Hans-Dieter Sill, 19.08.2025

Spekulation, spekulative Methode und spekulatives Denken bei Hegel

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Inhalt

Verwendung des Wortes „Spekulation“ in der Alltagssprache

Verwendungen der Wörter und Wortverbindungen in der Philosophie

Auswertung Philosophie

Zusammenfassung der Begriffsanalysen

Literaturverzeichnis

 

Verwendung des Wortes „Spekulation“ in der Alltagssprache

DWDS

Normierte Häufigkeit: 10,5

Kollokationen: zurückweisen (8.5, 4389), nähren (8.4, 2075), anheizen (8.1, 1642), rein (7.6, 3250), wild (7.4, 2015)

Bedeutungen:

  1. über die wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis hinausgehendes Denken
  2. das bei unzureichendem Stand des empirischen und rationalen Wissens künftige Ergebnisse vorwegnimmt; Bsp.: die Atomistik Demokrits hat sich als eine fruchtbare Spekulation für die naturwissenschaftliche Forschung erwiesen
  3. das das empirische und rationale Wissen (bewusst) außer Acht lässt; Bsp.: eine wirklichkeitsfremde Spekulation
  4. durch die realen Gegebenheiten unzureichend begründete (feste) Erwartung, dass bestimmte Ereignisse, Zustände eintreten werden; Bsp.: eine durchsichtige, abenteuerliche, vage Spekulation
  5. [abwertend] entsprechend der Bedeutung von spekulieren; Bsp.: die Spekulation mit Grundstücken, Wertpapieren

Bedeutungsverwandte Ausdrücke:

  • (reine) Vermutung · Annahme · Mutmaßung · Spekulation   Stochern im Nebel ugs., fig.
  • Börsenspekulation · Spekulation · Trade   Zock ugs.
  • (es gibt) keine Anhaltspunkte (für) · (lediglich) vermutet · (nur) eine Vermutung · (reine) Spekulation · durch die Tatsachen nicht gedeckt (sein) · nicht belegbar · nicht beweisbar · ohne gesicherte Datenbasis   ins Blaue hinein (behaupten) ugs., Redensart

DUW

Spekulation, die; -, -en [lat. speculatio = das Ausspähen, Auskundschaften; Betrachtung, zu: speculari = spähen, sich umsehen]: 1. a) auf bloßen Annahmen, Mutmaßungen beruhende Erwartung, Behauptung, dass etw. eintrifft: wilde, unhaltbare, vage, bloße -en; -en über etw. anstellen; ich möchte mich nicht auf irgendwelche -en einlassen; b) (Philos.) hypothetische, über die erfahrbare Wirklichkeit hinausgehende Gedankenführung: metaphysische -en. 2. (Wirtsch.) Geschäftstätigkeit, die auf Gewinne aus zukünftigen Veränderungen der Preise abzielt: vorsichtige, waghalsige -en; die Spekulation mit Grundstücken, Aktien, Devisen.

Auswertung Alltagssprache

Mit einer normierten Häufigkeit von 10,5 wird das Wort „Spekulation“ in der Alltagssprache mit mittlerer Häufigkeit verwendet.

Übereinstimmend werden in den beiden Wörterbüchern folgende drei Bedeutungen des Wortes in der Alltagssprache angegeben:

  • auf bloßen Annahmen, Mutmaßungen, durch die realen Gegebenheiten unzureichend begründete beruhende Erwartung, Behauptung, dass etwas eintrifft; : wilde, unhaltbare, vage, bloße Spekulationen; Spekulationen über etwas anstellen
  • (Wirtsch.) Geschäftstätigkeit, die auf Gewinne aus zukünftigen Veränderungen der Preise abzielt; : vorsichtige, waghalsige Spekulationen; die Spekulation mit Grundstücken, Aktien, Devisen
  • (Philos.) hypothetische, über die erfahrbare Wirklichkeit hinausgehende Gedankenführung; etwas, das das empirische und rationale Wissen (bewusst) außer Acht lässt;: metaphysische Spekulationen; eine wirklichkeitsfremde Spekulation; Die Atomistik Demokrits hat sich als eine fruchtbare Spekulation für die naturwissenschaftliche Forschung erwiesen.

Die Kollokationen mit zurückweisen (8.5, 4389), nähren (8.4, 2075), anheizen (8.1, 1642), rein (7.6, 3250), wild (7.4, 2015) beziehen sich auf die Bedeutungen A und B.

In allen Bedeutungen ist das Wort Spekulation mehr oder weniger stark negativ konnotiert. Spekulationen als bloße Mutmaßungen sollten im Alltag keine Rolle spielen. Spekulationen als Wirtschaftstätigkeit mögen für die Beteiligten vielleicht Gewinne bringen, aber für ein Wirtschaftssystem kann so etwas sehr negativ sein. In der Wissenschaft haben Spekulationen erst recht kein Platz, es wird von Hypothesen gesprochen, für die auf der Grundlage der bisherigen Erkenntnisse eine näherungsweise bestimmbare Wahrscheinlichkeit für ihr zu treffen existiert.

