Hans-Dieter Sill, 09.01.2023

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Zitate und Gedanken zu Kettner (1990):  Hegels „sinnliche Gewissheit“. Diskursanalytischer Kommentar

Zur Zitierweise

Alle Texte mit linkem Einzug außer den Aufzählungen sind Zitate. Alle Seitenangaben bei den Zitaten ohne weiteren Quellennachweis beziehen sich auf Kettner (1990).

Phänomenologie steht für „Phänomenologie des Geistes“, Hegel (1970). Bei Zitaten aus der Phänomenologie wird das Kürzel PhG verwendet. Die rekursiven Kapitelüberschriften stehen für die entsprechenden Kapitel in der Phänomenologie.

Generelles zur Publikation

Theoretische Grundlagen der Arbeit sind:

  • „die explikativen und argumentativen Mittel, die vorwiegend in der sprachanalytischen Diskussion der angelsächsischen Philosophie erarbeitet worden sind,“
  • „die Programmatik der sprachphilosophisch aufgeklärten, transzendentalpragmatischen Philosophie von Apel“ als „philosophisch verbindlicher Orientierungsrahmen“ (S. 8).

Der Autor hat das Kapitel zur Phänomenologie des Geistes in 36 Textsegmente zerlegt, die er chronologisch kommentiert. Die Kommentare sind jeweils in Paragraphen untergliedert. Die Textsegmente bestehen aus Abschnitten, einzelnen Sätzen oder auch nur Überschriften.

Er verwendet entsprechend seiner theoretischen Annahmen das Konzept eines „diskursanalytischen Kommentars“. „Ziel ist die Darstellung eines Textes oder Textsegments als Teil eines argumentativ strukturierten Diskurses. Die ‚Verdeutlichung von Sinn‘ erfolgt also nicht gleichsam freischwebend, sondern an eine rekonstruktive Absicht gebunden. … Argumentationsstrukturen werden durch illokutionäre Verhandlungen erzeugt. Denn Argumentation hat ihren angestammten Ort in der diskursiven Rede, wo Behauptungen gemacht, Erläuterungen gegeben, Gründe geführt, Einwände erhoben, Bedeutungen expliziert, Aussagen bestritten, Thesen aufgestellt und zurückgenommen werden, usw.“ (S. 13-14).

Jedem Textsegment wird „eine illokutionäre Beschreibung zugeordnet, die hypothetisch kenntlich macht, was Hegel tut, indem er die betreffende Passage äußert bzw. schreibt“ (S. 15).

Bezüge zu anderen Interpretationen

Das Literaturverzeichnis enthält folgende Publikationen zur Phänomenologie bzw. Publikationen, die Aussagen zur Phänomenologie enthalten: (Andler 1931),  (Ulrici 1977), (Loewenberg 1935), (Becker 1971, 1969), (Bodammer 1969), (Bonsiepen 1979), (Cramer 1989 [1. Aufl. 1978]), (Dudeck 1981), (Düsing 1973), (Feuerbach 1982), (Liebrucks 1970), (Nink 1931), (Norman 1976), (Nys 1978), (Purpus 1905), (Scheier 1986 [1. Aufl. 1980]), (Simon 1966), (Tugendhat 2005), (Ulrici 1977), (Taylor 2012 [1. Ausg. 1975], 1975), (Wiehl 1984 [1. Aufl. 1966]), (Wieland 1998 [1. Aufl 1973]).

Im Unterschied zu vielen anderen Hegelkommentaren setzt sich Kettner an zahlreichen Stellen kritisch mit den Auffassungen anderer Autoren auseinander. So diskutiert er Auffassungen der deutschen Philosophen Ernst Tugendhat (S. 23), Wolfgang Wieland (S. 53, 98, 106, ), Hermann Ulrici (S. 55), Klaus Düsing (S. 55, 257), Bruno Liebrucks (S. 71, 113, 198), Theodor Bodammer (S. 72, 184, 257), Wilhelm Purpus (S. 78, 86, 204), Werner Becker (S. 79-83, 185), Josef Simon (S. 105), Ludwig Feuerbach (S. 133-135),  der englischen Philosophen Jacob Loewenberg (S. 57, 71, 86, 102, 184-185, 193), Richard Norman (S. 106-107), des französischen Germanisten und Philosophen Charles Andler (S. 70/71), des kanadischen Philosophen Charles Taylor (S. 107), der US-amerikanischen Philosophen Martin J. de Nys (S. 168) und Caroline V. Dudeck (S. 174, 190).

Rezeption der Arbeit

In den 16 auf die Arbeit von Kettner folgenden, in meiner Analyse ausgewerteten Publikationen zur Interpretation der Sinnlichen Gewissheit wird nur in vier auf seine Arbeit verwiesen. Nach Google-Scholar wird die Arbeit in 12 Quellen zitiert, darunter das Hegel-Handbuch von Jeschke, wo die Arbeit nur als Quelle angegeben wird.

Zitate und Gedanken

Als Grundlage für seine Textanalysen stellt der Autor als erstes die von ihm identifizierte „formale Argumentationsstruktur“ des Textes vor. Dazu gibt er 14 Zitate aus der Sinnlichen Gewissheit an, die er als Thesen bzw. Antithesen bezeichnet (S. 16-18) und deren Zusammenhang er untersucht (S. 19-25). Bei seinen Betrachtungen zu den Zusammenhängen der 14 Zitate geht er bereits auf spezielle inhaltliche Fragen ein, die an dieser Stelle ohne eine tiefere Analyse, die er dann erst in späteren Teilen vornimmt, auch aufgrund pauschalierender Aussagen kaum verständlich sind.

