Hans-Dieter Sill, 12.12.2024

 Analysen zu den Begriffen „Wesen“ und „Erscheinung“

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Inhalt

Vorbemerkungen

Literaturanalysen

Alltagssprache

Wesen, wesentlich

Erscheinung, erscheinen

Philosophie und Theologie

Wesen und wesentlich

Erscheinung und erscheinen

Auswertungen und Schlussfolgerungen

Häufigkeiten

Zum Wort „Wesen“

Alltagssprache

Philosophie und Theologie

Zusammenfassung und Vorschläge zur Verwendung des Wortes

Zum Wort „Erscheinung“

Alltagssprache

Philosophie und Theologie

Zusammenfassung und Vorschläge zur Verwendung des Wortes

Literaturverzeichnis

Vorbemerkungen:

Es werden die Bedeutungen der Wörter „Wesen“, „wesentlich“, „Erscheinung“ und „erscheinen“ in der Alltagssprache, der Philosophie und Theologie in ihrer begriffsgeschichtlichen Entwicklung untersucht. 

Zu Ermittlung der Bedeutungen der Wörter im Alltag wird das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften) verwendet (DWDS). Um einen Eindruck von der Häufigkeit der Verwendung des Wortes im Alltag zu bekommen wird die durchschnittliche Häufigkeit pro 1 Million Token (im DWDS als Frequenz bezeichnet) für die Jahre 2016-2020 angegeben. Datengrundlage ist das DWDS-Zeitungskorpus mit 48 bedeutenden überregionalen Tages- und Wochenzeitungen. Weiterhin werden signifikante Kollokationen mit anderen Wörtern angeben. Als Assoziationsmaß wird logDice verwendet. Es werden die Kollokationen mit den 5 höchsten logDice-Werten und ihre absoluten Häufigkeiten aufgeführt.

Als weitere Quelle für die alltagssprachlichen Bedeutungen der Wörter wird das Deutsche Universalwörterbuch (Kunkel 2023) (DUW) herangezogen. 

Um die Bedeutungen der Wörter in der Philosophie genauer zu analysieren, werden die folgenden Wörterbücher und Enzyklopädien verwendet. Sie liegen auch in elektronischer Form vor, wodurch eine Suche nach den Wörtern im gesamten Text möglich ist.

  1. Ritter u. a. (2007): Historisches Wörterbuch der Philosophie (HWPh)
  2. Sandkühler (2010): Enzyklopädie Philosophie (EPh)
  3. Prechtl und Burkard (2008): Metzler Lexikon Philosophie (MLPh)

Mit den jeweiligen Suchfunktionen wird im Volltext nach den betreffenden Wörtern und ihren Wortformen gesucht und es wird die Anzahl der jeweiligen Ergebnisse absolut und pro 100 Seiten (in Klammern) angegeben.

Es werden folgende theologische Nachschlagewerke verwendet, um die Bedeutungen der Wörter in der Theologie zu ermitteln.

  • Kasper (1993-2001): Lexikon für Theologie und Kirche (LThK)
  • Betz u. a. (2007): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft (RGG4)

Weitere Informationen zu den Wortanalysen und Auswahlkriterien sind auf der Seite „Zur Bestimmung grundlegender Begriffe“ enthalten.

Literaturanalysen

Alltagssprache

Wesen, wesentlich

DWDS

Wesen

Frequenz: 10,0

Kollokationen:  menschlich (8.3, 4093), innerst (8.2, 602), göttlich (8.1, 788), übernatürlich (8.0, 513), weiblich (7.8, 1646)

Bedeutungen:

  1. das Grundlegende, die Eigenart
    1. Gesamtheit der entscheidenden, bestimmenden inneren Eigenschaften einer Sache, die ihre besondere, eigentümliche Art ausmachen: das Wesen einer Sache erkennen; tief in das Wesen einer Sache eindringen
    2. [Philosophie] Kategorie in zahlreichen philosophischen Strömungen.
      Marxismus: Gesamtheit der inneren, allgemeinen, invarianten Bestimmungen der Dinge und Prozesse, die diesen notwendigerweise zukommen; Bsp.: das Wesen eines Dinges tritt in der Erscheinung zutage
  2. Gesamtheit der entscheidenden individuellen geistig-seelischen Eigenschaften eines Menschen, wie sie in Gesinnung, Lebensführung und Verhalten zum Ausdruck kommen, Charakter; Art und Weise, wie jmd. aufgrund seiner Veranlagung, seines Charakters in seiner Umwelt wirkt, sich verhält: sein (ganzes) Wesen (= seine ganze Persönlichkeit, er) empörte sich dagegen
    1. [veraltend] Tun und Treiben: das laute, heitere Wesen auf dem Rummelplatz störte sie
    2. ⟨ treibt sein Wesen⟩: die Kinder trieben im Garten ihr Wesen
    3. [umgangssprachlich] ⟨viel, kein Wesen, Wesens von etw., jmdm. machen⟩ einer Sache, jmdm. viel, wenig Bedeutung beimessen, viel, wenig Aufhebens, Umstände machen
  3. lebender Organismus, Lebewesen,
    a) angeblich vorhandenes Geschöpf: er glaubt an überirdische, übernatürliche, höhere Wesen
    b) Mensch: sie ist das einzige Wesen, das er liebt

wesentlich

Frequenz: 43,2

Kollokationen: Bestandteil (9.6; 7604), Punkt (9.1; 7906), Unterschied (9.1; 6138), Teil (9.0; 19628), Element (9.0; 588)

Bedeutungen:

von entscheidender Bedeutung, grundlegend, wichtig

Beispiele: sie kamen auf die wesentlichen Punkte zu sprechen; die wesentlichen Merkmale, Daten, Bestandteile einer Sache

  • ⟨das Wesentliche⟩ die wichtigsten, entscheidenden Merkmale, Eigenschaften, der Kern einer Sache

Beispiele: ihm fehlte der Blick für das Wesentliche; er kann nicht das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden

  • ⟨im Wesentlichen⟩ im wichtigsten Teil, den Kern, das Wesen einer Sache betreffend

Beispiele: das ist im Wesentlichen dasselbe; es wurde im Wesentlichen nichts gebessert

  • zum größten Teil, in der Hauptsache

Beispiele: er hat seinen Auftrag im Wesentlichen erfüllt

  • dient als Verstärkung   sehr

Grammatik: adverbiell; Beispiele: der Sportler hat sich wesentlich verbessert

  • viel

Grammatik: vor dem Komparativ, Beispiele: sie hat wesentlich längere Haare als früher

DUW

Wesen

  1. a) 〈o.Pl.〉 das Besondere, Kennzeichnende einer Sache, Erscheinung, wodurch sie sich von anderem unterscheidet: das ist nicht das Wesen der Sache b) (Philos.) etw., was die Erscheinungsform eines Dinges prägt, ihr zugrunde liegt, sie [als innere allgemeine Gesetzmäßigkeit] bestimmt: das Wesen der Dinge, der Natur
  2. 〈o.Pl.〉 Summe der geistigen Eigenschaften, die einen Menschen auf bestimmte Weise in seinem Verhalten, in seiner Lebensweise, seiner Art, zu denken u. zu fühlen u. sich zu äußern, charakterisieren: ihr Wesen blieb ihm fremd; sein ganzes Wesen strahlt Zuversicht aus;
  3. a) etw., was in bestimmter Gestalt, auf bestimmte Art u. Weise (oft nur gedacht, vorgestellt) existiert, in Erscheinung tritt: fantastische, irdische, körperliche Wesen; das höchste Wesen (Gott); sie glaubten nicht an ein höheres Wesen b) Mensch (als Geschöpf, Lebewesen): sie ist ein freundliches, stilles Wesen; ein weibliches, männliches Wesen
  4. * sein Wesen treiben (sich tummeln, herumtreiben; Unfug treiben); viel Wesens/kein Wesen [aus/ um/von etw.] machen (ugs.; einer Sache [keine] große Bedeutung beimessen, sie [nicht] sehr wichtig nehmen, [nicht] viel Aufhebens von ihr machen).

wesentlich

(Adv.)]: 1. den Kern einer Sache ausmachend u. daher besonders wichtig; von entscheidender Bedeutung; grundlegend: -er Bestandteil von etw. sein; ein -er Unterschied; -e Mangel aufweisen; etw. ist von -er Bedeutung; das Programm enthielt nichts w. Neues; 〈subst.:〉 sich auf das Wesentliche beschränken; *im Wesentlichen (1. aufs Ganze gesehen, ohne ins Einzelne zu gehen: das ist im Wesentlichen dasselbe. 2. in erster Linie, in der Hauptsache: die Probleme sind im Wesentlichen gelöst; dies ist im Wesentlichen ihr zu verdanken). 2. 〈intensivierend bei Adjektiven im Komparativ u. bei Verben〉 um vieles; in hohem Grade; sehr: w. schöner, teurer, besser, älter; sich nicht wesentlich unterscheiden.

Erscheinung, erscheinen

DWDS

Erscheinung

Frequenz: 7,4

Kollokationen:  treten (8.3, 8617), äußer (8.3, 1273), vorübergehend (7.1, 450), imposant (6.5, 210), elegant (6.3, 262)

Bedeutungen:

  • das Wahrnehmbare
    1. von jmdm. wahrgenommener Vorgang, Beispiele: eine Erscheinung in der Natur; das Abendrot, Gewitter war eine eindrucksvolle Erscheinung
      ⟨in Erscheinung treten⟩ sichtbar werden, Beispiel: es sind Fehler in Erscheinung getreten
    2. Philosophie: alles in Raum und Zeit Befindliche, Wahrnehmbare; die erkennbaren äußeren Eigenschaften der Dinge und Prozesse, die durch die Anschauung, Erfahrung gegeben sind, die aber keine Rückschlüsse auf das Wesen der Dinge, das unerkennbar ist, zulassen (nach Kant)
  • äußere Gestalt, Mensch: Beispiel: er ist eine angenehme Erscheinung
  • Vision, Halluzination

erscheinen

Frequenz: 97,0

Kollokationen:  Album (8.5, 17904), Buch (8.2, 27480), Roman (7.9, 17975), in Verlag (7.9, 14659), unter Titel (7.8, 16795)

Bedeutungen:

  1. sichtbar, wahrnehmbar werden, auftreten, Bsp.: er erschien plötzlich in der Tür

[bildlich] Bsp.: es erschien die Stunde, der Augenblick, da wir Abschied nehmen mussten

  1. ⟨ erscheint jmdm.⟩ eine verstorbene Person, ein übernatürliches Wesen wird von jmdm. als Vision erlebt
  2. herausgegeben werden
  3. ⟨, jmd. erscheint jmdm.⟩ etw., jmd. ruft bei jmdm. einen bestimmten Eindruck hervor, kommt jmdm. vor, als ob …

DUW

Erscheinung

  1. wahrnehmbarer Vorgang: der Totalitarismus ist eine spezifische Erscheinung des 20. Jahrhunderts; eine meteorologische Erscheinung beobachten; * [Fest der] Erscheinung des Herrn (christl. Rel.; Epiphanias); in Erscheinung treten (sichtbar, erkennbar werden: jetzt sind ihre wahren Absichten in Erscheinung getreten). 2. durch ihr Äußeres, ihr Erscheinungsbild in bestimmter Weise wirkende Persönlichkeit: er ist eine stattliche Erscheinung; in ihrer äußeren Erscheinung. 3. Vision, Traumbild: sie hat Erscheinungen; er starrte mich an wie eine Erscheinung

erscheinen

  1. a) sichtbar, wahrnehmbar werden; sich zeigen: er erschien auf dem Bildschirm; die Küste erschien am Horizont; b) sich im Traum, als Vision o. A. zeigen: Hamlet erscheint der Geist seines Vaters; c) sich wie erwartet einfinden, einstellen; auftreten: als Zeugin vor Gericht erscheinen; er ist heute nicht zum Dienst erschienen; 〈subst.:〉 sie dankte den Zuhörern für ihr zahlreiches Erscheinen. 2. herausgegeben, veröffentlicht werden: die Zeitschrift erscheint monatlich; 〈subst.:〉 das Buch war gleich nach [seinem] Erscheinen vergriffen. 3. sich in bestimmter Weise darstellen: alles erschien mir wie ein Traum; es erscheint uns nötig, wünschenswert, dass nachgebessert wird.

