen eines Ereignisses A werden mit O(A) bezeichnet. O(A) = P(A)/P(Ā)
Im Falle der Gleichverteilung entspricht diesem Verhältnis das Verhältnis der Anzahl der für A günstigen zur Anzahl der für A nicht günstige Möglichkeiten. Chancen werden in der Regel als Verhältnis angegeben. So sind die Chancen für das Werfern einer 6 unter der Annahme der Gleichverteilung 1 : 5.
Oft werden bei Spielen die Gewinnchancen bestimmt, um etwa zu entscheiden, ob das Spiel fair ist. Gilt O(A) = O(B), so ist auch P(A) = P(B), d. h. bei gleichen Gewinnchancen sind auch die Gewinnwahrscheinlichkeiten gleich. Um zu beurteilen, ob ein Spiel fair ist, müssen also nur die Gewinnchancen der Spieler verglichen werden.
Mit der Angabe von Chancen kann weiterhin in bestimmten Fällen ein multiplikativer Vergleich von Wahrscheinlichkeiten vorgenommen werden. Sind etwa die Chancen für ein Ereignis A 10 : 1, so ist die Wahrscheinlichkeit von A zehnmal so groß wie die Wahrscheinlichkeit des Gegenereignisses. Allgemein gilt: Ist O(A) = k : 1, so ist P(A) = k ∙ P(Ā).
Borovcnik (1992) hat sich ausführlich mit der Bedeutung und den Möglichkeiten der Arbeit mit Chancenverhältnissen insbesondere zur intuitiven Aufklärung des Bayes-Ansatzes beschäftigt. Mit der Angabe von Chancen für ein Ereignis wird damit außerdem der Verhältnisbegriff vorbereitet.
6.3.5 Interpretieren von Wahrscheinlichkeiten
Neben den verschiedenen Möglichkeiten zur Ermittlung von Wahrscheinlichkeiten sollten Schüler im Stochastikunterricht auch mit Möglichkeiten zum Interpretieren der ermittelten Wahrscheinlichkeiten vertraut gemacht werden. Die Interpretation von Wahrscheinlichkeiten steht in engem Zusammenhang mit den im Kapitel 6.3.1 diskutierten Auffassungen zum Wahrscheinlichkeitsbegriff. Die im Folgenden vorgeschlagenen Interpretationsmöglichkeiten beruhen auf unserem Ansatz zur Berücksichtigung von objektivistischen und subjektivistischen Auffassungen durch Betrachtung unterschiedlicher Arten stochastischer Vorgänge (vgl. 6.3.1).
Aussagen zum zukünftigen Eintreten von Ergebnissen
Vor dem Ablauf eines Vorgangs können mithilfe von Wahrscheinlichkeitsangaben Aussagen über die möglichen Ergebnisse getroffen werden. Dabei kann es sich um bereits bekannte Wahrscheinlichkeiten oder auch um subjektive Schätzungen handeln. Mit der Wahrscheinlichkeitsaussage wird zum Ausdruck gebracht, wie sicher man sich sein kann, dass ein bestimmtes Ergebnis eintritt oder auch in welchem Maße man das Ergebnis erwarten kann. Diese Art der Interpretation kann als Grad der Sicherheit bzw. Grad der Erwartung bezeichnet werden. Der Begriff Erwartung ist dabei nicht mit dem Erwartungswert zu verwechseln. Der Grad der Erwartung ist eine Wahrscheinlichkeitsangabe, der Erwartungswert ist eine Größe oder eine reelle Zahl. So kann man vor dem nächsten Wurf eines Würfels auf der Grundlage der bekannten Wahrscheinlichkeit für eine 6 formulieren, dass man viel eher keine 6 als eine 6 erwarten kann
Aussagen über ein eingetretenes und bekanntes Ergebnis
Nach Ablauf eines Vorganges können auf der Grundlage der bekannten oder geschätzten Wahrscheinlichkeit des Ergebnisses geeignete Aussagen formuliert werden, die zum Ausdruck bringen, ob die Erwartungen erfüllt oder eher nicht erfüllt sind. Wenn eine 6 gewürfelt wurde, kann man sagen, dass dies eher nicht zu erwarten war, und kann sich darüber besonders freuen. Würfelt man keine 6, so muss man darüber nicht besonders erstaunt sein und wird im nächsten Wurf auf mehr Glück hoffen.
Aussagen über ein eingetretenes aber unbekanntes Ergebnis
Wenn das eingetretene Ergebnis eines stochastischen Vorganges einer Person nicht bekannt ist, so kann diese durch eine Wahrscheinlichkeitsaussage zum Ausdruck bringen, wie sicher sie sich ist, ob ein bestimmtes Ergebnis eingetreten ist. Die dabei angestellten Überlegungen der Person beruhen auf ihren Kenntnissen über den Vorgang und auf Informationen, die sie zu dem eingetretenen Ergebnis bekommt. Mit der Zunahme weiterer Informationen kann sich die Person immer sicherer sein, welches Ergebnis eingetreten ist. Auch diese Art der Interpretation einer Wahrscheinlichkeitsangabe kann als Grad der Sicherheit bezeichnet werden.