Er kommt dann u. a. zu folgendem Ergebnis:

Invariant an der Grundstruktur [der sinnlichen Gewissheit], die modifiziert wird, ist ein zweistelliges Verhältnis, dessen Relata Hegel meist mit ‚Ich‘ und ‚Gegenstand‘ bezeichnet. Daher eignen sich diese Ausdrücke auch als operative Begriffe, um die zweistellige Relation als solche zu beschreiben. … Das zweistellige Verhältnis wodurch Hegel das Phänomen der sinnlichen Gewissheit strukturell charakterisiert, ist ein intensionales epistemisches Gegenstandsverhältnis von einer gewissen Art; Hegel bestimmt es im Untertitel der Abhandlung genauer als ein Meinen. (S. 22)

Zur Erläuterung dieses Grundverhältnisses zitiert Kettner aus der Einleitung der Phänomenologie. In dem Text erinnert Hegel „an die abstrakten Bestimmungen des Wissens und der Wahrheit …, wie sie an dem Bewußtsein vorkommen. Dieses unterscheidet nämlich etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht; oder wie dies ausgedrückt wird: es ist etwas für dasselbe; und die bestimmte Seite dieses Beziehens oder des Seins von etwas für ein Bewußtsein ist das Wissen (PhG, S. 76).

Er setzt sich dann sehr kritisch mit Ernst Tugendhat (2005) auseinander, der Hegels strukturelle Beschreibung des Bewusstseins einer scharfen Kritik unterzieht, die aus Sicht Kettners allerdings dubios und unterbestimmt ist.

Gedanken:

  • Bereits an dieser Stelle werden die Probleme deutlich, die mit den Termini „Wissen“ und „Bewusstsein“ bei Hegel verbunden sind und die sich durch die ganze Publikation von Kettner ziehen. Der tiefere Grund ist darin zu suchen, dass der Autor nicht zwischen Wissen in mentalem Sinne, dass ich als Kenntnisse bezeichne, und Wissen im entäußerten Sinne unterscheidet. Für ihn ist Wissen etwas begrifflich und sprachlich Fixierbares, also Wissen im entäußerten Sinne. In dem Zitat aus der Einleitung wird aber ersichtlich, dass Hegel den Begriff „Wissen“ auch für einen Bestandteil des Bewusstseins, also des Mentalen, verwendet. Das ist die eigentliche Aussage seiner Ausführungen zum Problem des Maßstabes.

Ein weiteres Ergebnis seiner an dieser Stelle kaum nachvollziehbaren Überlegungen zum Aufbau des Kapitels ist das Postulat einer Diskurssituation.

Wenn man diejenigen Aussagen abtrennt, die Hegels eigene Wahrheitsintentionen … verkörpern; und wenn man Hegels Engagement hinnimmt, die Dialogrolle seines Opponenten mit der sinnlichen Gewissheit selber zu besetzen, anstatt namentlich bestimmte Autoren, gegen die er anschreibt, zu nennen oder Herkunft und Geltungsanspruch bestimmter Aussagen auf sonstige Art genauer zu umreißen; dann lassen sich Äußerungen unterscheiden, wo einerseits „die“ sinnliche Gewissheit über „sich“ etwas aussagt, und Äußerungen, wo Hegel über sinnliche Gewissheit etwas aussagt (S. 25-26).

Gedanken:

  • Der Autor konstruiert mit dem Ziel der Anwendung des Modells des Diskurses eine Situation, die dem Anliegen von Hegel nicht gerecht wird. Die sinnliche Gewissheit kann nicht als ein Partner eines Diskurses aufgefasst werden. Sie ist kein eigenständiges Subjekt. Bestenfalls kann man davon sprechen, die sinnliche Gewissheit zu befragen in dem Sinne, dass man sich selber Fragen stellt. Die sinnliche Gewissheit ist bei Hegel die Urform oder die erste Phase einer sich herausbildenden Erkenntnis als Bestandteil des kognitiven Systems des erkennenden Subjektes.
  • Hegel nennt in der ganzen Phänomenologie keine namentlich bestimmten Autoren. Es gibt aber „praktisch keine Zeile ohne direkte oder indirekte Anspielung auf Dichter, Denker und historische Figuren der gesamten Geistesgeschichte“ (Siep 2000, S. 10). Dies bedeutet, dass man das Werk nur tiefgründig verstehen kann, wenn man diese Dichter, Denker und historischen Figuren sowie ihre Ansichten kennt.

Er gibt dann vier, von ihm sogenannte Gedankenexperimente aus dem Text von Hegel an (S. 28-29).

Gedanken:

  • Die Formulierungen von Hegel, mit denen er metaphorisch die Probleme einer rein empirischen Herangehensweise verdeutlichen will, kann man nicht als Gedankenexperimente im Sinne der analytischen Philosophie bezeichnen.

Das erste Textsegment sind die Überschriften A: Bewußtsein I. Die sinnliche Gewißheit oder das Diese und das Meinen.  In 9 Paragraphen auf 20 Seiten äußert sich Kettner zur Komplexität des Gegenstandes, zur sinnlichen Gewissheit als ein Phänomen des Geistes, zur sinnlichen Gewissheit und Wahrnehmung, zur sinnlichen Gewissheit als ein Phänomen des sinnlichen Bewusstseins, zur sinnlichen Gewissheit und Anschauung, zum Bedeutungsspektrum von „Meinen“ und zu der Formulierung „Das Diese“ (S. 31-50). Kettner kommt dabei u. a. zu folgenden Ergebnissen (S. 41):

Die sinnliche Gewissheit

  • hat einen Inhalt,
  • ist Bestandteil des Bewusstseins eines Subjektes,
  • verfügt über nur minimal zusammenhangstiftende Kategorien,
  • ist mit einem inkorrigiblen Wissen verknüpft,
  • setzt Informationskontakt durch Sinne voraus,
  • erstreckt sich nur auf zeitliche und örtliche Gegebenheiten.