Verwendungen der Wörter und Wortverbindungen in der Philosophie

HWPh

489 (5,7) Ergebnisse, Stichwort: Spekulation, Autorin: Sabrina Ebbersmeyer

  • Philosophisch bedeutsam wird Spekulation in zwei unterschiedlichen Denktraditionen mit einer je verschiedenen Vorgeschichte: 1) Spekulation bezeichnet zuerst eine bestimmte Stufe und Weise der Gottesbetrachtung, die von anderen unterschieden wird. Mit dieser Bedeutung eng verbunden, jedoch etymologisch von ‹speculum› (‹Spiegel›) abgeleitet, ist die Auslegung von Spekulation als einer spezifischen Erkenntnisform der Reflexion, in welcher Spiegelndes (Geist, Natur) und Gespiegeltes (Gott) in ein sich gegenseitig verdeutlichendes Verhältnis gestellt sind. Dieser platonisch-augustinische Gedanke prägt den Begriff bis in die Neuzeit. – 2) Davon unterschieden wird Spekulation als Übersetzung für θεωρία (θεωρητικός) in der aristotelischen Tradition ein Gegenbegriff zu ‹Praxis› und als solcher sowohl für die Einteilung der Wissenschaften als auch für die Unterscheidung der Erkenntnisvermögen relevant. Eine klare begriffliche Distinktion zwischen Spekulation und ‹Kontemplation›, zumal bei der Übersetzung von θεωρία, ist nicht immer gegeben; im Verlauf der Geschichte und bei einzelnen Denkern verbinden und beeinflussen sich beide Traditionsstränge. – 3) Mit der frühen Neuzeit setzt eine sich kontinuierlich verstärkende Kritik an der Spekulation ein. Die Abwertung und Unterordnung der Spekulation unter das praktische Interesse erreichen bei Kant ihren systematischen und wirkungsgeschichtlichen Höhepunkt. – 4) Mit einer Kritik an der Kritik der Spekulation wird der Begriff im Deutschen Idealismus positiv erneuert. Unter Aufnahme spezifischer Vorgaben der Tradition bezeichnet Spekulation nun eine vornehmlich der Vernunft vorbehaltene Denkform. – 5) Nach dieser exponierten und zentralen Stellung hat der Begriff im 19. Jh. vor allem negative Konjunktur: Spekulation wird mit systematischem Denken – vor allem dem Hegelschen – gleichgesetzt und radikal kritisiert. Im 20. Jh. verliert der Begriff an Bedeutung; mit der Konzentration der Philosophie auf die Probleme der Sprache finden sich nur noch vereinzelt Versuche, philosophisches Denken mit dem Begriff Spekulation zu explizieren“ (Ebbersmeyer 2007, S. 1355–1356).
  • In Auseinandersetzung mit Kants Kritik der Spekulation zeigt G. W. F. HEGEL, daß der Vorwurf der Widersprüchlichkeit des spekulativen Vernunftgebrauchs nur für das Verstandesdenken notwendig und zutreffend ist, sich hingegen auf dem Standpunkt der Spekulation auflöst und ein positives Ergebnis hervorbringt. Die Unterscheidung von Verstandesdenken und spekulativem Vernunftdenken trifft Hegel bereits in der ‹Differenzschrift›, wo er den Standpunkt der «Spekulation» dem der «Reflexion» entgegenstellt [108]. Während die Reflexion eine Verstandestätigkeit ist, die die Trennung und Entgegensetzung der Bestimmungen des Verstandes zur Aufgabe hat, gehört die Spekulation der Vernunft an [109]. Ihr «Princip» ist die «absolute Identität» [110]; daher ist es auch die «höchste Aufgabe» der Spekulation, «die Trennung in der Identität des Subjekts und Objekts aufzuheben» [111]. Der Gegenstand der Spekulation ist somit einer, in dem die sich gegenseitig bedingenden Gegensätze aufgehoben sind, der mithin unbedingt ist, «das Absolute» [112]. Spekulation und Philosophie werden von Hegel nahezu identifiziert: Es macht die «wesentlichste Seite eines philosophischen Systems» aus, «Spekulation zu seyn» [113]. In der Vorrede zum ‹System der Wissenschaft› gibt Hegel einen Ausblick auf die Stufe des Bewußtseins, auf der «die Momente des Geistes», nämlich Sein und Wissen, nicht mehr auseinanderfallen: «Ihre Bewegung, die sich in diesem Elemente zum Ganzen organisirt, ist die Logik oder speculative Philosophie» [114]. Spekulative Philosophie ist damit auch als «eigentliche Metaphysik» [115] bestimmt und als das, «was früher, zumal in Beziehung auf das religiöse Bewußtseyn und dessen Inhalt, als das Mystische bezeichnet zu werden pflegte» [116]. Wenngleich Hegel ‹Spekulation›, mithin alles Vernünftige, in die Nähe von Mystik und Religion stellt [117], so macht er doch zugleich deutlich, daß damit «nur so viel gesagt ist, daß dasselbe über den Verstand hinausgeht, und keineswegs, daß dasselbe überhaupt als dem Denken unzugänglich und unbegreiflich zu betrachten sey» [118]. Für Hegel ist die Frage nach der Darstellbarkeit spekulativer Inhalte ein zentrales Problem, bereits in der Vorrede zur ‹Phänomenologie des Geistes› heißt es, «daß die Natur des Urtheils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des Subjects und Prädicats in sich schließt, durch den speculativen Satz zerstört wird» [119]. In der ‹Wissenschaft der Logik› expliziert Hegel diese Feststellung und erläutert, «daß der Satz, in Form eines Urtheils, nicht geschickt ist, speculative Wahrheiten auszudrücken», denn das «Urtheil ist eine identische Beziehung zwischen Subject und Prädicat»; ist nun «der Inhalt speculativ, so ist auch das Nichtidentische des Subjects und Prädicats wesentliches Moment, aber diß ist im Urtheile nicht ausgedrückt». So muß im spekulativen Satz zugleich die Identität und Nichtidentität von Subjekt und Objekt dargestellt werden. Diese entgegengesetzte, «dialektische Bewegung des Satzes selbst» ist «allein das wirkliche Speculative, und nur das Aussprechen derselben ist speculative Darstellung». (Ebbersmeyer 2007, S. 1365-1367
  • In der sich gegen den Idealismus wendenden materialistischen Geschichtsbetrachtung von K. MARX und F. ENGELS, die die konkreten Lebensbedingungen als Voraussetzungen für geschichtliche Prozesse akzentuiert, wird Spekulation im Gegensatz zu materieller Wirklichkeit begriffen und scharf kritisiert. Das «Geheimnis der spekulativen, der Hegelschen Konstruktion» wird als Verdrehung des wahren geschichtlichen Prozesses entlarvt: Während die Epigonen noch nicht einmal das Niveau des Hegelschen Denkens erreichen, unterliegt Hegel selbst dem Verdikt, die Leser seiner Schriften – obgleich mit großer Meisterschaft – zu täuschen, denn er «verleitet den Leser dazu, die spekulative Entwicklung für wirklich und die wirkliche Entwickelung für spekulativ zu halten». Dies bedeutet, daß die «spekulative Idee, die abstrakte Vorstellung» zur «treibenden Kraft der Geschichte und dadurch die Geschichte zur bloßen Geschichte der Philosophie gemacht» wird. (Ebbersmeyer 2007, S. 1367).
  • Im anglo-amerikanischen Sprachraum bezeichnet ‹speculative philosophy› im allgemeinen Sinne die Tradition des europäischen Denkens, die sich mit metaphysischen Fragestellungen unter universellem Erklärungsanspruch beschäftigt. Sie spielt dort keine beherrschende Rolle [156]. Eine Ausnahme bildet A. N. WHITEHEAD, der einen ‹Essay in Speculative Philosophy› [157] schreibt und definiert: «Speculative Philosophy is the endeavour to frame a coherent, logical, necessary system of general ideas in terms of which every element of our experience can be interpreted» («Spekulative Philosophie ist das Bestreben, ein kohärentes, logisches und notwendiges System allgemeiner Ideen zu entwickeln, anhand dessen jedes Element unserer Erfahrung interpretiert werden kann.» )[158]. Das «ideal of speculative philosophy» wäre es demnach, deutlich machen zu können, daß ihre Grundbegriffe nicht getrennt voneinander, sondern nur im Kontext miteinander explizierbar sind: «In other words, it is presupposed that no entity can be conceived in complete abstraction from the system of the universe, and that it is the business of speculative philosophy to exhibit this truth» (Mit anderen Worten wird vorausgesetzt, dass kein Wesen in völliger Abstraktion vom System des Universums gedacht werden kann und dass es die Aufgabe der spekulativen Philosophie ist, diese Wahrheit aufzuzeigen.)[159]. Bei dieser Unternehmung weiß sich Whitehead gleichwohl der anglo-amerikanischen Tradition verpflichtet: «Speculative boldness must be balanced by complete humility before logic, and before fact» (Spekulative Kühnheit muss durch völlige Demut vor der Logik und vor den Tatsachen ausgeglichen werden) [160]. (Ebbersmeyer 2007, S. 1369).