Philosophie und Theologie

Wesen und wesentlich

HWPh

Wesen: 4859 (56,7) Ergebnisse, wesentlich: 2568 (30,0) Ergebnisse

Stichwort: Wesen, Autoren: Redaktion (I. Antike), Tobias Hoffmann (II. Mittelalter), Andreas Sommer (III. Rationalismus, Empirismus, Schulphilosophie, Aufklärung), Hartwig Frank/Werner Stegmaier

 (IV. Kant bis 20. Jahr.), Christof Rapp (V. Analytische Philosophie)

  • Das griechische Wort οὐσία, eine Substantivierung des Verbs εἶναι (sein), wird durch die platonisch-aristotelische Metaphysik ein Grundbegriff der Philosophie. Das Spektrum seiner Bedeutungen wird schon durch die Übersetzungsschwierigkeiten und -traditionen angezeigt. … Durchgesetzt hat sich im Lateinischen aber durch die spezielle Ousia-Lehre der Aristotelischen ‹Kategorienschrift› das lateinische ‹substantia›, so daß die Ousia-Lehre mit gutem Recht unter ‹Substanz› abgehandelt wird. Durch die christliche Inanspruchnahme des Ousia-Begriffs in der Trinitätslehre – übersetzt als ‹essentia› – wird im christlichen Mittelalter ‹essentia› der Hauptterminus. Die Derivate der lateinischen Termini gehen in alle europäischen philosophischen Sprachen ein. Bd. 12, S. 621
  • ‹Wesen› hat von seinem ersten Auftreten an bis ins 18. Jh. den Grundsinn ‘Dasein, Bestandʼ. …. Von Bildungen wie ‘Wesen der Seeleʼ (im Unterschied zu ihren ‘Kräftenʼ) und ‘Gottes Wesenʼ in der Deutschen Mystik ausgehend, kommt es zur allgemein gebräuchlichen Übersetzung von ‹substantia›, ‹essentia› und ‹Ousia› durch ‹Wesen›. Dabei kann ‹Wesen› dieselbe Doppelbedeutung annehmen, die auch schon in dem griechischen ‹Ousia› liegt: ‹Wesen› bezeichnet das bestimmte, für sich Seiende und ist damit gleichbedeutend mit ‹Substanz›. Und Wesen ist im eigentlichen Sinne die allgemeine Natur einer Sache. Bd. 12, S. 621
  • Aristoteles hat das Wesen einer Sache stets sorgfältig von ihrem kategorialen substantiellen Sein unterschieden. «Logisch» wirkt sich die Annahme eines Wesens so aus, daß von einer Sache «an sich» (καθ‘ αὑτό) Aussagen gemacht werden können, aber von der Substanz und den anderen kategorialen Bestimmungen in je verschiedener Weise. Dementsprechend kommt – real (πῶς ἔχει) – der Substanz vorrangig und schlechthin das in einer Definition ausdrückbare Wesen zu, sekundär und in nachgeordneter Weise aber auch den anderen kategorialen Bestimmungen [36]. Das Wesen ist die der Sache immanente, artmäßige Formbestimmtheit. Aristoteles nennt sie auch die «Erste Ousia», insofern sie, wie z.B. die Seele oder das Krumme, aufgrund ihrer Einfachheit selbst nicht an einem anderen ist, sondern das innerste Element von etwas darstellt, auf das Komplexeres zurückgeführt werden kann Bd. 12, S. 623.
  • Das Verständnis von ‹Wesen› (‹essentia›) entwickelt sich im lateinischen Mittelalter im theologischen und philosophischen Kontext: Die Trinitätsspekulation bestimmt die göttliche Wesenheit im Verhältnis zu den drei Personen. Die Christologie erörtert, ob in Christus die göttliche und die menschliche Wesenheit durch ein einziges Sein konstituiert werden. Bd. 12, S. 627
  • Nach CHR. WOLFF, der den deutschen Ausdruck ‹Wesen› verwendet, ist es «Dasjenige, darinnen der Grund von dem übrigen zu finden, was einem Dinge zukommet … Wer also das Wesen eines Dinges erkennet, der kan den Grund anzeigen von allem, was ihm zukommet. Man erkennet aber das Wesen eines Dinges, wenn man verstehet, wodurch es in seiner Art determiniret wird» Bd. 12, S. 635
  • KANT unterscheidet zwischen dem logisch verstandenen Wesen und dem Realwesen oder der Natur eines Dings. Beide bezeichnen «erste innere Princip(ien)» der Dinge, das Wesen als «Princip alles dessen, was zur Möglichkeit eines Dinges», die Natur als Prinzip des «zum Dasein der Dinge Gehörigen». … Doch ist es weder für die Naturwissenschaft noch für die Metaphysik nötig, «das ganze Wesen» einer Sache zu kennen; es sei vielmehr ausreichend, «durch sichere Erfahrungen» diejenigen Merkmale aufzusuchen, «die gewiß im Begriffe von irgend einer allgemeinen Beschaffenheit liegen, … um vieles in dem Dinge daraus herzuleiten». Insofern kann man für den Bereich der Erscheinungen von einer Erkenntnis des Wesens der Dinge immer nur «ad melius esse», nicht aber «ad esse» sprechen Bd. 12, S. 637
  • Nach G. W. F. HEGEL schließt der Begriff des Wesens eine Beziehung zum Sein ein, aus welcher der Begriff des Begriffs selbst zu verstehen ist. In der «Sphäre» des Wesens denkt das Denken etwas als etwas in seinen notwendigen Bestimmungen. Während in der Sphäre des Seins alles in anderes übergeht, geht in der Sphäre des Wesens jedes in sein Anderes und damit in sich selbst über. Wesen als Beziehung zum Sein ist danach eine Selbstbeziehung oder «Reflexion». … Der Übergang des Seins in sein Wesen wird als «nothwendige Beziehung» oder «objektiv» verstanden. Die «Lehre vom Wesen» macht darum innerhalb der «Wissenschaft der Logik» zusammen mit der «Lehre vom Sein» die «objektive Logik» aus. In ihr konzipiert Hegel Kants transzendentale Logik neu, wobei er der Lehre vom Sein die Kategorien der Quantität und der Qualität und der Lehre vom Wesen die Bestimmungen des Scheins, der Identität, des Unterschieds und des Widerspruchs, des Grundes und der Bedingungen, der Existenz, der Erscheinung (der «Schein vervollständigt sich zur Erscheinung»), der Verhältnisse des Ganzen und der Teile, der Kraft und der Äußerung und des Äußeren und Inneren zuordnet (Bd. 12, S. 639).
  • Für W. OSTWALD besteht das Wesen einer Sache in der «Gesamtheit ihrer möglichen Beziehungen». W. WUNDT kritisiert an der Auffassung, der Begriff solle «das ‘Wesenʼ des Gegenstandes erfassen», eine solche Aufgabe könne nur bei Begriffen erfüllt werden, «deren Bestimmung nach Inhalt wie Umfang schließlich in unserer eigenen Macht liegt. 12, S. 640
  • SCHLICK löst schließlich das Wesen überhaupt in die sinnlich gegebene Wirklichkeit auf, indem er fordert, die Rede von Erscheinungen aufzugeben und «die unmittelbaren Daten des Bewußtseins als selbständiges Sein, als vollgehaltiges Wesen anzuerkennen». Denn es gibt «nur eine Wirklichkeit, und sie ist immer Wesen und läßt sich nicht in Wesen und Erscheinung auseinander legen» Bd. 12, S. 641
  • Für W. DILTHEY gehört der Begriff des Wesens zu den «Lebenskategorien», die im Unterschied zu den formalen Kategorien des Denkens «eine Lebenstatsache, die in der inneren Erfahrung des Subjektes angelegt ist», ausdrücken. In den «Kategorien von Wesen, Essentialität, Bedeutung, Sinn» spricht sich das «Zentrum der Lebensstruktur selbst, wie es so erlebt wird, im Gegensatz zu allem, was nicht Zentrum ist», aus. Da aber der Lebenszusammenhang letztlich nicht durch Begriffe zu ergründen sei, enthalte der Begriff von Wesenheit «einen dunklen und für den Verstand unergründlichen Kern, welchen wir durch keine Art von logischer Behandlung disziplinieren» können. Statt dessen gebe es in jedem Individuum einen Mittelpunkt seines Wesen und der Bedeutung seines Daseins, den wir durch das «Bewußtsein unserer Verwandtschaft» mit ihm verstehend erfassen können Bd. 12, S. 641
  • Die Wissenschaften brauchen nach H. RICKERT ein formales «Prinzip der Auswahl», um im gegebenen Stoff «das Wesentliche vom Unwesentlichen» zu scheiden. Den «Inbegriff des Wesentlichen», «den wir mit Hilfe des formalen Prinzips aus der Wirklichkeit herauslösen, können wir auch das ‘Wesenʼ der Dinge nennen, falls das Wort überhaupt einen für die empirischen Wissenschaften bedeutsamen Sinn bekommen soll». Bd. 12, S. 641
  • Der metaphysikkritischen Ausrichtung der frühen Analytischen Philosophie fällt [in der Analytischen Philosophie] zunächst auch der Begriff des Wesens zum Opfer. Teils wird die Rede von einem ‹Wesen› in Anschluß an R. CARNAP als sinnloser Fachterminus der herkömmlichen Metaphysik angesehen, teils fällt das Wesen im Sinne notwendig zukommender Eigenschaften unter die allgemeine Skepsis gegenüber der Verwendung des Notwendigkeitsoperators. Bd. 12, S. 644
  • Eine Rehabilitierung des Wesens-Begriffs erfolgt im Zuge der Referenz- und Bedeutungstheorie von S. KRIPKE und H. PUTNAM: Wenn der Gegenstandsbezug bestimmter Ausdrücke nicht durch Beschreibungen, sondern durch Musterexemplare in der faktischen Welt festgelegt wird, dann bedeutet das, daß der betreffende Ausdruck als starrer Designator in jeder möglichen Welt, d.h. notwendigerweise, dieselbe Eigenschaft bezeichnen würde, so daß auf diese Weise die Vorstellung notwendiger Eigenschaften neu begründet wird. Dieser Rahmen kann einerseits für die Begründung eines individuellen Wesens genutzt werden, d.h., daß eine bestimmte Eigenschaft einem und nur einem Gegenstand zukommt. Wenn andererseits generelle Terme als starre Designatoren angesehen werden, kann insbesondere für natürliche Arten begründet werden, daß einem solchen Artbegriff eine notwendige Eigenschaft korrespondiert. Dieser sogenannte ‘Neue Essentialismusʼ wird auch in aristotelischen Spielarten vertreten, in denen es darum geht, daß ein Individuum eine Eigenschaft E notwendig und wesentlich hat und daher nicht als dasselbe Individuum weiterexistieren könnte, wenn es diese Eigenschaft nicht hätte. Für B. BRODY kommt es in diesem Sinn auf den Unterschied zwischen gewöhnlichen Veränderungen einerseits und dem Werden und Vergehen andererseits an sowie darauf, daß es sich dabei um keine beliebig festsetzbaren Einschnitte handelt: Im Unterschied zu anderen Eigenschaften ist für das Wesen einer Sache kennzeichnend, daß sein Verlust stets das Vergehen der betreffenden Sache bedeutet. Bd. 12, S. 644-645

Stichwort: Wesensdefinition, Autor: Thomas Dewender und Redaktion

  • … hat ARISTOTELES als erster zwischen verschiedenen Arten von Definitionen genauer unterschieden und als wichtigste Art der Definition diejenige angesehen, die – im Sinne der sokratisch- platonischen «Was ist x?» -Frage – ausdrückt, worin das Wesen des zu definierenden Gegenstandes besteht: «Die Definition ist eine Rede, die das Wesen anzeigt»… Von den insgesamt 15 verschiedenen Arten der Definition, die MARIUS VICTORINUS im ‹Liber de definitionibus› aufzählt, nimmt die Wesensdefinition, die über die nächsthöhere Gattung und die spezifische Differenz des zu Definierenden erfolgt, als vollkommenste Art der Definition die erste Stelle ein Bd. 12, S. 651
  • Im Anschluß vor allem an nominalistische Definitionslehren wird in der Neuzeit als Aufgabe von Definitionen nicht mehr einheitlich die Angabe des Wesens einer ‘Sacheʼ aufgefaßt. Auch nominale Wesenheiten werden anerkannt. Dementsprechend kommt es in der Definitionstheorie teilweise zu einer Trennung von Sach- und Wesensdefinitionen. Die Rolle der aristotelischen Sachdefinition übernimmt die Realdefinition (als Erklärung der Möglichkeit einer Sache), die aber etwa bei G. W. LEIBNIZ nicht mehr (unbedingt) auf wesentliche Merkmale abstellt. Andererseits sieht Leibniz auch bei Nominaldefinitionen den Bezug auf das Wesen der Sache selbst vor, betont allerdings, daß ein und derselben Wesenheit mehrere Definitionen genügen können. Bd. 12, S. 652
  • Eine explizite Trennung zwischen den Momenten des Essentiellen und des Realen nimmt CH. WOLFF vor, indem er akzidentielle («definitio accidentalis») und essentielle Definition («definitio essentialis») unterscheidet und diese als zwei Arten der Nominaldefinition der Realdefinition gegenüberstellt. I. KANT führt beide Momente wieder zusammen, indem er Realdefinitionen auf das «Wesen der Sache» oder das «Realwesen» bezogen sein läßt. In diesem Sinne fordert auch W. T. KRUG, daß «Sacherklärungen» das «Wesen … eines Dinges» erklären sollen. Diese Forderung tritt im Zuge der Ausbildung der logischen Methodenlehre zur Wissenschaftstheorie im 19. Jh. mehr und mehr zurück, ohne daß aber die Rede vom ‘Wesenʼ ganz aus der Definitionslehre verschwindet. Bd. 12, S. 653