Gedanken:

  • Es ist zunächst erstaunlich und kaum nachvollziehbar, dass aus zwei Überschriften ein zwanzigseitiger Kommentar abgeleitet werden kann.
  • Die Aussagen zur sinnlichen Gewissheit sind teilweise trivial (1, 2, 5) teilweise nicht zutreffend oder missverständlich. Die sinnliche Gewissheit als System von gedanklichen Vorstellungen kann nicht über Kategorien verfügen. Man kann noch nicht sagen, dass sie mit einem Wissen (i.e.S.) verknüpft ist und sie ist auch nicht unkorrigierbar. Hegel behandelt zwar nur zeitliche und örtliche Gegebenheiten, aber das Feld der ersten Phase eines jeden Erkenntnisprozesses ist viel weitreichender.

Das zweite Textsegment ist der erste Abschnitt der Sinnlichen Gewissheit. Unter dem Paragrafen „Die phänomenologische Konstellation“ schreibt Kettner:

Im Textsegment 2 stellt Hegel bestimmte Perspektiven in der Konstellation von Autor, Leser und Abhandlungsgegenstand ein, deren Eigentümlichkeit nicht allein durch stilistische Konventionen zu erklären ist. „Unser Gegenstand“ – damit zieht Hegel sich als die Person, die Autor des Textes ist und über den Abhandlungsgegenstand bestimmte Auffassungen hat, gleichsam zurück und fingiert für den Leser eine Interpretationsgemeinschaft, in die dieser sich nicht anders als der Autor einreihen soll. … Was abgehandelt wird, unser Gegenstand, ist von einer eigentümlichen Verfassung: ein Wissen. Wie kann ein Wissen Gegenstand sein? Gegenstand der Untersuchung sind zunächst nicht etwa bestimmte einzelne Aussagen, die ein Wissen repräsentieren und deren Wahrheit geprüft werden soll, sondern eine allgemeine Weise, etwas zu wissen; eine Wissensform. Wenn etwas wissen heißt, etwas von etwas zu wissen, dann impliziert der Fall, dass S von x etwas weiß, dass S eine gedankliche Perspektive einnimmt, in der S sich selbst und x einordnen kann. Was unser Gegenstand ist in der Perspektive, in der ihn die Abhandlung stellt, ist also seinerseits etwas, das für uns die Möglichkeit einer Perspektive auf etwas darstellt, weil es ein Wissen ist. Dies ist die Perspektive, die für unseren Gegenstand die ihm immanente ist. Stilistisch wird sie immer dadurch angezeigt, dass Hegel „die“ sinnliche Gewissheit zum Akteur stilisiert. Die Perspektivenspaltung, die Hegel hier einführt zwischen uns und der Wissensform alias Bewusstseinsgestalt, die thematisiert wird, kann als Ausdruck von Hegels Bewusstsein der Probleme einer wissenschaftlichen – epistemologischen – Untersuchung verstanden werden. Nennen wir unsere Perspektive „Wir-Perspektive“ und die Binnenperspektive des thematisierten Wissens „Wissensperspektive“. (S. 51-52).

Gedanken:

  • Die Formulierungen „wir“ oder „uns“ in Publikationen sind im übertragenen Sinne zu verstehen und konstituieren keine Interpretationsgemeinschaft. Man kann die Verwendung des Wortes „wir“ im Sinne von „man“ auch so interpretieren, dass es um das Verhalten eines „Ich“ geht.
  • Die angebliche Stilisierung der sinnlichen Gewissheit als Akteur lässt sich viel eher metaphorisch verstehen. Von der Sache her geht es um einen Menschen, der auf der Grundlage seiner aktuellen, nur auf sinnliche Wahrnehmung bezogenen Kenntnisse gedankliche oder sprachliche Tätigkeiten ausführt.
  • Es gibt durchaus einen Perspektivenwechsel in Hegels Text. Er beschreibt zum einen die genannten Tätigkeiten eines Menschen, die er metaphorisch als Aktivität einer „sinnlichen Gewissheit“ darstellt, und zum anderen seine Reflexionen über diese Tätigkeiten. Dies ist aber das normale methodologische Vorgehen bei erkenntnistheoretischen Untersuchungen, worauf auch Kettner hinweist. Es erscheint mir aber abwegig zu sein, diesen Perspektivenwechsel als Diskurs zweier Partner zu verstehen.
  • Kettner konstruiert hier mit dem Ziel der Anwendung seiner diskursanalytischen Methoden eine fiktive Diskurssituation, die dem Anliegen von Hegel und der Sache nicht gerecht wird.
  • Es zeigen sich deutlich die Probleme, die mit dem Begriff von Wissen in der analytischen Philosophie verbunden sind. Wissen wird in dieser Bedeutung durch Aussagen repräsentiert, die ein Wahrheitswert haben. Die Erklärung der Formulierung „etwas wissen“ ist zudem ein Zirkelschluss. Bei der sinnlichen Gewissheit geht es um Wissen im mentalen Sinne, also um kognitive Strukturen eines Objektes.
  • Kettner beruft sich bei seiner Herangehensweise auf Wieland (1998 [1. Aufl 1973]), der auch von zwei Partnern spricht. Wieland erkennt aber auch, dass es bei Hegel um einen Dialog mit sich selbst geht. „So steht das Bewusstsein, dass die Theorie macht, dem Bewusstsein, über das es die Theorie macht, nicht mehr unvermittelt gegenüber“ (Wieland 1998 [1. Aufl 1973], S. 78).