EPh

89 (2,8) Ergebnisse, Stichwort: Spekulation, Autorin: Angelica Nuzzo (2010)

  • Steht speculatio bei Augustinus im Zusammenhang mit visio, so wird der Begriff später bei Bernhard von Clairvaux mit contemplatio, bei Thomas von Aquin mit meditatio und contemplatio, bei Bonaventura mit den verschiedenen Stufen der Gotteserkenntnis cogitatio, meditatio, speculatio, contemplatio, intuitiva visio weiter spezifiziert. Spekulation bezeichnet die spezifische Art und Weise, in der allein die menschliche Auffassung von Gott möglich wird; in den Stufen der Gotteserkenntnis nimmt sie immer die mittlere Stellung ein. Sie stellt keine reine und direkte, sondern eine bloß reflektierte und vermittelte Gotteserkenntnis dar: Sie ist eine Erkenntnis, die nur in unvollkommener Weise mittels Spiegel- und Rätselbildern (»per speculum et in aenigmate«), in denen die Wahrheit sich bloß in Spuren, Bildern und Namen (»speculatio per vestigia«, »per imaginem«, »per nomen«)[16] ankündigt, verfahren kann (Nuzzo 2010, S. 2544).
  • Die Bedeutung, die die Spekulation – wenn auch in verschiedener Weise – bei Kant und im Deutschen Idealismus erhalten sollte, ist zunächst von Descartes vorbereitet worden. Die Spekulation gehört nun zum Kern einer auf das (menschliche) Subjekt und auf seine Erkenntnisgewissheit zentrierten Erkenntnistheorie. Für Kant ist die spekulative Erkenntnis die der menschlichen ­Vernunft eigene Form theoretischer Erkenntnis. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie die Sphäre aller möglichen ­Erfahrung transzendiert, so dass eine Erkenntnis dann »spekulativ« heißt, »wenn sie auf einen Gegenstand, oder solche Begriffe von einem Gegenstand geht, wozu man in keiner möglichen Erfahrung gelangen kann. (2544-2544b)
  • In der Blütezeit des Deutschen ­Idealismus wird der von Kant abgewertete Begriff der Spekulation wieder stark gemacht und bedeutet dasselbe wie Philosophie (Nuzzo 2010, 2544b).
  • Für Hegel bezeichnet die Spekulation seit der Jenaer Zeit die wahrhaft vernünftige Erkenntnis des ­Absoluten. Sie ist somit das Gegenteil der trennenden Reflexion des Verstandes; sie richtet sich auf die vollkommene Vereinigung aller verständigen ­Abstraktionen, und fordert damit dasjenige Unbedingte, das Kant ihr schlechthin versagt hatte. Spekulation ist »die Tätigkeit der einen und allgemeinen Vernunft auf sich selbst«.[29] Das Spekulative ist für Hegel das eigentliche, positive Moment der ­Dialektik – »das Spekulative oder positiv- Vernünftige fasst die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf, das Affirmative, das in ihrer Auflösung und ihrem Übergehen enthalten ist«.[30] Auf diese Weise bringt Hegel durch das Moment des Spekulativen die vollständige Bewegung der Dialektik bzw. ihren prozessualen Charakter zum Ausdruck. In der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes (1807) setzt Hegel der traditionellen formalen ­Logik die Lehre des ›spekulativen Satzes‹ entgegen. Das spekulative Denken hebt die fixierte Struktur formaler Beweissätze dadurch auf, dass es Inhalt und Form mittels ihres immanenten Widerspruchs in Bewegung setzt. »Diese Bewegung, welche das ausmacht, was sonst der Beweis leisten sollte, ist die dialektische Bewegung des Satzes selbst. Sie allein ist das wirkliche Spekulative, und nur das Aussprechen derselben ist spekulative Darstellung«.[31] Die Hegelsche Logik präsentiert sich als ›spekulative Logik‹ gleichermaßen als die wahre Kritik der Vernunft und als die »eigentliche Metaphysik«.[32] Spekulation ist für Hegel nicht mehr der Erfahrung entgegengesetzt, da sie vielmehr die Wahrheit der Erfahrung selbst und somit das vollständige System des Empirischen ausdrückt. In dialektischer Formulierung stellt Hegel fest: »Das Empirische, in seiner Synthesis aufgefasst, ist der spekulative Begriff«[33] – eine Formulierung, die man auch bei Feuerbach antrifft: »Das Empirische in seiner Totalität ist das Spekulative« (Nuzzo 2010, 2545).

MLPh

33 (4,7) Ergebnisse, Stichwort: Spekulation/spekulativ, Autor: Mathias Koßler (2008)

  • Aus der Sicht des in der Neuzeit die Vorherrschhaft gewinnenden empiristischen Ansatzes wird die Spekulation überflüssig, weil ihr zum einen die Fundierung in der sinnlichen Erfahrung fehlt und zum anderen infolge der pragmatischen Ausrichtung des neuen Ansatzes eine rein theoretische Wissenschaft nicht mehr begründet werden kann. … . Dieser Begriff von Spekulation ist seitdem der vorherrschende: ein Denken in bloßen Möglichkeiten, das allenfalls als heuristisches Mittel der Hypothesenbildung anerkannt ist (Koßler 2008, S. 573).
  • Diese logische Notwendigkeit, die Grundlage aller Wissenschaft ist, wird von Hegel als das allein Spekulative bezeichnet. Sie zeigt sich im »spekulativen Satz«, bei dem Subjekt und Prädikat wechselseitig ineinander übergehen. – Im Anschluss an die Systematik des Hegel’schen Denkens findet sich die Bezeichnung »spekulativ« beim späten Whitehead für den organisch-systematischen Charakter seiner Philosophie (Koßler 2008, S. 573).