Weitere Zitate

  • Bei CH. WOLFF bedeutet die Nominal-Definition eine Aufzählung der wesentlichen Eigenschaften oder des Zweckes einer Sache zu ihrer weiteren Bestimmung. Um die wesentlichen Eigenschaften einer Sache, die man definitorisch aufzählen soll, zu finden, müsse man, besonders, wenn es sich um körperliche Dinge handelt, die äußeren Bedingungen künstlich abändern, damit sich die Natur der Dinge zeige. So zeige sich z.B. beim Wachs, welches einmal in die Sonne und einmal in den Keller gebracht wird, daß die Weichheit keine wesentliche Eigenschaft an ihm ist. Aufgabe der Real-Definition dagegen sei es, die Art und Weise anzuzeigen, wie eine Sache entstehe und möglich sei. Dadurch werde nämlich ihr Wesen erklärt. Denn das Wesen sei das erste, was man von einer Sache «gedenken kann und darin der Grund des Übrigen, so ihr zukommt, zu finden ist». Nun könne aber nichts eher von einer Sache gedacht werden, als wie sie entstanden oder dasjenige geworden sei, was sie sei. Daher verstehe man das Wesen einer Sache, wenn man wisse, wie sie geworden sei. Während es eine bloße Worterklärung sei, wenn man die Uhr als eine Maschine definiere, welche Stunden anzeige, so erkläre man die Sache, wenn man zeige, aus was für Rädern und anderem sie besteht. Dazu sei es nötig anzugeben: 1. welche Dinge für ihr Entstehen notwendig seien und 2. was jedes Einzelne von ihnen zur Entstehung dieser Sache beitrage. Bd. 2, S. 34
  • Der Weg zur Totalitätsbetrachtung ist die methodische Darstellung der der Sache innewohnenden dialektischen Beziehungen zwischen «Schein» und «Wesen». «Schein» ist die «isolierte» Existenzform der Tatsachen für den «anschauenden» Verstand, während «Wesen» als die «konkrete Einheit des Ganzen» verstanden wird. Die innere Bewegung der Sache läuft vom «Schein» zum «Wesen», indem jener als «Funktion des Ganzen» und als «geschichtliches Geschehen» begriffen wird; und vom «Wesen» zum «Schein», indem «Wesen» sich im «Schein» «gegenständlich» ausdrückt. Bd. 2, S. 210
  • Der Begriff „höchstes Wesen“ hat begriffsgeschichtlich wie inhaltlich unscharfe Konturen, weil er häufig als Stellvertreter zur Bezeichnung von Gott, ‘Vater, dem Absoluten usw. verwendet wird. Bd. 12, S. 645

EPh

Wesen: 1056 (32,9) Ergebnisse, wesentlich: 854 (27,2) Ergebnisse

Erscheinung: 404 (12,6) Ergebnisse, erscheinen: 271 (8,6) Ergebnisse

Stichwort: Wesen/Erscheinung/Schein, Autoren: Enrico I. Rambaldi/ Detlev Pätzold

  • Schon in der Antike führte diese Tatsache dazu, daß in allen tieferen philosophischen Überlegungen ›Wesen‹ von ›Erscheinung‹ (Erscheinung) und ›Schein‹ (Schein) unterschieden wurde, indem meistens Wesen als die innere und nicht unmittelbar wahrnehmbare ­Substanz der Dinge angenommen wurde, Erscheinung als ihre in der ­Erfahrung wahrnehmbare (widerspruchs- und gegensatzvolle) Entfaltung und Schein als ihre oberflächlichere und in diesem Sinne unwahre und illusorische Manifestation. S. 2982bu
  • Unter den Weisen, über jene Gegensätze nachzudenken, gibt es eine philosophische Strömung (die skeptische), die wegen des Unterschiedes zwischen Wesen und Erscheinung alles, was beweglich und wandelbar ist, nicht nur als Erscheinung interpretiert, sondern schlechthin auch als bloßen Schein: Man nimmt an, dass es unmöglich ist, die Gegensätze zu durchdringen, so dass man zwangsläufig auf jedes Wahrheitsurteil verzichten muss. Eine andere philosophische Strömung (die kritische), besteht darin, Gegensätze und (scheinbare) ­Antinomien hervorzuheben, um so den Wissensbereich auf die Erscheinung einzugrenzen, ohne jedoch diese als bloßen Schein zu interpretieren; innerhalb dieser Strömung sind also, unter bestimmten Bedingungen, eine kritische Systematik der Erfahrung und auch eine theoretische Begründung der Wissenschaften durchaus möglich. Eine dritte Strömung (die realistische) schließlich geht dahin, Gegensätze als den Motor jeglicher Entwicklung zu betrachten und ihr gegenseitiges Mitspielen und Einwirken als die Voraussetzung zu betrachten, vom Bereich der Erscheinungen und der Erfahrungen aus das Wesen oder die Substanz zu erfassen. Viertens gibt es in neuerer Zeit auch Strömungen, die die Problematik vorwiegend methodologisch anzugehen versuchen. S. 2982bu, 2983
  • Die realistische Strömung wird in der Antike insbes. durch Aristoteles vertreten. In realistischen Auffassungen gilt die Trennung zwischen Erscheinung und Wesen nicht als unüberwindlich, und die Analyse der Erscheinung gilt als der Weg, auf dem man zum wesentlichen Kern der Dinge gelangen kann. So ist z.B. bei Aristoteles die Untersuchung von Widersprüchen und Gegensätzen Teil seiner Anstrengung zum wissenschaftlichen Wissen des Wesens zu gelangen, und zu seiner Lehre des Wesens gehört die kühne Aussage, dass die entgegengesetzten Erscheinungenen zur Natur der Substanz gehören. S. 2983
  • … dann gilt allgemein folgende Definition des Wesens, derzufolge die entgegengesetzten Erscheinungen zu seiner eigentümlichsten Natur gehören: »Am meisten […] scheint der Substanz eigentümlich zu sein, dass sie, wiewohl der Zahl nach ein und dasselbe, für Konträres empfänglich ist […]. So wird z.B. ein bestimmter Mensch, obwohl er einer und derselbe ist, bald weiß, bald schwarz, warm und kalt, schlecht und gut« (Cat. 4 a). Die Vielfältigkeit der Erscheinung wird, wenn man sich nicht mit der bloßen auf jene sich stützenden Meinung zufrieden gibt, somit als Entfaltung des zugrunde liegenden Wesen interpretiert. An sich betrachtet, sind also die konträren Erscheinungen nicht trügerischer Schein, sondern die tiefsten Eigentümlichkeiten des Wesens. … Wenn man diesen drei Prinzipien folgt [Satz vom Widerspruch, Identitätsprinzip, Prinzip des ausgeschlossenen Dritten] dann besteht laut Aristoteles keine Dichotomie zwischen Wesen und Erscheinung, denn die drei Prinzipien eröffnen den Weg, um durch seine Erscheinung auch das Wesen zu kennen. S. 2983b, 2984
  • Bei G. W. Leibniz sind hingegen die unausgedehnten und unteilbaren ­Monaden oder einfachen Substanzen die ›wahrhaften Atome der Natur‹ oder die ›Elemente‹, die das Wesen der Dinge ausmachen. Die ausgedehnten körperlichen und teilbaren Dinge sind hingegen nur als ihre Erscheinung (vergleichbar einem Regenbogen) zu betrachten. Dadurch sind sie für Leibniz indessen nicht bloßer Schein, sondern vielmehr ein ›phaenomenon bene fundatum‹ (ein begründetes Phänomen). S. 2984
  • Die kritische Strömung wird erstmals durch I. Kant entwickelt … Der Verstand kann aber nur mit jenen Gegenständen korrekt operieren, die uns als Erscheinung (phaenomena) in der ­Anschauung gegeben sind, also mit Sinnesobjekten und nicht mit Verstandeswesen (noumena): die Erscheinungen sind somit Gegenstand des kritischen Wissens. S. 2985, 2985b
  • Auch in jenen Untersuchungen bleibt jedoch die kritische Unterscheidung zwischen Schein, Erscheinung und Wesen erhalten, und es ist ein Verdienst seiner transzendentalen Philosophie, bewiesen zu haben, dass man die phaenomena in eine kritische Wissenschaft einordnen kann, indem er diese phaenomena von den noumena einerseits und vom Schein des unkritischen Wissens andererseits unterschieden hat. … Erhellende Analysen über die komplexen Beziehungen, die, mittels Widersprüchen und Gegensätzen die Erscheinung als die konkreten Daseinsformen des Wesen (also absolut nicht als bloßen Schein), enthüllen, hat Hegel im zweiten Buch seiner Wissenschaft der Logik (›Die Lehre vom Wesen‹) entwickelt, wo er sich u.a. mit Aristoteles auseinandersetzt. S. 2986
  • W. F. Hegels Position kann demgegenüber wiederum der realistischen Strömung zugeordnet werden, weil auch er eine begriffliche detaillierte Beschreibung der konkreten Erscheinungen des Daseins als Entfaltungen des wahren Wesens der Wirklichkeit erstrebt. S. 2986
  • Ein aussagekräftiges Beispiel für die Marxschen Analysen, die widerspruchs- und gegensatzvollen Erscheinungen der Wirklichkeit nicht als bloßen Schein zu betrachten, sondern auf ein einheitliches und zugrunde liegendes Wesen zurückzuführen, ist seine Behandlung der Warenform. S. 2987
  • Aus der Gegensätzlichkeit zwischen einzelnen uns in der Erfahrung gegebenen Erscheinungen kann man aber auch einen vorwiegend methodologischen Nutzen ziehen. E. Mach anerkennt in seinem Phänomenalismus nur die ­Empfindungen als Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Erklärungen an. Damit geht es nicht mehr um das Wesen der Dinge, sondern nur um die Weise, wie sie uns erscheinen. Damit sind für ihn das Physische und das Psychische ›dem Wesen nach identisch‹. Im Falle gegensätzlicher Erscheinungen bedeutet dies methodologisch, dass sie als zwei verschiedene, aber gleichrangige Phänomene anerkannt werden müssen. S. 2988

Weitere Zitate

  • Das Ding an sich wird zufolge des voranstehenden Gedankens ein rein Gedachtes, ein purer Begriff. Erklärt er in solcher Reflexion, was er erklären soll, eine Nötigung, die wir als eine sinnliche wahrnehmen? Die Frage setzt voraus, dass sich das Ding an sich von seiner Erscheinung unterscheide, wie sich ein Gegenstand vom anderen unterscheidet. In Wahrheit handelt es sich um eine Unterscheidung am Gegenstand selbst. Erscheinung heißt er, insofern wir ihn als Gegenstand unseres Bewusstseins, Ding an sich, insofern wir ihn als Grund des Erscheinens denken. Im Begriff der Erscheinung liegt nämlich eine Differenz. Er meint zunächst dasjenige an einem wahrnehmbaren Gegenstand, das dem Bewusstsein erscheint; der Begriff der Erscheinung ist aber ebensowenig wie der des Dings an sich wahrgenommen, sondern gedacht. Beide Begriffe, Erscheinung und Ding an sich, bezeichnen keine differenzierbaren Wesen – wie man bisweilen gegen Kant anführt – keine zwei Welten – sondern zwei Aspekte an einem und demselben wahrgenommenen Gegenstand. Der Begriff Erscheinung bezieht den Gegenstand auf das Bewusstsein, dem er bewusst ist, der Begriff Ding an sich auf dasjenige, was das Bewusstsein nicht aus sich selbst erklären kann. (Wilhelm G. Jacobs, Stichwort. Das Ding an sich, EPh, S. 427)
  • … die Wahrnehmung von Gegenständen erfordert die Individuierung von Dingen und Eigenschaften in Abgrenzung von anderen, die Identifikation und Re- Identifikation verschiedener Erscheinungen als Erscheinungen desselben Gegenstandes, die Unterscheidung zwischen perspektivisch bedingten Erscheinungen und ›konstanten Eigenschaften‹ des Wahrnehmungsgegenstands, die Unterscheidung zwischen scheinbaren und wirklichen Eigenschaften eines Wahrnehmungsgegenstands; S. 2938b