Auf einen Hinweis von Düsing (1973, S. 120) zu den philosophiegeschichtlichen Hintergründen der sinnlichen Gewissheit schreibt Kettner: „Obwohl Düsing dies nicht ausspricht, geht die Tendenz der philosophiegeschichtlichen Einordnung dahin, in sinnlicher Gewissheit nur mehr einen bloß innertheoretischen Gegenstand zu sehen, ein Figment, ein Erzeugnis gleichsam des philosophischen Diskurses über etwa dieses Namens“ (S. 55).

Gedanken:

  • Man kann die Notwendigkeit der philosophiegeschichtlichen Einordnung nicht damit abtun, dass aus dieser Sicht die sinnliche Gewissheit eine reine Fiktion wäre, das Wort „Figment“ ist übrigens im deutschen unüblich, im englischen bedeutet es „Einbildung“.
  • Für Kettner ist die sinnliche Gewissheit ein selbstständiger theoretischer Gegenstand und nicht eine flüchtige mentale Zustandsform.

Bei der Diskussion der Frage, warum Hegel die Phänomenologie mit dem Phänomen der sinnlichen Gewissheit beginnt, zitiert er Loewenberg (1935) und schließt sich wie folgt seiner Auffassung an: „Völlig zu Recht verweist Loewenberg Auffassungen, die in sinnlicher Gewissheit eine ontogenetisch früher – und deshalb angeblich auch in der Phänomenologie anfängliche – Entwicklungsstufe des Bewusstseins sehen wollen, ins Reich der Phantasie. … Loewenberg akzentuiert die Mühelosigkeit, Nichtinferentialität und Rezeptivität einer Wissensform, die wir durch gedankenexperimentelle Einklammerung unserer habitualisierte Reflexionsakte auftauchen lassen können“ (S. 57).

Gedanken:

  • Damit widerspricht der Autor dem Grundgedanken der Phänomenologie, dass die sinnliche Gewissheit eine Bewusstseinsgestalt ist. Aus seinen verschwommenen Erläuterungen ist zu entnehmen, dass sinnliche Gewissheit kein Ergebnis von sinnlichen Wahrnehmungen ist, sondern durch Gedankenexperimente auf der Grundlage vorhandener Kenntnisse vom Menschen alleine durch mentale Operation erzeugt werden kann.
  • Auf Grund dieser Herangehensweise ist der Autor nicht in der Lage, das wesentliche Anliegen Hegels in dem Kapitel zu erkennen.

Im dritten Textsegment geht es um die Charakterisierung der sinnlichen Gewissheit unter den Aspekten der Reichhaltigkeit und Wahrhaftigkeit. Hegel beschreibt die Reichhaltigkeit durch ein unbegrenztes Hinausgehen aus dem räumlich-zeitlichen Geschehen als auch ein unbegrenztes Hineingehen durch fortwährende Teilung des Geschehens in räumlicher und zeitlicher Hinsicht. Diesen Gedanken der makro- und mikrophysikalischen Unendlichkeit deutet Kettner seltsamerweise so, dass damit von der zeitlichen räumlichen Kontinuität abstrahiert werden soll. „Solange man bei Sinnen ist, ist man (zeitlich und räumlich) von solchem umgeben, dass sich in direktem indexikalischen Bezug als einfaches einzelnes meinen lässt. … Das „Hinausgehen“ und „Hineingehen“ – in das Kontinuum der Eindrücke einer räumlichen Erstreckung und das Kontinuum der Eindrücke eines andauernden Ereignisses – sollte man nicht zu wörtlich nehmen, sonst treten Absurditäten auf“ (S. 59).

Das vierte Textsegment bei Kettner lautet: „Diese Gewißheit aber gibt in der Tat sich selbst für die abstrakteste und ärmste Wahrheit aus. Sie sagt von dem, was sie weiß, nur dies aus: es ist; und ihre Wahrheit enthält allein das Sein der Sache; das Bewußtsein seinerseits ist in dieser Gewißheit nur als reines Ich; oder Ich bin darin nur als reiner Dieser und der Gegenstand ebenso nur als reines Dieses.“ (PhG, S. 82). Diesen kurzen Text diskutiert der Autor in acht Paragrafen über zwölf Seiten (S. 60-72).  

Unter den Aussagen, die Hegel im weiteren Verlauf der Abhandlung der sinnlichen Gewissheit in den Mund legt – „Das Jetzt ist Tag“, „Das Hier ist ein Baum“, „Das Hier ist ein Haus“, „Das Jetzt ist Nacht“ u.a.m. – ist keine einzige, in der von etwas nur ausgesagt würde, dass es ist. Vielmehr wird (wenn man die verschrobenen Normalisierungen normalisiert) von der für einen Sprecher/Denker S gerade gegenwärtigen Zeit θ, und von dem für einen Sprecher/Denker gerade gegenwärtigen Ort μ ausgesagt, dass Nacht ist, bzw. dass μ ein Haus ist etc (S. 61).

Dieser Einwand lässt sich noch steigern: Angenommen, es gäbe wirklich Fälle, wo einer von etwas, x, angeblich nur so viel weiß, dass er aussagen kann: „x ist“. Solche proto-Aussagen sind aber unvollständig, denn ‚… ist‘ ist kein Prädikat. Also besteht in solchen Fällen überhaupt kein Wissen (wenn Wissen ist, was einer mit solchen Ausdrücken auszudrücken meint). Äußerte einer uns gegenüber ernstlich so etwas wie „Der Baum ist“ oder „Dies [auf einen Baum zeigend] ist“, oder „Etwas ist“, so wären wir letztlich gezwungen anzunehmen, wenn er bei derlei Äußerungen bleibt, dass die betreffende Person unsere Sprache nicht richtig beherrscht oder dass mit ihrer Weltbeziehung etwas nicht in Ordnung ist (S. 61).