Werke von Hegel

  • Hiermit beschließt sich die Phänomenologie des Geistes. Was er in ihr sich bereitet, ist das Element des Wissens. In diesem breiten sich nun die Momente des Geistes in der Form der Einfachheit aus, die ihren Gegenstand als sich selbst weiß. Sie fallen nicht mehr in den Gegensatz des Seins und Wissens auseinander, sondern bleiben in der Einfachheit des Wissens, sind das Wahre in der Form des Wahren, und ihre Verschiedenheit ist nur Verschiedenheit des Inhalts. Ihre Bewegung, die sich in diesem Elemente zum Ganzen organisiert, ist die Logik oder spekulative Philosophie (PhG, S. 39).
  • Diese Natur der wissenschaftlichen Methode, teils von dem Inhalte ungetrennt zu sein, teils sich durch sich selbst ihren Rhythmus zu bestimmen, hat, wie schon erinnert, in der spekulativen Philosophie ihre eigentliche Darstellung (PhG, S. 54-55).
  • Formell kann das Gesagte so ausgedrückt werden, daß die Natur des Urteils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des Subjekts und Prädikats in sich schließt, durch den spekulativen Satz zerstört wird und der identische Satz, zu dem der erstere wird, den Gegenstoß zu jenem Verhältnisse enthält (PhG, S. 59).
  • Eine Schwierigkeit, die vermieden werden sollte, macht die Vermischung der spekulativen und der räsonierenden Weise aus, wenn einmal das vom Subjekte Gesagte die Bedeutung seines Begriffs hat, das andere Mal aber auch nur die Bedeutung seines Prädikats oder Akzidens. – Die eine Weise stört die andere, und erst diejenige philosophische Exposition würde es erreichen, plastisch zu sein, welche streng die Art des gewöhnlichen Verhältnisses der Teile eines Satzes ausschlösse. In der Tat hat auch das nicht spekulative Denken sein Recht, das gültig, aber in der Weise des spekulativen Satzes nicht beachtet ist. Daß die Form des Satzes aufgehoben wird, muß nicht nur auf unmittelbare Weise geschehen, nicht durch den bloßen Inhalt des Satzes. Sondern diese entgegengesetzte Bewegung muß ausgesprochen werden; sie muß nicht nur jene innerliche Hemmung, sondern dies Zurückgehen des Begriffs in sich muß dargestellt sein. Diese Bewegung, welche das ausmacht, was sonst der Beweis leisten sollte, ist die dialektische Bewegung des Satzes selbst. Sie allein ist das wirkliche Spekulative, und nur das Aussprechen derselben ist spekulative Darstellung. Als Satz ist das Spekulative nur die innerliche Hemmung und die nicht daseiende Rückkehr des Wesens in sich. Wir sehen uns daher oft von philosophischen Expositionen an dieses innere Anschauen verwiesen und dadurch die Darstellung der dialektischen Bewegung des Satzes erspart, die wir verlangten. – Der Satz soll ausdrücken, was das Wahre ist, aber wesentlich ist es Subjekt; als dieses ist es nur die dialektische Bewegung, dieser sich selbst erzeugende, fortleitende und in sich zurückgehende Gang. –  Bei dem sonstigen Erkennen macht der Beweis diese Seite der ausgesprochenen Innerlichkeit aus. Nachdem aber die Dialektik vom Beweise getrennt worden, ist in der Tat der Begriff des philosophischen Beweisens verlorengegangen (PhG, S. 60).
  • In diesem Dialektischen, wie es hier genommen wird, und damit in dem Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit oder des Positiven im Negativen besteht das Spekulative. Es ist die wichtigste, aber für die noch ungeübte, unfreie Denkkraft schwerste Seite (WL I, S. 52).
  • Der Satz enthält somit das Resultat, er ist dieses an sich selbst. Der Umstand aber, auf den hier aufmerksam zu machen ist, ist der Mangel, daß das Resultat nicht selbst im Satze ausgedrückt ist; es ist eine äußere Reflexion, welche es in ihm erkennt. – Es muß hierüber sogleich im Anfange diese allgemeine Bemerkung gemacht werden, daß der Satz, in Form eines Urteils, nicht geschickt ist, spekulative Wahrheiten auszudrücken; die Bekanntschaft mit diesem Umstande wäre geeignet, viele Mißverständnisse spekulativer Wahrheiten zu beseitigen. Das Urteil ist eine identische Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat; es wird dabei davon abstrahiert, daß das Subjekt noch mehrere Bestimmtheiten hat als die des Prädikats, sowie davon, daß das Prädikat weiter ist als das Subjekt. Ist nun aber der Inhalt spekulativ, so ist auch das Nichtidentische des Subjekts und Prädikats wesentliches Moment, aber dies ist im Urteile nicht ausgedrückt. Das paradoxe und bizarre Licht, in dem vieles der neueren Philosophie den mit dem spekulativen Denken nicht Vertrauten erscheint, fällt vielfältig in die Form des einfachen Urteils, wenn sie für den Ausdruck spekulativer Resultate gebraucht wird (WL I, S. 93).
  • Der Mangel wird zum Behuf, die spekulative Wahrheit auszudrücken, zunächst so ergänzt, daß der entgegengesetzte Satz hinzugefügt wird, der Satz „Sein und Nichts ist nicht dasselbe“, der oben gleichfalls ausgesprochen ist. Allein so entsteht der weitere Mangel, daß diese Sätze unverbunden sind, somit den Inhalt nur in der Antinomie darstellen, während doch ihr Inhalt sich auf ein und dasselbe bezieht und die Bestimmungen, die in den zwei Sätzen ausgedrückt sind, schlechthin vereinigt sein sollen, – eine Vereinigung, welche dann nur als eine Unruhe zugleich Unverträglicher, als eine Bewegung ausgesprochen werden kann. Das gewöhnlichste Unrecht, welches spekulativem Gehalte angetan wird, ist, ihn einseitig zu machen, d. i. den einen der Sätze nur, in die er aufgelöst werden kann, herauszuheben. Es kann dann nicht geleugnet werden, daß dieser Satz behauptet wird; so richtig die Angabe ist, so falsch ist sie, denn wenn einmal ein Satz aus dem Spekulativen genommen ist, so müßte wenigstens ebensosehr der andere gleichfalls beachtet und angegeben werden (WL I, S. 94).
  • Die Natur des spekulativen Denkens zeigt sich hieran als einem ausgeführten Beispiele in ihrer bestimmten Weise; sie besteht allein in dem Auffassen der entgegengesetzten Momente in ihrer Einheit. Indem jedes, und zwar faktisch, sich an ihm zeigt, sein Gegenteil an ihm selbst zu haben und in diesem mit sich zusammenzugehen, so ist die affirmative Wahrheit diese sich in sich bewegende Einheit, das Zusammenfassen beider Gedanken, ihre Unendlichkeit, – die Beziehung auf sich selbst, nicht die unmittelbare, sondern die unendliche (WL I, S. 168).
  • Das spekulative Denken besteht nur darin, daß das Denken den Widerspruch und in ihm sich selbst festhält, nicht aber, daß es sich, wie es dem Vorstellen geht, von ihm beherrschen und durch ihn sich seine Bestimmungen nur in andere oder in nichts auflösen läßt“ (WL II, S. 76).
  • Weiter ist nun das Spekulative überhaupt nichts anderes als das Vernünftige (und zwar das Positiv-Vernünftige), insofern dasselbe gedacht Im gemeinen Leben pflegt der Ausdruck Spekulation in einem sehr vagen und zugleich untergeordneten Sinn gebraucht zu werden, so z. B., wenn von Heirats- oder Handelsspekulationen die Rede ist, worunter dann nur so viel verstanden wird, einerseits daß über das unmittelbar Vorhandene hinausgegangen werden soll und andererseits daß dasjenige, was den Inhalt solcher Spekulationen bildet, zunächst nur ein Subjektives ist, jedoch nicht ein solches bleiben, sondern realisiert oder in Objektivität übersetzt werden soll. Dagegen ist dann zu sagen, daß das Spekulative seiner wahren Bedeutung nach weder vorläufig noch auch definitiv ein bloß Subjektives ist, sondern vielmehr ausdrücklich dasjenige, welches jene Gegensätze, bei denen der Verstand stehenbleibt (somit auch den des Subjektiven und Objektiven), als aufgehoben in sich enthält und eben damit sich als konkret und als Totalität erweist. Ein spekulativer Inhalt kann deshalb auch nicht in einem einseitigen Satz ausgesprochen werden. Sagen wir z. B., das Absolute sei die Einheit des Subjektiven und des Objektiven, so ist dies zwar richtig, jedoch insofern einseitig, als hier nur die Einheit ausgesprochen und auf diese der Akzent gelegt wird, während doch in der Tat das Subjektive und das Objektive nicht nur identisch, sondern auch unterschieden sind (Enz I, S. 178).
  • Spekulative Philosophie ist das Bewusstsein der Idee, so daß alles als Idee aufgefasst wird; die Idee aber ist das Wahre im Gedanken, nicht als bloße Anschauung oder Vorstellung. Das Wahre im Gedanken ist näher dieses, daß es konkret sei, in sich entzweit gesetzt, und zwar so, daß die zwei Seiten des Entzweiten entgegengesetzte Denkbestimmungen sind, als deren Einheit die Idee gefaßt werden muß. Spekulativ heißt, ein Wirkliches auflösen und dieses in sich so entgegensetzen, daß die Unterschiede nach Denkbestimmungen entgegengesetzt sind und der Gegenstand als Einheit beider aufgefaßt wird“ (VRel I, S. 30).

