Gegenstände der Mathematikdidaktik[1]
Als Gegenstand der Mathematikdidaktik wird oft das Lehren und Lernen von Mathematik bezeichnet. Diese Beschreibung enthält zwar zutreffende Aspekte, bewegt sich aber auf einer allgemeinen Ebene, die noch weiter untersetzt werden kann. Es lassen sich drei Gegenstandsbereiche unterscheiden. Diese sollen im Folgenden am Beispiel des Arbeitens mit Größen charakterisiert werden, wobei auch kurz auf die historische Entwicklung der Mathematikdidaktik eingegangen wird.
Ziel- und Stoffdidaktik
Ein Gegenstand der Mathematikdidaktik sind die Funktionen, Ziele und stofflichen Inhalte des Mathematikunterrichts. Didaktische Arbeiten, die sich mit diesem Gegenstand beschäftigen können als Ziel- und Stoffdidaktik bezeichnet werden. Ausgehend von den gesellschaftlichen und kulturellen Anforderungen an den Mathematikunterricht sollen seine allgemeinen und speziellen Ziele und ihre Funktionen bestimmt und geeignete Inhalte ausgewählt werden. Eine wichtige Forschungsmethode sind stoffdidaktische Sachanalysen.
Entsprechende Fragestellungen für das Arbeiten mit Größen sind z. B.:
- Welche Funktion hat die Entwicklung des Könnens im Arbeiten mit Größen in Bezug auf die anderen Unterrichtsfächer?
- Welche Größen und welche Einheiten sollen im Mathematikunterricht angeeignet werden?
- Was sollen Schulabsolventen zu den Größen sicher beherrschen?
Selbst die Auffassungen zum Begriff „Größe“ sind ein Gegenstand stoffdidaktischen Sachanalysen. Der Begriff „Größe“ war lange ein Fachbegriff in der Arithmetik und Analysis, konnte aber dann nicht in hinreichender Weise allgemein definiert werden. Eine Größe kann z. B. nicht als Produkt aus Maßzahl und Maßeinheit aufgefasst werden. Heinz Griesel, ein Mithausgeber von zahlreichen und immer wieder weiterentwickelten Lehrbuchreihen, hat in einer grundlegenden Arbeit (1997) den Begriff „Größe“ als Mittler zwischen Realität und Mathematik in geeigneter Weise definiert und damit auch für das strittige Problem der Proportionalität von Größen eine sinnvolle Lösung gefunden.
Mittel- und Methodendidaktik
Ein zweiter Gegenstand der Mathematikdidaktik sind die im Unterricht einsetzbaren Mittel und Methoden, insbesondere mögliche Aufgaben zur Erreichung der Ziele. Dieser Bereich kann als Mittel- und Methodendidaktik oder im Speziellen als Aufgabendidaktik bezeichnet werden. Ziel der Forschungen ist es u. a. Aufgabenvorschläge oder auch komplexe Lerngelegenheiten, den Einsatz von Unterrichtsmitteln, insbesondere von digitalen Medien sowie methodische Gestaltungsformen zu erarbeiten und empirisch zu erproben. Für das Arbeiten mit Größen heißt dies z. B. günstige Vergleichsgrößen für Einheiten, verschiedene Methoden zum Umrechnen von Größen und geeignete Aufgaben zum Schätzen von Größen zu entwickeln und im Unterricht zu erproben.