Noch ein weiterer Einwand ist zu berücksichtigen. Er lautet: Hegel charakterisiert sinnliche Gewissheit anhand von für sie typischen Aussagen oder jedenfalls Äußerungen. Aber (so der Einwand): Warum und wem gegenüber sagt überhaupt die sinnliche Gewissheit (bzw. ein in sinnlicher Gewissheit begriffene Subjekt) etwas aus? Die Bindung von Hegels Charakterisierungs- und Beurteilungsperspektive an Ausdrucksgestalten von sinnlicher Gewissheit ist eine willkürliche und das Phänomen selbst verzerrende Voraussetzung. (So der Einwand.) Denn sinnliche Gewissheit (so die Voraussetzung, die dieser Einwand seinerseits beansprucht) ist ein wesentlich vorsprachliches Phänomen, das auf der Ebene von Aussagen (und überhaupt von Ausdrucksgestalten) nur gebrochen und verzerrt analysiert werden kann (S. 62).

F‘ ∃ θ (θ = jetzt); ∃ μ (μ = hier)

Mit F‘ ist ein vorläufiges Darstellungsformat für das Wissen in sinnlicher Gewissheit gefunden, das zugleich Hegels Charakterisierung C deutet. Denn C („sie sagt von dem, was sie weiß nur dies aus: es ist“) besagt nun: In Aussagen, die das Wissen sinnlicher Gewissheit ausdrücken sollen, wird nur der Gedanke, dass jetzt die einzelne Zeit und hier der einzelne Ort präsent ist, als wahr behauptet (S. 67). 

Gedanken:

  • Obwohl Kettner den Existenzoperator verwendet, kommt er nicht auf die Idee, die Formulierungen von Hegel „… es ist; … das Sein der Sache.“ mit „es existiert“ bzw. „die Existenz der Sache“ zu übersetzen. Damit wären dann alle seine umständlichen Überlegungen gegenstandslos.

In seinem Kommentar zum Textsegment 6 widerlegt er einen von Purpus (1905) angegebenen Widerspruch, nach dem „die Behauptung, das S x meint … und die Behauptung, dass S und x je selbst genügsame, für sich bestehende einzelne sind,“ sich widersprechen. Dies läuft nach seinen Worten auf einen heillos absurden Atomismus hinaus (S. 78-79).

Er diskutiert dann ausführlich Auffassungen von Werner Becker (1969, 1971), der das Kapitel zu sinnlichen Gewissheit einer „drastischen Kritik unterzogen“ hat. Die Kritik von Becker richtet sich hauptsächlich gegen den Sinn des Terminus „Sein der Sache“. Dies sei eine bloße Konstruktion, sachlich ohne Gehalt und chimärisch. Kettner führt dazu an, dass er in seiner Analyse nachgewiesen hat, „das Hegels Rede vom ‚Sein der Sache‘ durchaus sachlich gerechtfertigt werden kann, wenn die von Hegel in ‚Sein‘ hier konnotierte Bedeutung nicht übersehen wird, dass etwas als ein möglicher Gegenstand sinnlicher Gewissheit ein einfaches, selbstgenügsames Einzelnes ist oder sein soll“ (S. 79-80). In seiner Argumentation verwendet Kettner immer seine diskursanalytische Methode.

Nicht, dass in Ss Aussage “Das hier ist das Haus“ gemeinte Haus ist der unbestimmte Gegenstand, sondern der Gehalt von Ss Aussage, für den Wahrheitsgeltung beansprucht werden kann, ist (in einer näher zu qualifizierenden Weise) unbestimmt, und zwar aufgrund des Vorkommens indexikalischer Ausdrücke in Ss Bezugnahme. Der Aussagegehalt ist nämlich insofern unbestimmt, als er aus der Perspektive zeitlich oder situativ entfernter Diskursteilnehmer, die Ss Aussage nachvollziehen oder beurteilen wollen, nicht auf dieselbe Weise geistig erfasst werden kann, wie S selber ihn geistig erfasst (S. 83).

Wir unterstellen darüber hinaus, dass dann, wenn einer einen wahren Gedanken hat, eine intersubjektiv verbindliche Ausdrucksgestalt dieses Gedankens möglich sein muss derart, dass für x-beliebige Diskursteilnehmer kraft des Nachvollzug derselben im Prinzip das Haben desselben Gedankens möglich ist (S. 83).

Gedanken:

  • Kettner konstruiert im Rahmen seines Modells eine fiktive Person S, die Aussagen trifft, die Hegel in seinem Text metaphorisch für die von ihm sogenannte sinnliche Gewissheit formuliert hat, wobei diese Interpretation mit dem Problem konfrontiert ist, dass die als wörtliche Aussagen von Hegel apostrophierten Formulierungen keine Aussagen im logischen Sinne sind.
  • Auch dieses konstruierte Problem kann bei einer geeigneten Interpretation umgangen werden. Hegel versucht, den grundsätzlichen Charakter der mentalen Inhalte, die er als sinnliche Gewissheit bezeichnet, auszudrücken, der aus seiner Sicht darin besteht, nur die zeitliche, räumliche oder personelle Existenz von Sachen und Personen zu beinhalten.
  • Hegel betrachtet gar nicht den Fall, dass sich eine solche Person, die diese Gedankenvorstellungen hat, gegenüber anderen Personen äußert. Ihm dürfte klar sein, dass dazu andere sprachliche Äußerungen erforderlich sind. In Bezug auf die Anwendung der Überlegungen von Hegel auf existierende Auffassungen von Menschen ist dieser Fall allerdings von Bedeutung. Von Kettner wird dies als Darstellung der Binnenperspektive durch die betreffende Person bezeichnet.