Weitere Quellen

Wieland (1998 [1. Aufl 1973]): Hegels Dialektik der sinnlichen Gewissheit

Die Schwierigkeiten, die sich bei jedem Versuch einer Interpretation von Hegels erstem Hauptwerk, der „Phänomenologie des Geistes“, bieten, haben ganz verschiedene Gründe. Nur zum Teil nämlich gehen diese Schwierigkeiten auf die Eigenart des spekulativen Denkens zurück, die nicht nur hier eine Modifikation des sonst üblichen Argumentationsstils notwendig zu machen scheint. Dieses spekulative Denken ist – was oft nicht genügend berücksichtigt wird – nicht von der Art, dass man es durch „Anwendung“ eines mehr oder weniger komplizierten formalen Schemas auf einen von ihm unabhängigen Inhalt üben könnte. Wer von einer Methode fordert, dass sie solche gegenüber den jeweiligen Inhalten gleichgültigen Schemata an die Hand gibt, wird bei Hegel vergeblich nach einer Methode des Denkens suchen: er ist einem epigonalen Missverständnis zum Opfer gefallen. […] Hegels eigene Hinweise auf den Weg seines Denkens, etwa seine Lehre von der Selbstbewegung des Begriffs, die Lehre vom spekulativen Satz oder gar die absolute Vorstellung vom dialektischen Dreischritt, können, richtig verstanden, niemanden der Mühe der geduldigen Einzelanalyse, die sich durch keine formale Struktur vorwegnehmen lässt, entheben (S. 67).

Ludovicus (Lu) De Vos im Hegel-Lexikon (Cobben 2006)

„Das Spekulative als Resultat ist deshalb ein Konkretes, weil es die Leistung des unbedingten Denkens oder des Begreifens ist. Die resultierende Einheit ist eine Affirmation, weil sie wenigstens von der Diskursivität des bis zur Unbedingtheit gehenden Wissens durchzogen ist. Der Widerspruch, dem das Resultat eine Antwort liefert, ist ein denkend-skeptischer in Bezug auf Begriffe. Skeptische Kritik greift jede Unmittelbarkeit oder Positivität eines gegebenen, verständigen Begriffs auf gleicher Begriffsebene an, sofern sie zweifache Instantiierungsprobleme des Begriffs, dem Dasein oder der Bedeutung nach, aufzeigt“ (De Vos 2006, S. 329).

„Nur der Phänomenologie eigentümlich ist einerseits diese Theorie des ‚spekulativen Satzes’ (GW 9, 45-46). Diese gliedert tatsächlich den dargestellten Inhalt der Phänomenologie, wie es aus dem Religionskapitel hervorgeht, in dem die Sätze ‚das Selbst ist das absolute Wesen’, wie ‚das absolute Wesen ist das Selbst’ den Fortgang bestimmen (GW 9, 400). Abwegig aber ist es, diese Theorie auch für die Logik in Anspruch zu nehmen, denn die vorgenommenen spekulativen Sätze, wie ‚das Sein ist das Wesen’, sowie ‚das Wesen ist das Sein’, sind nicht in der Lage, den logischen Fortgang hinreichend zu bestimmen, sofern sie nicht das Wesen, sondern bloß den Bereich des Wesens als Reflexion in ihm selbst gliedern (GW 11, 323).