Prozessdidaktik
Der Hauptgenstand der Mathematikdidaktik sind die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler im Unterricht, insbesondere alle lokalen und globalen Entwicklungsprozesse mathematischer Leistungs- und damit der verbundenen Verhaltenseigenschaften. Forschungsarbeiten im Rahmen dieser Prozessdidaktik sind sehr anspruchsvoll. Es müssen in geeigneter Weise die Bedingungen des Lernens erfasst werden. Dazu gehören die für das Thema aufgewendete Unterrichtszeit, die ausgewählten Aufgaben und methodischen Gestaltungsformen, die Besonderheiten in der Zusammensetzung des Klasse und auch die besonderen Kenntnisse und pädagogischen Fähigkeiten der Lehrperson. Weiterhin müssen mit geeigneten Verfahren die Ergebnisse des Unterrichts, also die Qualität der Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Schülerinnen und Schüler erfasst werden. Dabei geht es neben lokalen Prozessen vor allem um langfristige Entwicklungen des Wissens und Könnens. So haben in einer landesweiten Vergleichsarbeit in der Klassenstufe 9 in Mecklenburg-Vorpommern im Schuljahr 2002/03 nur 38,8 % aller Schülerinnen und Schüler (im gymnasialen Bildungsgang 55,0 %) 5 m3 in Liter umrechnen können. Es müssen die begrenzte Unterrichtszeit und die zeitlichen Relationen aller Entwicklungsprozesse beachtet werden.
Das Problem der Rückentwicklungen spielt wie in anderen Fächern, in denen es um kumulatives Lernen und sofortige Präsenz des Wissens und Könnens geht, eine zentrale Rolle. Was direkt nach der Behandlung eines Themas gewusst und gekonnt wurde, ist in lernpsychologisch gesetzmäßiger Weise schon nach kurzer Zeit nicht mehr in der bisherigen Qualität vorhanden. Deshalb gehört die permanente Wiederholung und Festigung des Gelernten zu den notwendigen Bestandteilen des Mathematikunterrichts. Das Verhältnis der aufgewendeten Unterrichtszeit für die Neuerarbeitung und die Festigung des Gelernten muss sich mit zunehmender Klassenstufe zu Gunsten der Festigung verändern, was im aktuellen Unterricht verbreitet nicht der Fall ist.
Dazu braucht man in der Schule aber konkrete Zeitempfehlungen. Überhaupt ist die begrenzte Unterrichtszeit eine wesentliche Rahmenbedingung der Prozessdidaktik. Es geht immer darum, in einer zur Verfügung stehenden Zeit optimale Lernergebnisse zu erzielen. Der Faktor Zeit ist für die Arbeiten in den beiden anderen Gegenstandsbereichen von geringerer Bedeutung, da es um die Bestimmung notwendiger Ziele und Inhalte bzw. die Erarbeitung von Möglichkeiten geht.
Man kann in vereinfachter Form die Ziel- und Stoffdidaktik als Didaktik des Notwendigen, die Mittel- und Methodendidaktik als Didaktik des Möglichen und die Prozessdidaktik als Didaktik des Machbaren bezeichnen. Alle drei Bereiche sind gleichermaßen wichtig und beeinflussen sich wechselseitig. Die Ergebnisse der Ziel- und Stoffdidaktik sind Grundlage für die Entwicklung von Mitteln und Methoden. Ohne die Ergebnisse der Mittel- und Methodendidaktik sind Arbeiten in der Prozessdidaktik nicht möglich. Aus der Begrenztheit des Machbaren ergeben sich Folgerungen für die Reduzierung und Gewichtung der Ziele und Inhalte. Dies bleibt heute leider oft allein den Lehrkräften überlassen.
Die Leistungen des Mathematikunterrichts und damit auch die der Mathematiklehrer werden in der Gesellschaft daran gemessen, was die Schulabsolventen in den nachfolgenden Bildungseinrichtungen wissen und können und dazu gibt es gegenwärtig massive, in großen Teilen berechtigte Klagen aus der beruflichen Ausbildung und den Hochschulen und Universitäten. Sie weisen auf wissenschaftliche Defizite in der Prozessdidaktik hin. Auf Grund der aktuellen Rahmenbedingungen didaktischer Forschungen gibt es z. Z. keine langfristigen Projekte zu diesem Hauptgegenstand der Mathematikdidaktik.