MLPh

Wesen: 455 (64,5) Ergebnisse, wesentlich: 196 (27,8) Ergebnisse

Stichworte: „Wesen“, „Wesentlich“, Autor: Thomas Hammer

  • Wesen. Der Begriff besitzt in der Philosophie keine festumrissene Bedeutung. Als korrelativer Begriff bezeichnet Wesen das Identisch-Bleibende im Gegensatz zur Mannigfaltigkeit der ständig wechselnden Erscheinungen und hebt damit hervor, was als notwendig und überindividuell-allgemein in einem Seienden liegt, im Gegensatz zur Vielheit der zufälligen Bestimmungen. Als wahrhaftes oder eigentliches Sein der Dinge bringt das Wesen die Erscheinungen hervor. Das Wesen wird deshalb auch als dem Seienden zugrunde liegend (Hypokeimenon, Substrat, Substanz) gedacht. Man unterscheidet zwischen Eigenschaften, die einem Seienden wesentlich, essentiell sind, und unwesentlichen, akzidentiellen Eigenschaften. – Weiterhin versteht man unter dem Wesen eines Seienden etwas, das erst noch verwirklicht werden muss. Das Bleibende besteht dann nicht in einer Anzahl von festen Eigenschaften, sondern in einer Tendenz bzw. Disposition (Teleologie, dynamis/energeia). Als Zweck betrachtet kommt dem Wesen die Bedeutung einer immanenten Norm zu, an der das Einzelseiende gemessen wird. … Während Platon die Wesenserkenntnis als Anamnese der von den Einzeldingen getrennten ewigen, unveränderlichen Ideen bestimmt, liegt für Aristoteles das Wesen in den Einzeldingen selbst, aus denen der allgemeine Wesensbegriff durch Abstraktion gewonnen wird. S. 678
  • Wesentlich oder zum Wesen gehörend ist das, was ein Seiendes konstituiert, in seiner Eigenart bestimmt und was als notwendig zu ihm gehörend seinen Begriff ausmacht. Man unterscheidet zwischen wesentlichen, essentiellen Eigenschaften, also solchen Eigenschaften, die ein Seiendes nicht verlieren kann, ohne aufzuhören, es selbst zu sein, und unwesentlichen, akzidentiellen Eigenschaften, also solchen Eigenschaften, die den Bestand eines Seienden nicht weiter berühren. S. 679

Ein großer Teil der Textstellen befindet sich in den Stichworten aus asiatischen Philosophierichtungen. Viele Textstellen sind weiterhin in Stichworten zu theologischen Theorien enthalten.

Der Hauptaspekt der Verwendung des Terminus Wesen an den übrigen Stellen liegt in der Bedeutung des Charakteristischen einer Sache, das ihre Eigenart ausmacht.

LThK

Wesen

Stichwort: Wesen, Autoren: Klaus Hedwig (1. Begriff, 2. Klassische Metaphysik), Wolfgang Kühne (3. Analytische Diskussion)

  • Der Terminus Wesen – in der Philos. seit Meister /Eckehart gebräuchlich – ist eine Lehn-Übers. v. lat. essentia u. griech. οὐσία. … Das Wesen meint daher genau das, was an einem Ding bleibt u. nicht anders werden kann, was ihm unabtrennbar gehört u. es zu dem macht, „was es ist“. Bd. 10, S. 1112
  • Die wesentl. (essentiellen) Eigenschaften eines Gegenstands x, die zus. sein Wesen ausmachen, sind diejenigen Eigenschaften, v. denen gilt: Es ist logisch unmöglich, daß x existiert, ohne sie zu haben. (Alle anderen Eigenschaften v. x sind akzidentell.) Bd. 10, S. 1113
  • Für die Verteidigung der Idee essentieller Eigenschaften v. Individuen gegen die einflußreiche Kritik Quines war die Unterscheidung v. einem anderen Wesens-Konzept wichtig, mit dem sie nur zu leicht verwechselt wird. Wenn es logisch unmöglich ist, daß ein Gegenstand zur Art A gehört, ohne die Eigenschaft E zu haben, dann kann man sagen: „A-Gegenstände haben essentiell E“; aber diese Aussage impliziert nicht, daß die Existenz eines einzelnen A davon abhängt, daß es E hat. Bd. 10, S. 1113

RGG4

Wesen

Stichwort: Wesen, Autoren: Friederike Rese (I. Philosophisch), Johannes Zachhuber (II. Religionsphilosophisch)

  • … Das Wesen meint das Charakteristische einer Sache: das, was eine Sache zu der macht, die sie ist. Bd. 8, S. 1481
  • Aristoteles widmet dem Begriff des Wesens das Buch Z seiner Metaphysik. In der Forschung ist umstritten, ob Aristoteles das Wesen einer Sache ebenso wie Plato als eine allgemeine Form betrachtet, die vielen Einzelphänomenen gemeinsam ist, oder ob er es als eine individuelle Form betrachtet, die nur einem Einzelphänomen zu eigen ist. Frede und Patzig haben sich für die Deutung von οὐσία als individueller Form ausgesprochen. Mit dieser Deutung haben sie sich gegen die traditionelle Deutung der οὐσία als allgemeine Form gewandt. Die Diskussion um die Individualität versus die Allgemeinheit des Wesens prägte auch den Universalienstreit des Mittelalters. Bd. 8, S. 1481, 1482
  • Der Begriff des Wesens durchzieht M. Heideggers mittleres und spätes Werk. Schon in „Sein und Zeit“ betont Heidecke den verbalen Charakter des Begriffs „Wesen“, indem er darauf hinweist, dass das Wesen des Daseins in seiner Existenz bestünde, also in seiner Weise zu sein und nicht in dem Haben von Eigenschaften. Bd. 8, S. 1482
  • Es ist für die Geschichte der Metaphysik charakteristisch, dass ihre Untersuchung von Sein und Wesen traditionell in der Gottesfrage kulminiert. Gleichzeitig hat die christliche philosophische Theologie die Bezeichnung Gottes als Wesen weitgehend übernommen, wenn auch deren genaue Bedeutung stets problematisch war. Nachkantische ist nach Alternativen gesucht, im 20. Jahrhundert die Verknüpfung von Gottes- und Seinsfrage von philosophischer wie theologischer Seite scharf kritisiert worden. Bd. 8, S. 1482
  • Für die sich auf Aristoteles beziehende metaphysische Tradition wird die Annahme, dass Gott ein Wesen ist, ihrerseits bestimmend für das Verständnis von Sein überhaupt, dass angemessen nur von seinem göttlichen Grund her begriffen werden kann. Diese Entwicklung enthält eine Zuspitzung in dem aus dem Schöpfungsglauben resultierenden, bei Thomas von Aquin von Avicenna übernommenen Gedanken, dass geschaffenen Wesen ihre Existenz kontingent ist. Nur bei Gott fallen Wesen und Existenz zusammen. … Nachdem dieser Gedankengang von I. Kant für Philosophie sowie Theologie grundlegend destruiert wurde, übernahm im 19. Jahrhundert die Rede vom Wesen der Religion bzw. des Christentums eine vergleichbare Fundierungsfunktion für die Theologie … In Reaktion auf die philosophische Metaphysikkritik seit Kant verstehen Theologen Gott nichtessentialistisch als Liebe. Bd. 8, S. 1482, 1483

Stichwort: Wesen Gottes, Autoren: Johannes Zachhuber (I. Religionsphilosophisch), (II. Dogmatisch)

  • Bedenkt man, dass philosophischen Theorien vom Wesen das Interesse zugrunde liegt, ein ontologisches Einheitsprinzip angesichts der Erfahrung von Vielheit und Veränderlichkeit einzuführen, kann die Rede vom Wesen Gottes erstaunen, da ein Gott eine solche Differenz nicht vorauszusetzen ist. … Die Aussage, Gott sei reines Wesen, bedeutet demnach, dass Gott sein Wesen ist. Folglich gibt es in ihm keine Potenzrealität, er ist also reine Wirklichkeit, woraus Thomas von Aquin die These ableitet, dass das Wesen Gottes sein Dasein ist. Wird diese, von Thomas a posteriori begründete These als a priori im Gottesbegriff gesetzt verstanden, bildete die Grundlage für den ontologischen Gottesbeweis … Von I: Kant wird dieser freilich folgenreich bestritten, während G. F. W. Hegel, für den der Inhalt der Logik die „Darstellung Gottes, wie er in seinem ewigen Wesen von der Erschaffung der Natur und des endlichen Geistes ist“ (Wiss. der Logik, Einleitung), den rationalistischen Grundgedanken so zu seiner Vollendung bringt. Bd. 8, S. 1483
  • Das Wesen Gottes ist unerforschlich … Diese inscrutabilitas/ineffabilitas hat jedoch ihre Grenzen in der Selbstoffenbarung Gottes. In Christus hat uns Gott den „tiefsten Abgrund seines väterlichen Herzens“ selbst offenbart und aufgetan (Luther). Damit ist das Wesen Gottes stringent als deus revelatus beschrieben, der die Liebe ist. Diese Eigenschaft bestimmt sein Wesen, ist kein Akzidens, sondern Selbsterschließung des ewigen Gottes. … Das Wesen Gottes ist als ein Selbstverhältnis beschreibbar, dass durch seine Eigenschaften wie auch durch seine trinitarischen Relationen bestimmt ist. Gott offenbart sich als die Liebe, als die er sich definiert hat und die er auch an und in sich selber ist. Bd. 8, S. 1484

Erscheinung und erscheinen

HWPh

Erscheinung: 2368 (27,6) Ergebnisse, Stichwort: Erscheinung, Autor: Herbert Herring

erscheinen: 876 (10,2) Ergebnisse

  • Erscheinung (griech. painómenon) wird in der Philosophie vor Kant – trotz aller Standpunktverschiedenheit – durchweg das sinnfällig Gegebene, Naturhafte genannt, dasjenige, was in der raum-zeitlichen Erfahrung als das Nicht-Eigentliche, Vordergründige begegnet und am eigentlichen Sein mehr oder minder teilhat Bd. 2, S. 724
  • Wenn auch Erscheinung «nichts als Vorstellungen» sind, so besagt das keineswegs, daß sie «ein bloßer Schein wären». «Denn in der Erscheinung werden jederzeit die Objekte … als etwas wirklich Gegebenes angesehen, nur daß, sofern diese Beschaffenheit nur von der Anschauungsart des Subjekts in der Relation des gegebenen Gegenstandes zu ihm abhängt, dieser Gegenstand als Erscheinung von ihm selber als Objekt an sich unterschieden wird» «Wir haben in der transzendentalen Ästhetik hinreichend bewiesen: daß alles, was im Raume oder der Zeit angeschaut wird, mithin alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung, nichts als Erscheinungen, d.i. bloße Vorstellungen sind, die, so wie sie vorgestellt werden, … außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben. Bd. 2, S. 724-725
  • Die oft zitierte Mehrdeutigkeit des Begriffes Erscheinung muß so verstanden werden, daß einmal die Erscheinung – unter logischem Aspekt – als bloßer Vorstellungsinhalt betrachtet wird, zum anderen – unter ontologischem Aspekt – als das Wirkliche der empirischen Vorstellung, das auf ein Ansich-Seiendes als seinen Seins- und Erkenntnisgrund verweist.
  • Für HEIDEGGER ist Erscheinung das Seiende als Gegenstand endlicher Erkenntnis. Die zwiefache Charakterisierung des Seienden als Erscheinung («Gegenstand») und Ding an sich («Entstand») ist eine ontologische Bestimmung; sie entspricht der doppelten Art, derzufolge es zum endlichen und unendlichen Sein als in Beziehung stehend gedacht werden kann 2, S. 725
  • Im Sinne der Phänomenologie wird für P. HÄBERLIN zur Aufgabe, das uns Erscheinende «auf das objektive Sosein hin zu durchschauen …». « Erscheinung bedeutet anscheinendes – im Urteil festgestelltes – Sosein eines Begegnenden. So darf Erscheinung nie abgetrennt werden von Sein, d.h. von Seiendem, welches erscheint; … nur Seiendes kann (uns) erscheinen … Wenn Erscheinung nie von Erscheinendem getrennt werden darf, so darf sie andrerseits ebenso wenig von demjenigen, dem etwas erscheint (…) – also dem Urteilenden – abgelöst werden. Erscheinung gibt es nicht außerhalb des feststellenden Urteils» P. HÄBERLIN: Logik (1947) 103. 2, S. 726