Ein zweites Spezifikum der Phänomenologie zeigt sich andererseits bei der Religion. Obwohl die Logik in der Vorrede derselben durchgängig als spekulative Philosophie (GW 9, 30, vgl. GW 9, 447) sowie die logische Notwendigkeit als das Spekulative (GW 9, 40) bezeichnet werden, heißt das absolute Wissen zwar begreifendes Wissen, aber nirgendwo spekulativ. Der Text der Phänomenologie nennt nur das Wissen der offenbaren Religion, in dem Gott als Geist erkennbar ist, das spekulative Wissen (GW 9, 407). Von dieser Verbindung her erscheint die Religion später als allgemeines Bewusstsein des ganz allgemeinen Spekulativen. Die Religion bietet das Spekulative als Inhalt und Zustand des Bewusstseins (GW 17, 48), sodass für jeden, der religiös ist, und nicht nur für den Philosophen das Spekulative erreichbar ist (vgl. GW 18, 162; 23)“ (De Vos 2006, S. 331–332).

Auswertung Philosophie

Tab. Normierte Häufigkeiten

Lexem

HWPh

EPh

MLPh

Spekulation

5,7

2,8

4,7

Das Wort „Spekulation“ wird in allen Lexika selten verwendet. Es hat in der Geschichte der Philosophie mehrere Bedeutungen erhalten. „Spekulation bezeichnet zuerst eine bestimmte Stufe und Weise der Gottesbetrachtung, die von anderen unterschieden wird. Mit dieser Bedeutung eng verbunden, jedoch etymologisch von ‹speculum› (‹Spiegel›) abgeleitet, ist die Auslegung von Spekulation als einer spezifischen Erkenntnisform der Reflexion, in welcher Spiegelndes (Geist, Natur) und Gespiegeltes (Gott) in ein sich gegenseitig verdeutlichendes Verhältnis gestellt sind. … Davon unterschieden wird Spekulation … in der aristotelischen Tradition ein Gegenbegriff zu ‹Praxis› und als solcher sowohl für die Einteilung der Wissenschaften als auch für die Unterscheidung der Erkenntnisvermögen relevant“ (Ebbersmeyer 2007, S. 1355). Im deutschen Idealismus gehört die Spekulation „zum Kern einer auf das (menschliche) Subjekt und auf seine Erkenntnisgewissheit zentrierten Erkenntnistheorie. …

In der Blütezeit des Deutschen Idealismus wird der von Kant abgewertete Begriff der Spekulation wieder stark gemacht und bedeutet dasselbe wie Philosophie“ (Nuzzo 2010, 2544b).

Hegel verwendet das Wort „Spekulation“ sowie die Wortkombinationen „spekulative Philosophie“, „spekulative Methode“ und „spekulatives Denken“ in seinen Schriften öfter und an zentralen Stellen. Einige Zitate sollen dies belegen:

  • „Hiermit beschließt sich die Phänomenologie des Geistes. Was er in ihr sich bereitet, ist das Element des Wissens. In diesem breiten sich nun die Momente des Geistes in der Form der Einfachheit aus, die ihren Gegenstand als sich selbst weiß. Sie fallen nicht mehr in den Gegensatz des Seins und Wissens auseinander, sondern bleiben in der Einfachheit des Wissens, sind das Wahre in der Form des Wahren, und ihre Verschiedenheit ist nur Verschiedenheit des Inhalts. Ihre Bewegung, die sich in diesem Elemente zum Ganzen organisiert, ist die Logik oder spekulative Philosophie“ (PhG, S. 39).
  • „In diesem Dialektischen, wie es hier genommen wird, und damit in dem Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit oder des Positiven im Negativen besteht das Spekulative. Es ist die wichtigste, aber für die noch ungeübte, unfreie Denkkraft schwerste Seite“ (WL I, S. 52).
  • „Das spekulative Denken besteht nur darin, daß das Denken den Widerspruch und in ihm sich selbst festhält, nicht aber, daß es sich, wie es dem Vorstellen geht, von ihm beherrschen und durch ihn sich seine Bestimmungen nur in andere oder in nichts auflösen läßt“ (WL II, S. 76).

Hegel ist sich durchaus bewusst; dass die Wörter „Spekulation“ und „spekulativ“ in der Alltagssprache eine andere, meist negative Bedeutung haben: „Im gemeinen Leben pflegt der Ausdruck Spekulation in einem sehr vagen und zugleich untergeordneten Sinn gebraucht zu werden, so z. B., wenn von Heirats- oder Handelsspekulationen die Rede ist, worunter dann nur so viel verstanden wird, einerseits daß über das unmittelbar Vorhandene hinausgegangen werden soll und andererseits daß dasjenige, was den Inhalt solcher Spekulationen bildet, zunächst nur ein Subjektives ist, jedoch nicht ein solches bleiben, sondern realisiert oder in Objektivität übersetzt werden soll“ (Enz I, S. 178). Er lässt sich aber davon nicht beirren, da er generell der Meinung ist, dass die Philosophie das Recht hat, „aus der Sprache des gemeinen Lebens … solche Ausdrücke zu wählen, welche den Bestimmungen des Begriffs nahezukommen scheinen. Es kann nicht darum zu tun sein, für ein aus der Sprache des gemeinen Lebens gewähltes Wort zu erweisen, daß man auch im gemeinen Leben denselben Begriff damit verbinde, für welchen es die Philosophie gebraucht, …“ (WL II, S. 406). Hegel hat dieses „Recht“ oder besser Willkür auch bei zahlreichen anderen Begriffswörtern angewendet, wie bei seinen Begriffen das Nichts, Verstand und Vernunft, was letztlich seine Rezeption auch bei Philosophen stark beeinträchtigt hat. So ist es offensichtlich auch seinen Theorien ergangen, die mit den Wörtern „Spekulation“ und „spekulativ“ verbunden sind. So stellt Ebbersmeyer im HWPh lakonisch fest: „Nach dieser exponierten und zentralen Stellung hat der Begriff im 19. Jh. vor allem negative Konjunktur: Spekulation wird mit systematischem Denken – vor allem dem Hegelschen – gleichgesetzt und radikal kritisiert. Im 20. Jh. verliert der Begriff an Bedeutung; mit der Konzentration der Philosophie auf die Probleme der Sprache finden sich nur noch vereinzelt Versuche, philosophisches Denken mit dem Begriff Spekulation zu explizieren“ (Ebbersmeyer 2007, S. 1356). Wie auch in den Darstellungen von Nuzzo und Koßler in den anderen beiden Lexika zum Stichwort „Spekulation“ wird die Ablehnung der Theorie mit der Ablehnung des Wortes „Spekulation“ in seiner alltagssprachlichen Bedeutung in Verbindung gebracht. So schreibt Nuzzo: „Die posthegelsche Philosophie hat jedoch massiv gegen die Hegelsche Deutung der Spekulation polemisiert und hat sie Stück für Stück diskreditiert“ (Nuzzo 2010, S. 2545). Koßler stellt fest: „Aus der Sicht des in der Neuzeit die Vorherrschhaft gewinnenden empiristischen Ansatzes wird die Spekulation überflüssig, weil ihr zum einen die Fundierung in der sinnlichen Erfahrung fehlt und zum anderen infolge der pragmatischen Ausrichtung des neuen Ansatzes eine rein theoretische Wissenschaft nicht mehr begründet werden kann. … Dieser Begriff von Spekulation ist seitdem der vorherrschende: ein Denken in bloßen Möglichkeiten, das allenfalls als heuristisches Mittel der Hypothesenbildung anerkannt ist“ (Koßler 2008, S. 573).