In den Kommentaren zum nächsten Textsegment beschäftigt sich Kettner ausführlich mit Hegels Aussagen zur Unmittelbarkeit und zur Vermittlung. Er sieht eine Inkonsistenz in Hegels Text, da Hegel einmal davon spricht, dass Gegenstand und das Selbst unmittelbar in der sinnlichen Gewissheit sind als auch zugleich vermittelt (PhG, S. 83). Eine Erklärung sieht er in der Anwendung der beiden von ihm postulierten Perspektiven (S. 98, 90).

Gedanken:

  • Hegel erläutert im folgenden Text auf Seite 83 selbst den angeblichen Widerspruch zwischen Unmittelbarkeit und Vermittlung, indem er sagt, dass dieser Unterschied nicht so aufzunehmen ist wie er in gerade dargestellt hat. Die Unmittelbarkeit ist für ihn das Wesen und die Vermittlung das Unwesentliche. Dies entspricht seiner Auffassung, die er in der WdL dargelegt hat und die auch von Kettner zitiert wird: „Hier mag durchaus nur dies angeführt werden, dass es Nichts gibt, nichts im Himmel oder in der Natur oder im Geiste oder wo es sei, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält als die Vermittlung, sodass sich diese beiden Bestimmungen als ungetrennt und untrennbar und jener Gegensatz sich als ein Nichtiges zeigt“ (WdL I, S. 66).
  • An dem Beispiel diese Diskussion zeigt sich erneut, dass die Texte von Hegel und ähnliche Texte, die Entäußerungen spekulativen Denkens sind, nicht ausschließlich mit den formalen Methoden der Sprachphilosophie analysiert werden können. Man kann nicht einen isolierten Teil eines Textes für sich kommentieren, sondern muss ihn immer im Zusammenhang mit weiteren Ausführungen zu dem Problem sehen.
  • Mit der Frage der Unmittelbarkeit ist das Problem der Letztbegründungen verbunden, ein wesentlicher Bezugspunkt der Transzendentalpragmatik von Karl-Otto Apel, die offensichtlich auch vom Autor vertreten wird.
  • Deutlich wird auch erneut ein Hauptanliegen von Kettner, jede einzelne Formulierung von Hegel in zahlreichen Beziehungen zu deuten. Die Betrachtungen bleiben aber im Rahmen einer möglichen Rekonstruktion Hegelschen Denkens. Weitergehende Schlussfolgerungen und mögliche Anwendungen werden nicht betrachtet.

Zu Hegelschen Formulierung „Das Jetzt ist die Nacht“ stellt der Autor nach einer längeren Diskussion zusammenfassend fest:

Ein Beispiel für eine erfahrbare, unmittelbar einzelne Jetzt-Zeit muss, wenn es sprachlich artikuliert werden soll, über eine tautologische Aussage hinausgehen. Aufgrund der ontologischen Restriktionen, die durch die starke Unmittelbarkeitsthese gesetzt sind, dürfen aber zu Darstellung der Binnenperspektive des in sinnlicher Gewissheit begriffenen Subjekts und zur Spezifikation des Inhalts von dessen sinnlicher Gewissheit keine Artikulationsformen eingesetzt werden, die das Haben von Eigenschaften, relationalen wie monadischen, ausdrücken. Diese Problemlage motiviert die gleichsam marginalen Äußerungen wie: „Das Jetzt ist die Nacht“, in denen sich das Wissen der sinnlichen Gewissheit beispielhaft artikulieren soll. … Anzumerken ist noch, dass häufig diskutierte Fragen, ob Hegel hier das Wort ‚jetzt‘, eine adverbiale Zeitbestimmung, unzulässig substantiviere, mit grammatischen Gründen nicht zu entscheiden ist. Zeiten sind logische Einzeldinge. Hegels Ausdruck „Das Jetzt“ darf mit „diejenige Zeit, die jetzt ist“ oder mit „die Jetzt-Zeit“ paraphrasiert werden. Und wenn diese Analoga von bestimmten Beschreibungen eine Zeit nicht unzulässig sind, dann ist auch Hegels abkürzen Rede von „dem“ Jetzt nicht unzulässig (S. 112-113).

Kettner äußert sich an vielen Stellen zur Rolle der Sprache Hegel. Er stellt unter anderem fest: „Mit einem terminologischen Anachronismus, von der Sache her aber nicht unrichtig, ist daher zu sagen, Hegel berücksichtige explizit nur Syntax und Semantik; die Sprachpragmatik fließt dagegen nur kryptisch in Hegels Reflexionen über die Sprache ein“ (S. 137). Er bezeichnet dies deshalb als Kryptopragmatik.