Produktorientierung der Forschungen
In allen drei Gegenstandsbereichen sind Produkte für die Schule und den Unterricht ein wichtiges Ergebnis der Forschungs- und Entwicklungsarbeiten. Die Ziel- und Stoffdidaktik beschäftigt sich u. a. mit der Erstellung und Evaluation von Lehrplänen in nicht immer einfacher Zusammenarbeit mit den dafür verantwortlichen staatlichen Behörden. Die Entwicklung von Aufgabensammlungen, von Unterrichtsvorschlägen für einzelne Themen und von Vorschlägen für den Einsatz digitaler Medien sind Produkte der Mittel- und Methodendidaktik. Die Forschungsergebnisse der Prozessdidaktik fließen zusammen mit denen der anderen beiden Bereiche in die Erstellung von Gesamtkonzeptionen für den Mathematikunterricht ein. Gegenständliche Produkte sind Schullehrbücher, zugeordnete Arbeitshefte und andere Materialen sowie didaktische Konzepte und konkrete Unterrichtsempfehlungen zu den Materialien. Die Erstellung dieser wichtigen Ergebnisse didaktischer Arbeiten liegt gegenwärtig in der Hand von privatwirtschaftlichen, miteinander konkurrierenden Schulbuchverlagen. Diese gesellschaftliche Rahmenbedingung behindert die wissenschaftliche Entwicklung und Evaluation der betreffenden Produkte.
In allen drei Gegenstandbereichen sind Arbeiten auf unterschiedlichem Niveau der Abstraktion möglich. Neben den genannten produktorientieren Arbeiten gibt es mehrere Ebenen der theoretischen Verallgemeinerung. So existieren etwa zahlreiche Arbeiten zu den sogenannten „Fundamentalen Ideen“ zu denen Bank (2013) eine gute Übersicht erstellt hat.
Zu den Aufgaben in allen drei Gegenstandsbereichen gehört es auch, Konzepte und Materialien zur Vermittlung der Forschungsergebnisse für Veranstaltungen in der Lehreraus- und -fortbildung zu erarbeiten.
Auffassungen zum Gegenstand der Mathematikdidaktik
Am Anfang ihrer Entwicklung war die fachdidaktische Forschung noch stark an der Mathematik orientiert, was aus der folgenden Gegenstandsbeschreibung hervorgeht. „Unter Didaktik der Mathematik wird im Folgenden die Darstellung des Gegenständlich-Stofflichen der Mathematik unter dem Gesichtspunkt der Lehre verstanden, unter ihrer Wissenschaftsmethodik die Verfahrensweise in der Gewinnung der so definierten Inhalte“ (Drenckhahn, F., MNU 5(1952/53), S. 205-211)
Aber es gab auch zu Beginn einzelne Auffassungen, die den Gegenstand eher im Lernen von Mathematik, also in den Veränderungen bei den Lernenden sahen.
„Unter Didaktik der Mathematik verstehe ich die Disziplin, die sich mit der Veränderung des Menschen durch Mathematik beschäftigt. Unter „Veränderungen“ verstehen ich geistige und psychische Veränderungen … das Aneignen von Wissen und Können“ (Bierbaum, BzMU 1968 (1969), S. 7-18
Literaturverzeichnis
Bank, Marie-Christine von der (2013): Fundamentale Ideen, insbesondere Optimierung. In: Andreas Filler und Matthias Ludwig (Hg.): Wege zur Begriffsbildung für den Geometrieunterricht. Ziele und Visionen 2020; Vorträge auf der 29. Herbsttagung des Arbeitskreises Geometrie in der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik vom 14. bis 16. September 2012 in Saarbrücken. 1. Aufl. Hildesheim: Franzbecker, S. 83–124.
Griesel, Heinz (1997): Zur didaktisch orientierten Sachanalyse des Begriffes Größe. In: JMD 18 (4), S. 259–284.
Sill, Hans-Dieter (2019): Grundkurs Mathematikdidaktik. Paderborn: Ferdinand Schöningh (Standard Wissen Lehramt, 5008). Online verfügbar unter http://www.utb-studi-e-book.de/9783838550084.
[1] Auszug aus Sill 2019, S. 21–25
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