Zur Bewertung von Theorien sind aber nicht die dabei verwendeten Wörter entscheidend, sondern die in der Theorie enthaltenen grundlegenden Ideen. In den Lexika werden zwar, insbesondere im HWPh, zahlreiche Zitate von Hegel angegeben, aus denen Grundideen erkennbar sind, aber diese werden nicht expliziert oder sogar fehlerhaft interpretiert. So z. B. von Koßler, der schreibt, dass bei Hegel angeblich die Fundierung von Erkenntnissen in der sinnlichen Erfahrung fehlt. Es ist gerade eine der Grundideen von Hegel, Empirie und Theorie als untrennbaren Gegensatz zusammenzubringen. Typische Fehlinterpretationen findet man auch im Hegel Lexikon (Cobben 2006). So schreibt der Autor im Stichwort „Spekulation“: „Nur der Phänomenologie eigentümlich ist einerseits diese Theorie des ‚spekulativen Satzes’… Abwegig aber ist es, diese Theorie auch für die Logik in Anspruch zu nehmen, denn die vorgenommenen spekulativen Sätze, wie ‚das Sein ist das Wesen’, sowie ‚das Wesen ist das Sein’, sind nicht in der Lage, den logischen Fortgang hinreichend zu bestimmen, … Der Text der Phänomenologie nennt nur das Wissen der offenbaren Religion, in dem Gott als Geist erkennbar ist, das spekulative Wissen. … Die Religion bietet das Spekulative als Inhalt und Zustand des Bewusstseins, sodass für jeden, der religiös ist, und nicht nur für den Philosophen das Spekulative erreichbar ist“ (De Vos 2006, S. 331–332).

Es ist ein weiteres Grundanliegen von Hegel, das hinter seinem Begriff des Spekulativen steht, die Grenzen der formalen Logik zur Darstellung philosophischer Zusammenhänge aufzuzeigen. Erweist an mehreren Stellen deutlich auf diese Problematik und die Schwierigkeiten in ihrem Verständnis hin, wie aus den folgenden Zitaten erkennbar ist:

  • Formell kann das Gesagte so ausgedrückt werden, daß die Natur des Urteils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des Subjekts und Prädikats in sich schließt, durch den spekulativen Satz zerstört wird und der identische Satz, zu dem der erstere wird, den Gegenstoß zu jenem Verhältnisse enthält (PhG, S. 59).
  • Eine Schwierigkeit, die vermieden werden sollte, macht die Vermischung der spekulativen und der räsonierenden Weise aus, wenn einmal das vom Subjekte Gesagte die Bedeutung seines Begriffs hat, das andere Mal aber auch nur die Bedeutung seines Prädikats oder Akzidens. – Die eine Weise stört die andere, und erst diejenige philosophische Exposition würde es erreichen, plastisch zu sein, welche streng die Art des gewöhnlichen Verhältnisses der Teile eines Satzes ausschlösse (PhG, S. 60).
  • Es muß hierüber sogleich im Anfange diese allgemeine Bemerkung gemacht werden, daß der Satz, in Form eines Urteils, nicht geschickt ist, spekulative Wahrheiten auszudrücken; die Bekanntschaft mit diesem Umstande wäre geeignet, viele Mißverständnisse spekulativer Wahrheiten zu beseitigen. Das Urteil ist eine identische Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat; es wird dabei davon abstrahiert, daß das Subjekt noch mehrere Bestimmtheiten hat als die des Prädikats, sowie davon, daß das Prädikat weiter ist als das Subjekt. Ist nun aber der Inhalt spekulativ, so ist auch das Nichtidentische des Subjekts und Prädikats wesentliches Moment, aber dies ist im Urteile nicht ausgedrückt. Das paradoxe und bizarre Licht, in dem vieles der neueren Philosophie den mit dem spekulativen Denken nicht Vertrauten erscheint, fällt vielfältig in die Form des einfachen Urteils, wenn sie für den Ausdruck spekulativer Resultate gebraucht wird (WL I, S. 93).

Als Beispiel führt er in der Wissenschaft der Logik I die beiden Sätze an: „Sein und Nichts ist eins und dasselbe“ (WL I, S. 92) und „Sein und Nichts ist nicht dasselbe“ (WL I, S. 94). Er schreibt dazu: „Das gewöhnlichste Unrecht, welches spekulativem Gehalte angetan wird, ist, ihn einseitig zu machen, d. i. den einen der Sätze nur, in die er aufgelöst werden kann, herauszuheben. Es kann dann nicht geleugnet werden, daß dieser Satz behauptet wird; so richtig die Angabe ist, so falsch ist sie, denn wenn einmal ein Satz aus dem Spekulativen genommen ist, so müßte wenigstens ebensosehr der andere gleichfalls beachtet und angegeben werden (WL I, S. 94). Während der zweite der beiden Sätze allgemein auf Zustimmung stößt, ist der erste Satz einer der Hauptquellen für die absolute Ablehnung der Hegelschen Theorien, insbesondere von Logikern und analytischen Philosophen. Hegel hat allerdings durch seine Wortwahl und Darstellungsweise zu dieser Fehldeutung beigetragen (vgl. 2.1.1).