MLPh

Erscheinung: 134 (19,0) Ergebnisse, Stichwort: Erscheinung, Autor: Josef Quitterer

erscheinen:  42 (6,0) Ergebnisse

  • Erscheinung, in der griech. Philosophie dasjenige, was uns erkenntnismäßig zuerst gegeben ist. … Auch die Philosophie der Neuzeit versteht unter Erscheinung das der sinnlichen Erfahrung unmittelbar Gegebene. … Auch für Kant hat die Erscheinung zwar nicht die absolute Realität des Ding an sich, doch ist sie das einzige, was uns als objektiv bestimmbare Realität gegeben werden kann. Die Erscheinung ist deshalb scharf vom bloßen Schein zu unterscheiden (KrV, B 69). Während es für Kant keine Erscheinung geben kann ohne etwas, was erscheint, lehnt Husserl in seiner Phänomenologie jeden Bezug auf eine hinter den Erscheinungen stehende Wirklichkeit an sich ab. Die Erscheinungen oder Phänomene bilden für Husserl als unmittelbar gegebene reine Bewusstseinsinhalte den eigentlichen Gegenstand jeder philosophischen Untersuchung. In der Ablehnung einer den Erscheinungen zugrundeliegenden Wirklichkeit geht Sartre noch über Husserl hinaus. Mit der von ihm geforderten Gleichsetzung von Sein und Erscheinen erhält die Erscheinung jenen ontologischen Status, welcher zuvor der hinter der Erscheinung angenommenen Wirklichkeit an sich zukam. S. 160

Weitere Zitate

  • Dasein wird bei ihm [Jaspers] unterschieden von Existenz, die die im Dasein zur Erscheinung kommende Wirklichkeit meines eigentlichen Seinkönnens ist. S. 96
  • Erleben, direktes gegenwärtiges inneres Erfassen einer Erscheinung. S. 158

LThK

Erscheinung

Stichwort: Erscheinung, Autor: Klaus Hedwig

Der Terminus bezeichnet am Leitfaden eines opt. Modells eine Ambivalenz, die für die Erkenntnistheorie unauflöslich ist: das, was in der Sinnlichkeit gegeben ist, sich „zeigt“, ist eine unsichere Darstellung des eigentlich Seienden, das nur begrifflich erfaßt werden kann. Diese Differenz wurde geschichtlich verschieden interpretiert: bei Platon als „Idee“ und δόξα, bei Leibniz als „Monade“ u. deren „Spiegelung“, bei Kant als „Noumenon“ und „Phaenomenon“, bei Hegel als „Wesen“ u. „Schein“, während in der /Phänomenologıe (E. /Husserl) das, was „erscheint“, als „es selbst“ z. Gegenstand der Deskription wird. — Diese philos. Implikate sind zu beachten, wenn der Begriff Erscheinung in theol. Kontexten gebraucht wird. Bd. 3, S. 827-828

RGG4

Erscheinung: kein Stichwort

Auswertungen und Schlussfolgerungen

Häufigkeiten

Tab. Normierte Häufigkeiten[1]

Wörter

DWDS

HWPh

EPh

MLPh

Wesen

10,0

56,7

32,9

64,5

wesentlich

43,2

30,0

27,2

27,8

Erscheinung

7,4

27,6

12,6

19,0

erscheinen

97,0

10,2

8,6

6,0

In der Alltagssprache wird das Wörter „Wesen“ mit mittlerer Häufigkeit, das Wort „wesentlich“ häufig, das Wort „Erscheinung“ selten und das Wort „erscheinen“ häufig verwendet.

In den philosophischen Lexika wird das Wort „Wesen“ in zwei Lexika sehr häufig und in einem häufig verwendet. Das Wort „wesentlich“ kommt in allen drei Lexika ebenfalls häufig vor, während das Wort „Erscheinung“ nur in einem Lexikon häufig und in den anderen mit mittlerer Häufigkeit auftritt. Das Wort „erscheinen“ ist in allen Lexika selten zu finden.

Zum Wort „Wesen“

Alltagssprache

Aus den Angaben im DWDS und DUW lassen sich folgende Hauptbedeutungen des Wortes „Wesen“ in der Alltagssprache erkennen:

  1. Wesen bezeichnet die Gesamtheit der Merkmale, die für eine Sache charakteristisch sind. Was unter den Terminus Sache fällt und was „charakteristisch“ bedeutet, bleibt dabei allerdings offen.
  2. Mit dem Wesen eines Menschen werden die Eigenschaften eines Menschen, insbesondere Gesinnung und Charakter bezeichnet, die in seinem Verhalten zum Ausdruck kommen.
  3. Mit Wesen können Lebewesen oder allgemein lebende Organismen bezeichnet werden.
  4. Das Wort „Wesen“ kann auch etwas Transzendentes, ein Geistwesen im Rahmen religiöser Vorstellungen bedeuten.

Bei den fünf signifikanten Kollokationen mit Genitivattributen aus dem DWDS ist in den Verbindungen mit „Ding“ und „Sache“ die erste Bedeutung, mit „Christentum“ und „Religion“ die vierte Bedeutung, und mit „Mensch“ die zweite Bedeutung enthalten. Auch in der Alltagssprache spielt also die vierte Bedeutung ebenfalls eine Rolle.

wesentlich

Das Wort „wesentlich“ hat dem DWDS und dem DUW folgende zwei Bedeutungen:

  1. den Kern einer Sache ausmachend und daher besonders wichtig; von entscheidender Bedeutung; grundlegend
    Darunter fällt der Mehrwortausdruck „im Wesentlichen“ mit den Bedeutungen:
    a) aufs Ganze gesehen, ohne ins Einzelne zu gehen
    b) in erster Linie, in der Hauptsache
  2. 〈intensivierend bei Adjektiven im Komparativ u. bei Verben〉 um vieles; in hohem Grade; sehr

Die signifikanten Kollokationen (Bestandteil, Punkt, Unterschied, Teil, Element) beziehen sich alle auf die erste Bedeutung (ohne den Mehrwortausdruck).

Philosophie und Theologie

Zu Beziehungen der Wörter „Wesen“ und „Erscheinung“

Obwohl die Begriffe Wesen und Erscheinung oft in Zusammenhang gebracht werden, behandeln sie vier der gesichteten fünf Lexika in jeweils gesonderten Stichwörtern, wobei im RGG4 das Stichwort „Erscheinung“ nicht auftritt. Nur in der Enzyklopädie Philosophie werden von den Autoren Enrico I. Rambaldi und Detlev Pätzold im Stichwort Wesen/Erscheinung/Schein die Bezüge der Begriffe dargestellt. In MLPh erklärt Thomas Hammer allerdings auch den Begriff des Wesens „als das Identisch-Bleibende im Gegensatz zur Mannigfaltigkeit der ständig wechselnden Erscheinungen (MLPh, S. 678).

Der Umfang der Stichwörter in den Lexika unterscheidet sich deutlich, wie aus der folgenden Tabelle ersichtlich ist.

Tab. Anzahl der Wörter in Stichworten, ohne Literaturangaben

Stichworte

HWPh

EPh

MLPh

LThK

Wesen (W)

9411

4536

504

759

Erscheinung (E)

732

277

101

Verhältnis E : W

1 : 12,8

 

1 : 1,8

1 : 7,5

Im Stichwort Wesen/Erscheinung/Schein in der Enzyklopädie Philosophie tritt 64-mal das Wort Wesen und 69-mal das Wort Erscheinung auf, sodass man von einem ausgewogenen Verhältnis sprechen kann. Dagegen kommt im Stichwort Wesen im Historischen Wörterbuch der Philosophie das Wort Erscheinung nur 13-mal vor, während das Wort Wesen selbst 469-mal auftritt. Im Metzler Lexikon Philosophie gibt es im Stichwort Wesen nur dreimal das Wort Erscheinung. In beiden Lexika tritt im Stichwort Erscheinung das Wort Wesen nicht auf. Auch im Lexikon Theologie und Kirche gibt es kaum Bezüge in den Stichworten zu dem jeweils anderen Begriff; im Stichwort Wesen tritt das Wort Erscheinung nicht auf und im Stichwort Erscheinung tritt das Wort Wesen nur einmal auf.

Man kann also insgesamt feststellen, dass lediglich in der Enzyklopädie Philosophie der Zusammenhang der Begriffe Wesen und Erscheinung erörtert wird. Die Geschichte des Zusammenhangs wird dabei in Bezug auf drei philosophische Strömungen dargestellt, die skeptische, die kritische und die realistische.

Nach der skeptischen Auffassung, die insbesondere im Skeptizismus vertreten wird, werden die Gegensätze, die uns von der Erfahrung zukommen, als unlösbar eingeschätzt. Es ist nicht möglich, über den Schein hinauszugehen zu können und das Wesen der Dinge zu erfassen. Für den Skeptizismus bleibt ein wahres Wissen unerreichbar (EPh, S. 2983).

In der realistischen Strömung, die in der Antike insbesondere durch Aristoteles vertreten wird, gilt die Trennung zwischen Erscheinung und Wesen nicht als unüberwindlich und die Analyse der Erscheinungen als der Weg auf dem man zum wesentlichen Kern der Dinge gelangen kann. Die Vielfältigkeit der Erscheinung wird als Entfaltung des zugrunde liegenden Wesens interpretiert. An sich betrachtet sind die konträren Erscheinungen nicht trügerischer Schein, sondern die tiefsten Eigentümlichkeiten des Wesens. (EPh, S. 2983-2984).

Die kritische Strömung wird nach Rambaldi und Pätzold erstmals durch I. Kant entwickelt. Die Kantsche Transzendentalphilosophie bietet eine Basis, auf Grund deren eine Verstandeswissenschaft von den Erscheinungen der Erfahrung ermöglicht wird; sie bietet auch ein genaues Kriterium an, um das kritische Wissen vom Schein einer jeden Metaphysik abzusondern. Auch in jenen Untersuchungen bleibt jedoch die kritische Unterscheidung zwischen Schein, Erscheinung und Wesen erhalten, und es ist ein Verdienst seiner transzendentalen Philosophie, bewiesen zu haben, dass man die phaenomena in eine kritische Wissenschaft einordnen kann, indem Kant diese phaenomena von den noumena einerseits und vom Schein des unkritischen Wissens andererseits unterschieden hat (Enrico I. Rambaldi und Detlev Pätzold in EPh, S. 2985b – 2986).

Probleme, die mit dem Wort „Wesen“ verbunden sind

Zur Häufigkeit von „Wesen“ in philosophischen Lexika und Beziehungen zu Alltagssprache

Das Wort „Wesen“ gehört neben den Wörtern Begriff, Bewusstsein, Ding, Gegenstand, Sein, Verhältnis und Wort zu den sehr häufig in philosophischen Lexika verwendeten Wörtern. Die Ausführungen zum Stichwort Wesen im HWPh sind mit 30-A4 Seiten entsprechend umfangreich und auch in der EPh gibt es zehn Seiten zum Stichwort Wesen/Erscheinung/Schein.

Um einen Eindruck von Kollokationen mit dem Wort „Wesen“ und ihrer Häufigkeit zu bekommen, wurde eine Analyse der Häufigkeit des Auftretens des Wortes „Wesen“ bei den Stichwörtern zweier Lexika mit folgenden Ergebnissen durchgeführt:

Historisches Wörterbuch der Philosophie (Ritter et al. 2007)

Es wurden alle Stichworte erfasst, bei den das Wort „Wesen“ mindestens 20-mal auftrat.

Wesen (469), Gott (135), Metaphysik (69), Religion (65), Seele (55), Form und Materie (Stoff) (55), Person (52), Sein/Seiendes (51), Natur (47), Kunst/Kunstwerk (47), Mensch (45), Philosophie (45), Idee (45), Naturrecht (42), Wahrheit (38), Malum (36), Geist (35), Vernunft/Verstand (31), transzendental (31), Individuen/Individualität (26), Körperschaft (26), Judentum/Wesen des Judentums (25), Leben (24), Grund (23), Dialektik (23), Psychologie (21), Substanz (21), Mythos/Mythologie (21), Notwendigkeit (20)

Enzyklopädie der Philosophie (Sandkühler et al. 2010)

Es wurden alle Stichworte erfasst, bei denen das Wort „Wesen“ mindestens zehnmal auftrat.

Wesen/Erscheinung/Schein (64), Substanz/Akzidens (20), Christentum (18), Erkenntnis/Erkenntnistheorie (18), Leib-Seele-Problem (16), Ding/Eigenschaft (15), Idealismus (14), Geist (13), Idee (12), Gottesbegriff/Gottesbeweis (12), Staat/Staatsformen (11), Gegensatz/Widerspruch (10), Sprachphilosophie (10)

Im Historischen Wörterbuch der Philosophie wird „Wesen“ in den Stichworten Form und Materie, Sein/Seiendes, Natur, Leben und Substanz vermutlich im Sinne der ersten alltagssprachlichen Bedeutung (Gesamtheit der Merkmale, die für eine Sache charakteristisch sind) verwendet wird. In der Enzyklopädie der Philosophie weist das Auftreten von „Wesen“ bei den Stichwörtern Substanz/Akzidens, Natur, Ding/Eigenschaft, Erkenntnistheorie und Sein/Seiendes auf die Verwendung im Sinne des ersten Aspektes hin.