In dem Textsegment 21 bei Kettner geht es um folgenden Text von Hegel: „… ich meine wohl einen einzelnen Ich, aber sowenig ich das, was ich bei Jetzt, Hier meine, sagen kann, sowenig bei Ich. Indem ich sage: dieses Hier, Jetzt oder ein Einzelnes, sage ich: alle Diese, alle Hier, Jetzt, Einzelne; ebenso, indem ich sage: Ich, dieser einzelne Ich sage ich überhaupt: alle Ich; jeder ist das, was ich sage: Ich, dieser einzelne Ich. (PhG, S. 87)“ Er stellt dazu fest:

Es macht erhebliche Schwierigkeiten, Hegels idiosynkratische Verwendung des Ausdrucks ‚etwas sagen‘ zu klären. … In eine paradoxe Lage geraten Hegels Ausführungen nun dadurch, dass dann, wenn sie wahr wären, eine basale Fähigkeit wie die sprachliche Bezugnahme auf indexikalisch gegebenen Weltbestände, die Hegel nicht einmal bestreitet, ganz unerklärlich würde. … Ich „meine wohl einen einzelnen Ich“ – also einen ganz bestimmten Einzelnen, nämlich keinen anderen als mich selbst – wenn ich (referentiell) „ich“ sage, oder demonstrativ an mich selbst denke. Wenn aber die Sprache nur dasjenige allgemeine ausdrücken würde – wie Hegel anzunehmen scheint –, dass sich als Resultat der Erfahrungsanalyse ergeben hat, …, So wäre völlig unerklärlich, wie Hörer und Sprecher, wenn ein jeder „ich“ sagt, korrekt und zuverlässig erfassen können, von wem die Rede ist. … Und wenn es wahr wäre, dass ich, indem ich „ich“ sagen, so viel sagte wie „alle ich“ – kraft welcher Tatsache verstünde dann ein Hörer, der nur das Besagte erfassen würde, das, was ich meine…

Gedanken:

  • Die Kommentare von Kettner zeigen sein Bemühen, jede Formulierung von Hegel wörtlich zu nehmen und formalsprachlich zu analysieren. Die vom Autor selbst so bezeichnete idiosynkratische Ausdrucksweise von Hegel lässt sich aber auf diese Weise in ihrem Wesen nicht erfassen. Man muss versuchen, das von Hegel Gemeinte zu bestimmen. In diesem Fall ist dies aus meiner Sicht recht einfach zu erkennen, sodass die von Kettner genannten Paradoxien gegenstandslos sind.
  • Hegel will aus meiner Sicht auf seine Art zum Ausdruck bringen, dass, wenn man allgemein von einem Ort, einer Zeit oder einer Person spricht, jeder Ort, jede Zeit oder jede Person gemeint sein kann.
  • Dies entspricht der Unterscheidung von ortsbezogenen, zeitbezogenen und personenbezogenen indexikalischen Ausdrücken in der Pragmatik, die als Ortsdeixis, Zeitdeixis und Personendeixis bezeichnet werden.

Im letzten Kapitel versucht der Autor eine Rekonstruktion von Hegels Theorie der indexikalischen Gegenstandsbeziehungen vorzunehmen, die er bereits an zahlreichen Stellen der Arbeit diskutiert hat. Aus den Texten von Hegel leitet er u. a. ab, dass Hegel Folgendes behauptet:

  • dass wir nicht so sprechen, wie wir es in sinnlicher Gewissheit meinen,
  • dass es unmöglich ist, ein sinnlich präsentes Einzelding erschöpfend zu beschreiben.

Die Behauptung (1) bezieht Kettner auf folgende Formulierungen Hegels: „Als ein Allgemeines sprechen wir auch das Sinnliche aus; was wir sagen, ist: Dieses, d. h. das allgemeine Diese, oder: es ist; d. h. das Sein überhaupt. Wir stellen uns dabei freilich nicht das allgemeine Diese oder das Sein überhaupt vor, aber wir sprechen das Allgemeine aus; oder wir sprechen schlechthin nicht, wie wir es in dieser sinnlichen Gewißheit meinen“ (PhG, S. 85). „Sie sprechen von dem Dasein äußerer Gegenstände, welche, noch genauer, als wirkliche, absolut einzelne, ganz persönliche, individuelle Dinge, deren jedes seines absolut gleichen nicht mehr hat, bestimmt werden können; dies Dasein habe absolute Gewißheit und Wahrheit. Sie meinen dieses Stück Papier, worauf ich dies schreibe oder vielmehr geschrieben habe; aber was sie meinen, sagen sie nicht“ (PhG, S. 91).

Kettner hält die Behauptung (1) für falsch und begründet dies unter anderem in folgende Weise:

Es trifft nicht zu, dass wir schlechthin nicht sprechen, wie wir es in sinnlicher Gewissheit meinen. Die wörtliche Zeichen Bedeutung allein reicht zwar nicht hin, eindeutig einen einzigen Gegenstand zu bestimmen, … Denn die konventionell allgemeine Wortbedeutung von ‚dies‘ ist nur: In einen gegenwärtigen Erfahrungszusammenhang als Einzelnes Einbezogenes. Aber wenn wir einen indexikalischen Ausdruck verwenden, sprechen wir genau so, wie wir es in sinnlicher Gewissheit meinen: die Zeichenbedeutung (Wortbedeutung) ist dann nur ein Teil der Äußerungsbedeutung im Kontext; und die Äußerungsbedeutung im Kontext kann einen Hörer genau denselben demonstrativen Gedanken erfassen lassen, in dem auch der Sprecher selbst sich versteht. Es wäre pragmatisch widersprüchlich, anzunehmen, prinzipiell könne keiner sicher sein, je denselben demonstrativen Gedanken „Dies … ist …“ als Hörer zu erfassen, den ein Sprecher ihm gegenüber (unter normalen pragmatischen Bedingungen) äußert (S. 261).