Vorhersagen der zu erwartenden Häufigkeit bei mehrmaligem Ablauf des Vorgangs unter gleichen Bedingungen
Wenn man den Vorgang unter gleichen Bedingungen mehrfach wiederholen kann, so sind Vorhersagen der zu erwartenden absoluten Häufigkeiten möglich. Diese entsprechen dem Erwartungswert der Wiederholungen der zugrunde gelegten Binomialverteilung. Wenn das Ergebnis die Wahrscheinlichkeit p hat und der Vorgang n-mal unabhängig voneinander wiederholt wird so ist der Erwartungswert für die Häufigkeit des Ergebnisses n∙p. Dies wird als Häufigkeitsinterpretation der Wahrscheinlichkeit bezeichnet. Die tatsächliche Häufigkeit kann von dem erwarteten Wert mehr oder weniger stark abweichen. Eine Vorhersage für die Häufigkeit des Ergebnisses „Zahl“ bei 30 Münzwürfen sollte in folgender Form erfolgen: Es ist etwa 15-mal das Ergebnis „Zahl“ zu erwarten, die Häufigkeit des Ergebnisses kann aber auch größer oder kleiner sein.
Zum Problem der Abweichung der absoluten Häufigkeit vom erwarteten Wert können folgende, allerdings anspruchsvolle Aussagen getroffen werden. Wenn die Wiederholung des Vorgangs sehr häufig durchgeführt wird, so ist das arithmetische Mittel der jeweils aufgetretenen absoluten Häufigkeiten ein immer besserer Näherungswert für den erwarteten Wert. Z. B. ist bei 30 Münzwürfen folgende Aussage möglich. Wenn man sehr oft dreißigmal eine Münze wirft, so schwankt das arithmetische Mittel der Häufigkeiten des Ergebnisses „Zahl“ immer weniger um 15. Dies wird als empirisches Gesetz der großen Zahlen für das arithmetische Mittel bezeichnet.
Interpretieren sehr kleiner und sehr großer Wahrscheinlichkeiten
Ereignisse mit sehr kleiner bzw. sehr großer Wahrscheinlichkeit spielen im alltäglichen Leben eine besondere Rolle. Sie sind entweder mit sehr großen Glücksmomenten (Hauptgewinn im Lotto spielen) oder großem Leid (tödlicher Autounfall) verbunden. Wir sehen es als eine Aufgabe der Vermittlung stochastischer Grundbildung an, Einstellungen zu solchen Ereignissen bei den Schülern auszubilden. Es sollte in diesem Zusammenhang die Einsicht vermittelt werden, dass Ereignisse mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit zwar äußerst selten vorkommen, dass aber bei einer genügend großen Zahl von Wiederholungen des Vorgangs die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Ereignis mindestens einmal auftritt, recht groß sein kann. Auf dieser Tatsache basieren z.B. die Argumente der Atomkraftgegner. Andererseits sollte aber auch verhindert werden, dass zu große Hoffnungen in Glücksfälle gesetzt werden bzw. zu große Befürchtungen vor Unglücksfällen bestehen. Nach Kitaigorodski (1977) sollten Ereignisse mit Wahrscheinlichkeiten kleiner als 10-6 von einem einzelnen Menschen vernachlässigt werden. In dieser Größenordnung liegen etwa die Wahrscheinlichkeiten für einen Hauptgewinn in einer Lotterie oder für einen tödlichen Autounfall. Für diese Ereignisse schlägt Richter (1956, S. 49) die Anwendung des Cournotschen Prinzips vor, dass Cournot (1801-1877) für wirtschaftliche Entscheidungen entwickelt hat. Wenn die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses sehr nahe bei 1 liegt, sollte man so handeln, als ob das Eintreten sicher wäre und bei einer Wahrscheinlichkeit nahe Null sollte man das Eintreten außer Acht lassen.
Literaturverzeichnis
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[1] Auszug aus Krüger et al. 2015, S. 233–247.
[2] Borovcnik 1992; Riemer 1991; Wolpers 2002; Büchter und Henn 2007; Eichler und Vogel 2009; Kütting und Sauer 2011; Spandaw 2013; Hawkins und Kapadia 1984; Hájek 2003; Jones et al. 2007
[3] Die Bezeichnung bezieht sich auf Thomas Bayes (1701-1761) den Namensgeber des Satzes von Bayes, der eine zentrale Rolle in dieser Wahrscheinlichkeitsauffassung spielt.
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