Bezüge zur vierten alltagssprachlichen Bedeutung von „Wesen“ (Transzendentes, ein Geistwesen im Rahmen religiöser Vorstellungen) gibt es offensichtlich im Historischen Wörterbuch der Philosophie bei den Stichworten Gott, Religion, Seele, Geist, transzendental, Judentum/Wesen des Judentums und Mythos/Mythologie. In der Enzyklopädie der Philosophie sind es die Stichworte Christentum, Geist und Gottesbegriff/Gottesbeweis, in denen häufig das Wort „Wesen“ in der vierten Bedeutung vorkommt. Die Unterschiede in der Gewichtung der vierten Bedeutung ergeben sich vermutlich auch aus der Tatsache, dass im Historischen Wörterbuch der Philosophie ausführlicher auf die Geschichte der Philosophie eingegangen wird.

Zu transzendenten Momenten des Wesensbegriffs in den Lexika

Die Analysen zur Häufigkeit des Wortes „Wesen“ in den Stichworten zweier philosophischer Lexika weisen bereits darauf hin, dass das Wort häufig in theologischen Zusammenhängen verwendet wird. Die Ausführungen im Stichwort Wesen der fünf analysierten Lexika belegen dies. So stellt Tobias Hoffmann im HWPh fest: „Das Verständnis von ‹Wesen› (‹essentia›) entwickelt sich im lateinischen Mittelalter im theologischen und philosophischen Kontext: Die Trinitätsspekulation bestimmt die göttliche Wesenheit im Verhältnis zu den drei Personen. Die Christologie erörtert, ob in Christus die göttliche und die menschliche Wesenheit durch ein einziges Sein konstituiert werden. Die Schöpfungstheologie unterscheidet zwischen der göttlichen und geschaffenen Wesenheit. Die Ideenlehre thematisiert eine exemplarische Abhängigkeit der Wesensnaturen von göttlichen Urbildern“ (HWPh Bd. 12, S. 627).

Auch im deutschen Idealismus werden Gott und Wesen in Zusammenhang gebracht. So gebiert sich nach Schelling in Gott das Wesen. Jedoch muss nach seiner Auffassung in Bezug auf Gott unterschieden werden „zwischen dem Wesen, sofern es existirt, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist“. Den Grund seiner Existenz, den Gott in sich selbst haben muss, nennt Schelling „die Natur – in Gott; ein von ihm zwar unabtrennliches, aber doch unterschiedenes Wesen“ und unterscheidet es von dem Wesen, das Gott „Er Selbst“ ist (F. W. J. SCHELLING: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809). Sämmtl. Werke, hg. K. F. A. SCHELLING (1856–61) I/7, 357–359). Grund von Existenz und Existenz können bei Schelling als gleichrangige Prädikate des Wesens angesehen werden (Hartwig Frank & Werner Stegmaier in HWPh Bd. 12, S. 638).

Robert Theis weist in seinem Beitrag „Wesen, höchstes“ im HWPh darauf hin, dass der Begriff „höchstes Wesen“ begriffsgeschichtlich wie inhaltlich unscharfe Konturen hat, weil er häufig als Stellvertreter zur Bezeichnung von Gott, ‘Vater, dem Absoluten usw. verwendet wird (HWPh Bd. 12, S. 645).

In den theologischen Lexika wird dieser Aspekt noch deutlicher herausgestellt. „Es ist für die Geschichte der Metaphysik charakteristisch, dass ihre Untersuchung von Sein und Wesen traditionell in der Gottesfrage kulminiert. Gleichzeitig hat die christliche philosophische Theologie die Bezeichnung Gottes als Wesen weitgehend übernommen, wenn auch deren genaue Bedeutung stets problematisch war“ (J. Zachhuber in RGG4 Bd. 8, S. 1482).

Weitere Bedeutungen des Wortes „Wesen“

Das Wort „Wesen“ hat, nachdem es im Deutschen im 18 Jahrhundert erstmalig auftritt, dieselbe Doppelbedeutung, die auch schon in dem griechischen Wort οὐσία enthalten ist. Wesen bezeichnet zum einen etwas Bestimmtes, Für-Sich-Seiendes und zum anderen die allgemeine Natur einer Sache (HWPH Bd. 12, S.621).

Die Hauptbedeutung des Wortes Wesen in der Alltagssprache, die Gesamtheit der Merkmale zu bezeichnen, die für eine Sache charakteristisch sind, tritt auch häufig in den gesichteten Lexika auf. So formuliert Johannes Zachhuber im RGG4: „Das Wesen meint das Charakteristische einer Sache: das, was eine Sache zu der macht, die sie ist“ (RGG4 Bd. 8, S. 1481).

Aussagen zum Begriff „Wesen“ beinhalten teilweise auch die zweite alltagssprachlichen Bedeutung als Eigenschaften eines Menschen, insbesondere als Gesinnung und Charakter bezeichnet, die in seinem Verhalten zum Ausdruck kommen (Wesen eines Menschen). So gehört nach Dilthey der Begriff des Wesens zu den Lebenskategorien, der eine Lebenstatsache ausdrückt, die in der inneren Erfahrung des Subjektes angelegt ist. Da aber der Lebenszusammenhang letztlich nicht durch Begriffe zu ergründen sei, enthalte der Begriff von Wesenheit einen dunklen und für den Verstand unergründlichen Kern, welchen wir durch keine Art von logischer Behandlung disziplinieren können. Stattdessen gebe es in jedem Individuum ein Mittelpunkt seines Wesens und der Bedeutung seines Daseins, den wir durch das Bewusstsein unserer Verwandtschaft ihm verstehend erfassen können (nach Frank & Stegmaier in HWPh Bd. 12, S. 641).

Auch Bergson hält das Wesen eines Menschen für unergründbar. In der Auseinandersetzung mit dem Evolutionismus und dem Darwinismus kommt er zu der für ihn grundlegenden Einsicht, dass „unser Denken in seiner rein logischen Form unfähig ist, das wahre Wesen des Lebens, den tiefen Sinn der Entwicklungsbewegung vorzustellen“ (HWPh Bd. 2, S. 95).

In den Anfängen der Analytischen Philosophie wird der Terminus „Wesen“ als „sinnloser Fachterminus der herkömmlichen Metaphysik“ angesehen. Ursache ist die allgemeine Skepsis gegenüber dem Begriff der Notwendigkeit. Eine Rehabilitierung des Wesen-Begriffs erfolgt im Zuge der Referenz- und Bedeutungstheorie von S. Kripke und H. Putnam. Mit Wesen werden Eigenschaften einer Sache bezeichnet, die für die Sache notwendig und wesentlich sind. Im Unterschied zu anderen Eigenschaften ist es für das Wesen einer Sache kennzeichnend, dass der Verlust dieser Eigenschaft stets das Vergehen der betreffenden Sache bedeutet (Chr. Rapp in HWPh Bd. 12, S. 644-645).

Zur Natur des Wesens

Bereits mit den Diskussionen im Anschluss an die Unterscheidung des Wesens bei Aristoteles in eine erste und zweite Substanz, wird die Frage aufgeworfen, ob das Wesen einer Sache etwas rein Mentales ist, das sich nur im Bewusstsein befindet, oder ob es auch als Nichtmentales existieren kann. In Bezug auf das Beispiel eines Pferdes bedeutet dies, ob das Wesen eines Pferdes als Gesamtheit seiner charakteristischen Merkmale nur das Ergebnis einer Erkenntnistätigkeit ist, oder ob dieses Wesen auch real existiert.

Die Unterscheidung von Wesen und Sein, von Wesen und Erscheinung ist seit der Antike Bestandteil vieler Theorien. Im Anschluss an Aristoteles unterscheidet auch Hegel zwischen Wesen und Sein, zwischen einer Wesenslogik und einer Seinslogik, die als dialektische Einheit Grundlage seiner philosophischen Theorien sind. Diese Betrachtung ergibt sich in naheliegender Weise aus Überlegungen zum Prozess der Erkenntnisgewinnung, dessen Ausgangspunkt das Wahrgenommene, die Erscheinungen sind und in dessen Fortgang die Wesensmerkmale des Gegenstandes der Untersuchung herausgearbeitet werden sollen.

Für Husserl und Schlick ist das Wesen nicht ein Produkt der „Urteilskraft“, sondern ein selbstständiger Gegenstand, ein selbstständiges Sein. :“Das Wesen (Eidos) ist ein neuartiger Gegenstand. So wie das Gegebene der individuellen oder erfahrenden Anschauung ein individueller Gegenstand ist, so das Gegebene der Wesensanschauung ein reines Wesen“ (E. HUSSERL: Ideen zu einer reinen Phänomenol. und phänomenol. Philos. 1. Buch. Husserliana (Den Haag 1950), S. 14). Nach Schlick gibt „nur eine Wirklichkeit, und sie ist immer Wesen und läßt sich nicht in Wesen und Erscheinung auseinander legen“ (Ritter et al. 2007, Bd. 12, S. 641).

Mit dieser Diskussion wird die generelle Frage aufgeworfen, inwieweit Merkmale und Eigenschaften eines Existierenden nur Bestandteil der Ebene des Mentalen sind. Wenn das Existierende selbst etwas Mentales ist (zum Beispiel Begriffe oder Theorien) ist auch die Erkenntnis ihrer Eigenschaften etwas Mentales, allerdings formuliert in einer Metasprache in Bezug auf den mentalen Erkenntnisgegenstand. Auch in diesem Fall bleibt die Frage, ob die reflektierten Merkmale auch Bestandteil der Ebene der untersuchten mentalen Gegenstände sind. Für nichtmentale Gegenstände, wie etwa ein Pferd, steht die Frage, ob die allgemeinen Merkmale auch in jedem konkreten Objekt real existieren.

Diese Fragen lassen sich nur auf Grundlage einer Explikation der Begriffe Merkmal und Eigenschaft diskutieren. Wie gezeigt wurde, wird zwischen diesen beiden Begriffen mit wenigen Ausnahmen in der gesamten philosophischen Literatur und auch in anderen Wissenschaften nicht unterschieden (vgl. https://philosophie-neu.de/analysen-der-begriffe-merkmal-und-eigenschaft/), sodass eine Klärung der Problematik bisher nicht erfolgen konnte. Nach der vorgeschlagenen Explikation der beiden Begriffe (vgl. https://philosophie-neu.de/zu-den-begriffen-merkmal-und-eigenschaft-2/) kann in folgender Weise argumentiert werden. Objekte besitzen Merkmale, wie zum Beispiel das Pferd das Merkmal der Vierbeinigkeit. Jedes Merkmal besitzt Ausprägungen, die die Eigenschaften des Objektes sind. Zum Beispiel sind Ausprägungen des Merkmals „Vierbeinigkeit“ die konkrete Form und Struktur der Beine. Eigenschaften als Merkmalsausprägungen existieren also in der Realität. Aber auch Merkmale haben einen realen Charakter, da sie bei den Objekten vorhanden sind und beim Erkenntnisprozess sinnlich wahrgenommen werden können. So sieht ein jeder, dass ein Pferd vier Beine hat. Ein Biologe, Tierarzt oder Besitzer eines Rennstalls wird sich dann genauer mit den konkreten Ausprägungen des Merkmals, also der konkreten Art der Beine, beschäftigen.

Wesen, Begriff und Definition

Für W. Ostwald besteht das Wesen einer Sache in der „Gesamtheit ihrer möglichen Beziehungen“ (Ritter et al. 2007, Bd. 12, S. 640). Wenn die Bedeutung des Terminus „Wesen“ in diesem Sinne ausgedehnt wird, deckt er sich mit der Bedeutung des Terminus „Begriff“ im Sinne des spekulativen Begriffs von Hegel. Der spekulative Begriff ist das Ergebnis des Erkenntnisprozesses, wie er etwa in der Phänomenologie des Geistes von Hegel beschrieben wird. Zur Gesamtheit der möglichen Beziehungen einer Sache und damit zur Gesamtheit der Momente des betreffenden Begriffs gehört weit mehr als die typischen Charakteristika, die das Wesen ausmachen. Das Aufdecken des Wesens eines Gegenstandes wäre mit der Ansicht von Ostwald gleichbedeutend mit diesem generellen Erkenntnisprozess. Auf Zusammenhänge zwischen Bestimmung des Wesens, Erkenntnisprozess und Begriff wird in den philosophischen Texten nicht eingegangen.

Nach Aristoteles kann man das Wesen in einer Definition zum Ausdruck bringen. Er hat als erster zwischen verschiedenen Arten von Definitionen genauer unterschieden und als wichtigste Art diejenige angesehen, die ausdrückt, worin das Wesen des zu definierenden Gegenstandes besteht: «Die Definition ist eine Rede, die das Wesen anzeigt» Die Wesensdefinition erfolgt nach Aristoteles über die nächsthöhere Gattung und die spezifische Differenz des zu Definierenden. In der Folgezeit haben sich auch weitere Philosophen wie Leibniz, Kant, Wolff und Krug mit dem Problem der Wesensdefinition beschäftigt. So hält es Leibniz nicht für erforderlich nur wesentliche Merkmale zu verwenden und betont, dass ein und derselben Wesenheit mehrere Definitionen genügen können. Nach Kant sollte Realdefinition auf das Wesen der Sache oder das Realwesen bezogen sein und Krug fordert, dass Sacherklärungen das Wesen eines Dinges erklären sollen. Diese Forderungen treten im Zuge der Ausbildung der logischen Methodenlehre zu Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert mehr und mehr zurück, ohne dass aber die Rede vom Wesen ganz aus der Definitionslehre verschwindet (Thomas Dewender und Redaktion in HWPH Bd. 12, S. 651).