Die Bemerkungen des Philosophen und Theologen Ludovicus De Vos zur Rolle der Spekulation in der Religion sind typisch für religionsphilosophische Interpretationen von Hegel, deren Vertreter auch als Rechtshegelianer oder Althegelianer bezeichnet werden. Ohne Frage hatte Hegel eine christliche Weltanschauung, die auch einen wesentlichen Einfluss auf seine philosophischen Auffassungen hatte und sich etwa in seinen Auffassungen zum Absoluten bzw. absoluten Wissen äußert. In der Phänomenologie beschäftigt sich Hegel erst im vorletzten Kapitel auf 80 von insgesamt ca. 600 Seiten mit religionsphilosophischen Fragen. In den anderen Kapiteln gibt es nur wenige Randbemerkungen zu Religionen oder zum Göttlichen.

Neben der eher sekundären Frage einer sprachlichen Darstellung besteht das Spekulative „in dem Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit oder des Positiven im Negativen …. Es ist die wichtigste, aber für die noch ungeübte, unfreie Denkkraft schwerste Seite (WL I, S. 52). Hegel schreibt weiter: „Die Natur des spekulativen Denkens zeigt sich hieran als einem ausgeführten Beispiele in ihrer bestimmten Weise; sie besteht allein in dem Auffassen der entgegengesetzten Momente in ihrer Einheit. Indem jedes, und zwar faktisch, sich an ihm zeigt, sein Gegenteil an ihm selbst zu haben und in diesem mit sich zusammenzugehen, so ist die affirmative Wahrheit diese sich in sich bewegende Einheit, das Zusammenfassen beider Gedanken, ihre Unendlichkeit, – die Beziehung auf sich selbst, nicht die unmittelbare, sondern die unendliche (WL I, S. 168). Recht prägnant formuliert Hegel die Idee des Spekulativen in den Vorlesungen über die die Philosophie der Religion I: „Spekulativ heißt, ein Wirkliches auflösen und dieses in sich so entgegensetzen, daß die Unterschiede nach Denkbestimmungen entgegengesetzt sind und der Gegenstand als Einheit beider aufgefaßt wird (VRel I, S. 30).

Wolfgang Wieland (1998 [1. Aufl 1973]) macht auf die Besonderheit der Hegelschen Methode des spekulativen Denkens aufmerksam: „Dieses spekulative Denken ist – was oft nicht genügend berücksichtigt wird – nicht von der Art, dass man es durch „Anwendung“ eines mehr oder weniger komplizierten formalen Schemas auf einen von ihm unabhängigen Inhalt üben könnte. Wer von einer Methode fordert, dass sie solche gegenüber den jeweiligen Inhalten gleichgültigen Schemata an die Hand gibt, wird bei Hegel vergeblich nach einer Methode des Denkens suchen: er ist einem epigonalen Missverständnis zum Opfer gefallen“ (Wieland 1998, S. 67). Die gleiche Aussage trifft auch auf den sogenannten „Dreischritt“ der dialektischen Methode zu, der ebenfalls als ein formales lineares Verfahren aufgefasst wird.

Zusammenfassung der Begriffsanalysen

Die Bezeichnungen „spekulatives Denken“ und Spekulation sind im hohen Maße missverständlich. Hegel hat mit diesen Formulierungen seiner Sache keinen guten Dienst erwiesen. Auch die Unterscheidung von Verstand und Vernunft bei Hegel trägt nicht zur Verständlichkeit bei. Die Begriffe „Dialektik“ und „Spekulation“ gehören bei Hegel eng zusammen und werden von ihm beide zur Charakterisierung der Vernunft verwendet. Der Begriff „Dialektik“ ist in der heutigen Zeit sehr unterschiedlich belegt und Gegenstand zahlloser Publikationen. Hegel versteht darunter in eingeschränkter Weise nur das Moment der dialektischen Aufhebung.

Die mit diesen Termini verbunden Gedanken von Hegel halte ich aber für grundlegend. Um sie zu bewahren und in die aktuelle Diskussion einzubringen, sind andere Bezeichnungen erforderlich, die ohne die Wörter spekulativ, Spekulation, Dialektik, Verstand und Vernunft auskommen.

Anstelle von „spekulativem Denken“ kann vom „Denken in Gegensätzen“ gesprochen werden.

Literaturverzeichnis

Cobben, Paul (Hg.) (2006): Hegel-Lexikon. Darmstadt: Wiss. Buchges.

De Vos, Ludovicus (2006): Spekulation. In: Paul Cobben (Hg.): Hegel-Lexikon. Darmstadt: Wiss. Buchges, S. 327–332.

Ebbersmeyer, Sabrina (2007): Spekulation. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9. 13 Bände. Basel: Schwabe, S. 1355–1372.

Henrich, Dieter (1986): Verständigung über Hegel. In: Dieter Henrich (Hg.): Hegels Wissenschaft der Logik. Formation und Rekonstruktion. Symposion des Instituts für Philosophie der Akademie der Wissenschaft der Sowjetunion und der Internationalen Hegelvereinigung. Moskau, Oktober 1980. 1. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta (Veröffentlichungen der Internationalen Hegel-Vereinigung, 16), S. 7–12.

Koßler, Mathias (2008): Spekulation/spekulativ. In: Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard (Hg.): Metzler Lexikon Philosophie. Begriffe und Definitionen. 3., erw. und aktualisierte Aufl. Stuttgart: Metzler, S. 572–573.

Nuzzo, Angelica (2010): Spekulation. In: Hans Jörg Sandkühler, Dagmar Borchers, Arnim Regenbogen, Volker Schürmann und Pirmin Stekeler-Weithofer (Hg.): Enzyklopädie Philosophie. In drei Bänden mit einer CD-ROM. 3 Bände. Hamburg: Meiner, 2542bu-2546b.

Siep, Ludwig (2000): Der Weg der „Phänomenologie des Geistes“. Ein einführender Kommentar zu Hegels „Differenzschrift“ und zur „Phänomenologie des Geistes“. 1. Aufl., Orig.-Ausg. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Hegels Philosophie, 1475).

Wieland, Wolfgang (1998 [1. Aufl 1973]): Hegels Dialektik der sinnlichen Gewissheit. In: Hans Friedrich Fulda und Dieter Henrich (Hg.): Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“. 8. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 9), S. 67–82.