Wesen und Wesentliches

Der Terminus „Wesen“ wird teilweise in Zusammenhang mit dem Begriff des Wesentlichen gebracht. So kann man nach Rickert den „Inbegriff des Wesentlichen“, den wir „mit Hilfe des formalen Prinzips aus der Wirklichkeit herauslösen, … auch das ‘Wesenʼ der Dinge nennen, falls das Wort überhaupt einen für die empirischen Wissenschaften bedeutsamen Sinn bekommen soll“ (Hartwig Frank & Werner Stegmaier in HWPh Bd. 12, S. 641).

Auch nach Thomas Hammer unterscheidet man „zwischen Eigenschaften, die einem Seienden wesentlich, essentiell sind, und unwesentlichen, akzidentiellen Eigenschaften“ (MLPh, S. 678). Im MLPh gibt es als einzigem Lexikon das Stichwort „wesentlich“. „Wesentlich“ erklärt als das, was „zum Wesen gehörend ist, was ein Seiendes konstituiert, in seiner Eigenart bestimmt und was als notwendig zu ihm gehörend seinen Begriff ausmacht. Man unterscheidet zwischen wesentlichen, essentiellen Eigenschaften, also solchen Eigenschaften, die ein Seiendes nicht verlieren kann, ohne aufzuhören, es selbst zu sein, und unwesentlichen, akzidentiellen Eigenschaften, also solchen Eigenschaften, die den Bestand eines Seienden nicht weiter berühren“ (Thomas Hammer in MLPh, S. 679).

Diese Herangehensweise an den Begriff des Wesens wird auch von Klaus Hedwig im LTK vertreten. „Die wesentlichen (essentiellen) Eigenschaften eines Gegenstands x, die zusammen sein Wesen ausmachen, sind diejenigen Eigenschaften, von denen gilt: Es ist logisch unmöglich, daß x existiert, ohne sie zu haben. (Alle anderen Eigenschaften von x sind akzidentell.) (LTK Bd. 10, S. 1113)

Verhältnis allgemeiner Betrachtungen und konkreter Beispiele

Es gibt in den analysierten Lexika nur sehr wenige Beispiele bzw. beispielgebundene Argumentationen. Es treten fast ausschließlich allgemeine Betrachtungen und Bezüge zu Begriffen wie Design, Existenz, Essenz, Grund und anderen auf.

Rolle dynamischer Betrachtungen

Da das Wesen in vielen Fällen die Bedeutung von Bestand, Substanz oder sein hat, wäre es naheliegend, auch Betrachtungen zum Entstehen und Vergehen des Wesens im Sinne von Bestand anzustellen. Bei Wesen in der Bedeutung von Natur einer Sache läge es auf der Hand, Veränderungen des Wesens zu diskutieren. Man findet diese Betrachtungen nur bei Aristoteles im siebten Kapitel der Metaphysik und bei Betrachtungen zum Wesensbegriff in der analytischen Philosophie, bei dem es um die für eine Sache notwendigen Eigenschaften geht. B. Brody kommt es dabei auf den Unterschied zwischen gewöhnlichen Veränderungen und dem Werden und Vergehen an (Chr. Rapp in HWPh Bd. 12, S. 645).

Unter den zahlreichen im HWPh (Bd. 2, S. 31-42) im Stichwort „Definition“ referierten Theorien gehen nur die Überlegungen von Chr. Wolff auf dynamische Betrachtungen zur Bestimmung wesentlicher Merkmale eines Begriffs ein. Er schlägt vor, um wesentliche Eigenschaften einer Sache zu finden, „die äußeren Bedingungen künstlich abzuändern“ und erläutert dies am Beispiel des Wachses. Nach seiner Auffassung wäre es Aufgabe einer Realdefinition, die Art und Weise anzuzeigen, wie eine Sache entstehe und möglich sei. Dadurch werde nämlich ihr Wesen erklärt. Denn das Wesen sei das erste, was man von einer Sache «gedenken kann und darin der Grund des Übrigen, so ihr zukommt, zu finden ist». Nun könne aber nichts eher von einer Sache gedacht werden, als wie sie entstanden oder dasjenige geworden sei, was sie sei. Daher verstehe man das Wesen einer Sache, wenn man wisse, wie sie geworden sei. Am Beispiel einer Uhr hält er es für nötig anzugeben: 1. welche Dinge für ihr Entstehen notwendig seien und 2. was jedes Einzelne von ihnen zur Entstehung dieser Sache beitrage (HWPh Bd. 2, S. 34).

Zusammenfassung und Vorschläge zur Verwendung des Wortes

Generelle Einschätzung

Das Wort „Wesen“ ist als philosophischer Begriff aus folgenden Gründen nicht geeignet.

  • Das Wort hat in der Alltagssprache vier unterschiedliche Bedeutungen.
  • In der Philosophie hat das Wort „keine fest umrissene Bedeutung“ (Prechtl und Burkard 2008, S. 687), es hat von seinem ersten Auftreten an mindestens zwei Bedeutungen.
  • Die Bedeutungen stehen in enger Beziehung zu Begriffen wie Sein, Seiendes und Substanz, die mehrere Bedeutungen besitzen und als philosophische Termini wenig geeignet sind.
  • Eine Beschränkung auf eine der Hauptbedeutungen, Wesen als das Charakteristische eines Objekts, ist nicht möglich, da weder der Begriff des Charakteristischen noch Methoden seiner Feststellung eindeutig erklärbar sind. Dies betrifft zum Beispiel die Frage nach dem Wesen eines Menschen
  • Das Wort „Wesen“ hat auch in der Philosophie die alltagssprachliche Bedeutung von etwas Übersinnlichem und Göttlichem oder generell Transzendentem.
  • Das Wort ist ebenfalls ein theologischer Begriff, der in Zusammenhang mit dem Wort „Gott“ verwendet wird, wie etwa in dem Ausdruck „Wesen Gottes“ oder „höchstes Wesen“.

Vorschläge zur Verwendung der Wörter „Wesen“ und „Wesentlich“

Obwohl es also aus den genannten Gründen keinen klar umrissenen philosophischen Begriff „Wesen“ geben kann, existieren durchaus zahlreiche Fragestellungen und Diskussionen im Alltag und den Wissenschaften, die mit dem Wort „Wesen“ verbunden sind und aus philosophischer Sicht betrachtet werden können. Dazu sollen im Folgenden einige Gedanken und Vorschläge unterbreitet werden.

Ein Bezugspunkt ist die Hauptbedeutung des Wortes „wesentlich“ in der Alltagssprache im Sinne von „den Kern einer Sache ausmachend und daher besonders wichtig, von entscheidender Bedeutung bzw. grundlegend sein“. Dies entspricht der Bedeutung, in der „wesentlich“ auch in der Philosophie insbesondere in der Wortkombination „wesentliche Eigenschaft“ verwendet wird. In diesem Sinne kann der Terminus „wesentliches Merkmal eines Objektes“ als ein Merkmal erklärt werden, dass für das Objekt notwendig ist. D. h. mit anderen Worten, das Objekt besitzt das wesentliche Merkmal und wenn ein Objekt das wesentliche Merkmal nicht besitzt, so handelt es sich um ein anderes Objekt. So ist etwa das Vorhandensein eines rechten Winkels ein wesentliches Merkmal eines Quadrats, d. h., wenn ein Viereck ein Quadrat ist, dann hat es einen rechten Winkel und wenn ein Viereck keinen rechten Winkel hat, dann ist es auch kein Quadrat. Wenn es möglich ist, einen Begriff zu definieren, dann kann eine Definition durch die Angabe aller wesentlichen Merkmale und eines entsprechenden Gattungsbegriffs erfolgen. So kann etwa ein Quadrat als ein Viereck definiert werden, dass einen rechten Winkel hat und in dem alle vier Seiten gleich lang sind.

Eine weitere Möglichkeit ist das Anknüpfen an die alltagssprachliche Bedeutung von „Wesen“ als Gesamtheit der Merkmale, die für eine Sache charakteristisch sind. Diese Bedeutung ist auch in den Lexika als ein Aspekt von „Wesen“ enthalten. Mögliche Betrachtungen zum Wesen in diesem Sinne bzw. zum Kern oder zum Charakteristischen sollen an zwei Beispielen demonstriert werden.

  • Wenn nach dem Wesen eines Gerätes, wie etwa einem Kopierer, gefragt wird, sind folgende Fragestellungen möglich:
  1. Was ist ein Kopierer? Dies führt auf die Angabe der wesentlichen Merkmale aus der Sicht der Funktion des Gerätes. So könnte für einen Kopierer angegeben werden, dass er die Funktion besitzt, beschriftete Seiten oder Fotos auf eine leere Seite oder Fotopapier zu übertragen.
  2. Wie funktioniert das Gerät? Diese Fragestellung führt auf die Angabe der grundlegenden Funktionsweisen des Gerätes, die für dieses Gerät charakteristisch sind.
  • Fragen nach dem Wesen eines einzelnen Textes oder einer Rede sind unter anderem:
  1. Was ist das Wesentliche in dem Text?
  2. Welches sind die zentralen, wesentlichen Gedanken?
  3. Wie kann man das Wesentliche kurz zusammenfassen und damit redundante Bestandteile reduzieren?

Bei solchen Betrachtungen zum Wesen muss unterschieden werden zwischen einem einzelnen konkreten Objekt und einer Klasse von Objekten, wie an folgenden Beispielen deutlich wird.

  • Bei der Frage nach dem Wesen eines Menschen sind zwei Sichtweisen möglich.
  1. Wenn es um einen einzelnen konkreten Menschen geht, müssen die Ausprägungen aller Merkmale des Menschen untersucht werden, um dann diejenigen zu bestimmen, die für das Denken und Handeln des Menschen charakteristisch sind. Dies ist, wie auch in der Literatur mehrfach angegeben, eine in der Regel unlösbare Aufgabe.
  2. Geht es um das Wesen eines Menschen im Allgemeinen, so können als wesentliche Merkmale angegeben werden, dass er ein zweibeiniges, vernunftbegabtes Lebewesen ist, wobei noch zu erklären wäre, was unter Vernunft zu verstehen ist. Die Zweibeinigkeit als Merkmal hat als Ausprägungen die konkrete Form und Struktur der Beine.
  • Zwei Sichtweisen sind ebenfalls möglich bei der Frage nach dem Wesen einer philosophischen Theorie.
  1. Es kann nach den Kerngedanken einer speziellen Theorie gefragt werden. Dazu müssen die Ausprägungen folgende Merkmale untersucht werden: Gegenstandsbereich, Abgeschlossenheit, Kumulativität, Grad der Transzendenz, zentrale Ideen u. a.
  2. Allgemein kann für philosophische Theorien als ein wesentliches Merkmal genannt werden, dass sich die Theorien mit grundlegenden Fragen beschäftigen, die für alle Fachwissenschaften von Bedeutung sind.

Die Überlegungen illustrieren erneut, dass sich neue philosophischer Einsichten ergeben, wenn man das Denkgebäude des reinen Operierens mit allgemeinen Begriffen verlässt und zu konkreten Beispielen und Sachverhalten aufsteigt.

Zum Wort „Erscheinung“

Alltagssprache

Im DWDS und DUW gibt es übereinstimmend drei Hauptbedeutungen, wobei die erste im DUW noch weiter untergliedert wird.

  1. das Wahrnehmbare
    1. von jmdm. wahrgenommener Vorgang, ⟨in Erscheinung treten⟩ sichtbar werden
    2. Philosophie: alles in Raum und Zeit Befindliche, Wahrnehmbare; die erkennbaren äußeren Eigenschaften der Dinge und Prozesse, die durch die Anschauung, Erfahrung gegeben sind
  2. durch ihr Äußeres, ihr Erscheinungsbild in bestimmter Weise wirkende Persönlichkeit
  3. Vision, Traumbild

Von den fünf signifikanten Kollokationen beziehen sich zwei auf die erste Hauptbedeutung (treten, vorübergehend) und drei auf die zweite Bedeutung (äußer, imposant, elegant).

Kollokationen mit transzendentalen Wörtern wie „Auferstandene“, „Engel“, „Jungfrau“ oder „Herr“ treten nur bei einer von 13 analysierten grammatischen Funktionen auf. Die Verbindungen haben zwar einen großen logDice-Wert, aber alle nur eine sehr geringe Frequenz, spielen also im Alltag nur eine sehr geringe Rolle.

erscheinen

Bis auf geringe Unterschiede geben das DWDS und DUW drei Hauptbedeutungen an.

  1. a) sichtbar, wahrnehmbar werden
    b) sich im Traum, als Vision zeigen
    c) sich wie erwartet einfinden, einstellen; auftreten
  2. herausgegeben, veröffentlicht werden
  3. sich in bestimmter Weise darstellen

Die fünf signifikanten Kollokationen (Album, Buch, Roman, in Verlag, Untertitel) beziehen sich alle auf die zweite Bedeutung. Dies könnte auch eine Ursache für die häufige Verwendung des Wortes in der Alltagssprache sein.

Philosophie und Theologie

Der subjektive Charakter von „Erscheinung“

Ein wesentliches Moment des Wortes „Erscheinung“ ist seine Bindung an einen wahrnehmenden Menschen. Es gibt keine Erscheinung an sich ohne Bezug auf einen Menschen, der diese wahrnimmt.

„Wenn Erscheinung nie von Erscheinendem getrennt werden darf, so darf sie andrerseits ebenso wenig von demjenigen, dem etwas erscheint (…) – also dem Urteilenden – abgelöst werden. Erscheinung gibt es nicht außerhalb des feststellenden Urteils“ (P. Häberlin: Logik (1947), S. 103. zitiert nach HWPh Bd. 2, S. 726).

Dieses Moment ist in allen alltagssprachlichen Bedeutungen des Wortes enthalten, sie sind alle an einen Menschen gebunden. Die ersten beiden Bedeutungen beziehen sich auf nichtmentale Objekte und die dritte Bedeutung (Vision, Traumbild) auf mentale Objekte, wobei die mentalen Objekte zum Mentalen des Wahrnehmenden gehören.

Von den alltagssprachlichen Bedeutungen des Verbs „erscheinen“ hat die im Alltag verwendete Hauptbedeutung im Sinne von „herausgeben, veröffentlicht werden“ keinen direkten Bezug zu einem wahrnehmenden Menschen. Alle anderen Bedeutungen sind mit der Bedeutung von „Erscheinung“ kompatibel.

Erscheinung als spezifische Eigenschaften von Objekten, Beziehung zum Sein

Für Heidegger ist Erscheinung eine ontologische Kategorie. Sie ist das „Seiende als Gegenstand endlicher Erkenntnis“ (HWPh, Bd. 2, S. 725).

Nach Josef Quitterer versteht die Philosophie der Neuzeit „unter Erscheinung das der sinnlichen Erfahrung unmittelbar Gegebene“ (MLPh, S. 160).  

Für Enrico I. Rambaldi und Detlev Pätzold ist Erscheinung „in der Erfahrung wahrnehmbare (widerspruchs- und gegensatzvolle) Entfaltung“ des Seins (EPh, S. 2982bu).

Während für G. W. Leibniz die unausgedehnten und unteilbaren Monaden das Wesen der Dinge ausmachen, sind die ausgedehnten körperlichen unteilbaren Dinge als ihre Erscheinung zu betrachten (Enrico I. Rambaldi und Detlev Pätzold in EPh, S. 2984).

Im LTK wird ebenfalls der Terminus „Erscheinung“ auf das Objekt bezogen und mit dem eigentlich Seienden in Bezug gesetzt. Der Terminus „bezeichnet am Leitfaden eines optischen Modells eine Ambivalenz, die für die Erkenntnistheorie unauflöslich ist: das, was in der Sinnlichkeit gegeben ist, sich ‚zeigt‘, ist eine unsichere Darstellung des eigentlich Seienden, das nur begrifflich erfaßt werden kann“ (Klaus Hedwig im LTK. Bd. 3, S. 827 f.). Dabei schränkt Hedwig offensichtlich die Wahrnehmung auf das optische Wahrnehmen, also das Sehen ein.

Einige Philosophen halten die Erscheinung sogar als das einzig Erkennbare. So lehnt Husserl in seiner Phänomenologie jeden Bezug auf eine hinter den Erscheinungen stehende Wirklichkeit an sich ab. Die Erscheinungen oder Phänomene bilden für Husserl den eigentlichen Gegenstand jeder philosophischen Untersuchung. Mit der von Sartre geforderten Gleichsetzung von Sein und Erscheinen erhält die Erscheinung sogar jenen ontologischen Status, welcher zuvor der hinter der Erscheinung angenommenen Wirklichkeit an sich zukam (Josef Quitterer in MLPh, S. 160).

Erscheinung als mentale Kategorie

Nach I. Kant sind Erscheinungen „nichts als Vorstellungen“ (Kant, KrV A 250/B 306), was aber keineswegs besagt, dass sie „ein bloßer Schein wären“. „Denn in der Erscheinung werden jederzeit die Objekte … als etwas wirklich Gegebenes angesehen, nur daß, sofern diese Beschaffenheit nur von der Anschauungsart des Subjekts in der Relation des gegebenen Gegenstandes zu ihm abhängt, dieser Gegenstand als Erscheinung von ihm selber als Objekt an sich unterschieden wird“ (Kant, KrV B 69). Kant sieht also eine doppelte Bedeutung des Wortes Erscheinung inmS. und imS. fest.

Nach Wilhelm G. Jacobs meint Erscheinung zunächst dasjenige an einem wahrnehmbaren Gegenstand, das dem Bewusstsein erscheint; der Begriff der Erscheinung ist aber ebensowenig wie der des Dings an sich wahrgenommen, sondern gedacht. Beide Begriffe, Erscheinung und Ding an sich, bezeichnen keine differenzierbaren Wesen – wie man bisweilen gegen Kant anführt – keine zwei Welten – sondern zwei Aspekte an einem und demselben wahrgenommenen Gegenstand. Der Begriff Erscheinung bezieht den Gegenstand auf das Bewusstsein, dem er bewusst ist, der Begriff Ding an sich auf dasjenige, was das Bewusstsein nicht aus sich selbst erklären kann. (Wilhelm G. Jacobs, Stichwort. Das Ding an sich, EPh, S. 427)

Wesen und Erscheinung

Für Aristoteles ist die Analyse der Erscheinung als der Weg, auf dem man zum wesentlichen Kern der Dinge gelangen kann (EPh, S. 2983). Auch Hegel sieht einen engen Zusammenhang von Wesen und Erscheinung. „Das Wesen muss erscheinen“ (WL II, S. 124). Für ihn ist die Erscheinung die konkrete Daseinsform des Wesens. Auch er strebt eine begrifflich detaillierte Beschreibung der konkreten Erscheinung des Daseins als Entfaltungen des wahren Wesens der Wirklichkeit an (Enrico I. Rambaldi und Detlev Pätzold in EPh, S. 2986).

Zusammenfassung und Vorschläge zur Verwendung des Wortes

Im Ergebnis der Analysen halte ich es für sinnvoll, einen philosophischen Begriff „Erscheinung“ in folgender Weise zu erklären.

Die Erscheinung eines Objektes sind seine wahrnehmbaren Merkmale und Eigenschaften.

Neben diesem formalen Moment des Begriffs hat er noch weitere nichtformale Momente.

  • Man kann nur bei solchen Objekten von einer Erscheinung sprechen, die mindestens eine wahrnehmbare Eigenschaft haben. Zu den Objekten, die keine wahrnehmbaren Eigenschaften und damit auch keine Erscheinung besitzen gehören das Weltall, ein Atom, der Gedanke eines anderen Menschen im mentalen Sinne u. a.
  • Ein Objekt kann wahrnehmbare und nicht wahrnehmbare Eigenschaften besitzen. So kann man einem Mikrochip von außen nicht ansehen, welche Bauteile wie Transistoren, Kondensator- und Widerstandselemente in dem Chip auf engstem Raum integriert sind und welche Funktionen der Mikrochip ausführen kann. Eine wahrnehmbare Eigenschaft ist etwa die Größe des Chips.
  • Merkmale und Eigenschaften können auch wahrnehmbar sein, wenn das Objekt eine Funktion erfüllt. Von einem Handy, das nicht in Betrieb ist, kann man nur die äußere Gestalt wie Farbe und Form wahrnehmen. Beim Betrieb des Handys sind viele weitere seiner Merkmale und Eigenschaften wahrnehmbar.
  • Zur Wahrnehmung von Merkmalen und Eigenschaften können auch Experimente mit dem Objekt durchgeführt werden. So kann die chemische Zusammensetzung eines Stoffes durch Experimente ermittelt werden.
  • Die Erscheinung eines Objektes kann seine wesentlichen Merkmale beinhalten. So enthält die Erscheinung eines Lineals sein wesentliches Merkmal, zum Messen von Längen geeignet zu sein. Die Bestimmung der wesentlichen Merkmale und ihre Ausprägungen kann Ergebnis einer Analyse der Erscheinung des Objektes sein. So kann bei der Analyse der Erscheinung eines Gemäldes die Ausprägung seiner wesentlichen Merkmale wie der emotionale Gehalt, die Anregung zum Nachdenken, die Stilrichtung oder der künstlerische Wert bestimmt werden. Es ist aber nicht in jedem Fall möglich, durch die Analyse von Erscheinungen zu den wesentlichen Merkmalen und Eigenschaften eines Objektes zu gelangen. So lässt sich etwa das wesentliche Merkmal eines Handys, die Art und Funktionsweise seines Betriebssystems, nicht aufgrund wahrnehmbarer Eigenschaften beim Betrieb des Handys ermitteln. Man kann deshalb nicht generell davon sprechen, dass die Analyse der Erscheinungen der Weg ist, auf dem man zum Wesen des Objektes gelangt. Dies ist eine vereinfachende Darstellung des komplexen Erkenntnisvorgangs.
  • Es können auch Merkmalen und Eigenschaften von Objekten des entäußerten Mentalen wahrgenommen werden. Die Vorgänge der Wahrnehmung sind in diesen Fällen zum Beispiel das Hören eines Vortrages, Lesen eines Textes, Betrachten eines Bildes oder Hören eines Musikstücks. Die wahrgenommenen Merkmale und Eigenschaften von Objekten des entäußerten Mentalen werden aber in der Regel nicht als Erscheinung bezeichnet.
  • Ein Sonderfall ist die Wahrnehmung von Eigenschaften mentale Objekt. Auch diese Eigenschaften werden in der Regel nicht als Erscheinung bezeichnet. Eigenschaften mentaler Objekte können nur von dem Menschen wahrgenommen werden, zu dessen Mentalem die Objekte gehören. So kann ein Wissenschaftler seine bisherigen Überlegungen zu einem Problem analysieren, indem er die Merkmale und ihre Ausprägungen betrachtet, die der bisherigen Problemlösung zugrunde liegen. Eine Wahrnehmung der Eigenschaften mentaler Objekte eines anderen Menschen ist aber ohne ihre Entäußerung durch diesen Menschen nicht möglich. So lässt sich etwa die Ausprägung des Erregungszustandes eines Menschen nur durch Beobachtung seines Verhaltens und Aussehens (Errötung) wahrnehmen. Es ist allerdings Hirnforschern mit geeigneten Methoden möglich, Schlüsse aus ihren Messungen auf Gedanken und Gefühle die untersuchten Personen zu ziehen. Diese Schlüsse sind aber in der Regel vage und nicht immer sicher.

Ich halte es nicht für sinnvoll, die Wahrnehmungen als mentale Objekte auch als Erscheinung zu bezeichnen. Dafür gibt es die Bezeichnung der sinnlichen Wahrnehmung. Eine weitere, synonyme Bezeichnung ist nicht erforderlich.

Auch das Verb „erscheinen“ sollte nicht als philosophischer Terminus erklärt werden. Es hat im Alltagssprachlichen die dominierende Bedeutung des Herausgebens oder Veröffentlicht-werdens. Die anderen Bedeutungen, die sich auf das Wort „Erscheinung“ beziehen, können aber im umgangssprachlichen Sinne verwendet werden.

Literaturverzeichnis

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Kasper, Walter (Hg.) (1993-2001): Lexikon für Theologie und Kirche. 12 Bände. Freiburg: Herder.

Kunkel, Melanie (Hg.) (2023): Duden Deutsches Universalwörterbuch. 10., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Herausgegeben von der Dudenredaktion. Bibliographisches Institut. 10., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: Dudenverlag.

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Sandkühler, Hans Jörg; Borchers, Dagmar; Regenbogen, Arnim; Schürmann, Volker; Stekeler-Weithofer, Pirmin (Hg.) (2010): Enzyklopädie Philosophie. In drei Bänden mit einer CD-ROM. Hamburg: Meiner.

[1] DWDS: Häufigkeit pro 1 Mill. Token, 2016-2020; Lexika: Häufigkeit pro 100 Seiten