Gedanken:

  • Kettner bezieht seine Argumentation nur auf deiktische Ausdrücke und pragmatische Situation. Für diesen speziellen Fall des Gemeinten und seine Ausdrucksweise hat er durchaus recht. Wenn es um ein Objekt geht, auf das sich ein Sprecher bezieht, lässt sich dies in einer entsprechenden Situation eindeutig zum Ausdruck bringen.
  • Wenn Hegel auch seine Beispiele immer mit deiktischen Ausdrücken verbindet, ist das, was er meint viel umfassender. Er bezieht sich allgemein auf äußere Gegenstände, die absolut einzelne, persönliche oder individuelle Eigenschaften haben. Diese Gesamtheit der Eigenschaften und Beziehungen eines Gegenstandes ist im Bewusstsein eines Menschen in einer komplizierten semantischen Struktur reflektiert. Jede sprachliche Äußerung zu dem Gegenstand kann immer nur einzelne Momente erfassen. Hinzu kommt, dass es oft nicht möglich ist bestimmte mentale Zustände wie etwa ästhetische Empfindungen angemessen sprachlich zum Ausdruck zu bringen.
  • Es zeigt sich erneut, dass Betrachtung alleine aus Sicht der Pragmatik nicht das Wesen Hegelscher Gedanken erfassen können.

Im direkten Anschluss an das obige zweite Zitat von Hegel schreibt er: „Wenn sie wirklich dieses Stück Papier, das sie meinen, sagen wollten, und sie wollten sagen, so ist dies unmöglich, weil das sinnliche Diese, das gemeint wird, der Sprache, die dem Bewußtsein, dem an sich Allgemeinen angehört, unerreichbar ist. Unter dem wirklichen Versuche, es zu sagen, würde es daher vermodern;…“ (PhG, S. 91-92). Der daraus von Kettner abgeleitete Behauptung (2) stimmt er nur eingeschränkt zu und bringt dazu folgende Argumente:

Gedanklich gegebene formale Objekte, z. B. das Konzept des Dreiecks, sind gewiss leichter und vollständiger beschreibbar als die konkreten Dinge der sinnlichen Anschauung mit ihrem unendlichen Eigenschaftspotenzial. … Wer für die ontologische Annahme der Individuiertheit sinnlich erfassbare materielle Einzeldinge eintritt, meint mit deren Wahrheit unter anderem auch, dass er zum Beispiel ein Brot, dieses Brot da, aufessen kann; und er wird sich gefoppt fühlen, will man ihm klarmachen, an dem Brot sei nichts Wahres dran, weil es unter dem Versuch seiner vollständigen Beschreibung verschimmeln würde. … Im Übrigen ist die Idee einer vollständigen Beschreibung keine absolute, sondern relativ, nämlich auf die Standards einer Beschreibungspraxis oder auf ein Beschreibungsinteresse bezogen. Sicher würden Hegels verzweifelnde Papierforscher stets neue Eigenschaften entdecken, wenn sie mit Mikroskopen, Spektrometer oder Röntgenapparaten auf das betreffende Papierstück losgingen. Aber solche Beschreibungen würden ohnehin die Erfahrungs- und Erfahrungsbeschreibungspraxis sinnlicher Gewissheit sprengen. Um alles über ein einigermaßen sauberes Stück Papier zu sagen, was sich darüber mit Sinn überhaupt sagen lässt, sofern ich mich ausschließlich nur sinnlich unmittelbar vergewissere, wird nicht einmal viel Zeit erfordern. Das Papier würde nicht vermodern. Die Dramatik ist völlig haltlos (S. 260).

Gedanken:

  • Auch hier versetzt Kettner seinen Leser in durchaus nachvollziehbare pragmatische Situationen, aus deren Sicht die Darlegung von Hegel tatsächlich als absurd erscheinen. Wenn es um eine konkrete Situation geht, in der jemand einem Partner einen konkreten und sogar vorliegenden Gegenstand beschreiben will, so ist dies ohne Frage in endlicher Zeit möglich.
  • Aber auch hier sind die Gedanken Hegels offensichtlich viel weitragender. Dies kann bereits an dem von Kettner genannten Beispiel des Konzeptes eines Dreiecks verdeutlicht werden, dass aus seiner Sicht leicht vollständig beschreibbar ist. Zum Konzept eines Dreiecks gehören alle mit einem Dreieck verbundenen Gedanken und das ist eine außerordentlich große und komplexe Vielzahl. Man denke etwa nur an die geometrischen Eigenschaften und die trigonometrischen Beziehungen.
  • Es geht Hegel nicht um eine konkrete pragmatische Situation, sondern generell um die Tatsache, dass, wie auch Kettner schreibt, konkrete Dinge ein unendliches Eigenschaftspotenzial haben. Das Beispiel eines Stück Papiers ist dabei eher ungeeignet, da dieses Potenzial kaum sichtbar ist. Beim Beispiel eines Brotes ist es schon anders, wenn man an die Vielzahl der Arten und Herstellungsmöglichkeiten von Broten denkt. Die Argumentation von Kettner, dass man ein Brot ja essen kann, ohne es beschreiben zu müssen, ist hier völlig unpassend. Ein gut geeignetes Beispiel ist für mich die Beschreibung eines konkreten Menschen, bei der schnell klar wird, dass dies kaum in endlicher Zeit vollständig möglich ist.

Kettner stellt nach seinen sprachanalytischen Betrachtungen zusammenfassend fest: „So bleibt Hegels Darstellung sinnlicher Gewissheit eine kryptopragmatische Theorie, die sich selbst semantizistisch missversteht“ (S. 265). Was er dabei unter den eher ungewöhnlichen Bezeichnungen „kryptopragmatisch“ und „semantizistisch“ versteht, erläutert er an keiner Stelle seines Buches in verständlicher Weise.

Zusammenfassende Einschätzungen

Kettner hat eine vergleichsweise hohe Zahl von anderen Interpretationen der sinnlichen Gewissheit bzw. generell der Texte von Hegel für seine Untersuchung herangezogen und sie nicht nur referiert, sondern sich mit der Mehrzahl ausführlich und kritisch auseinandergesetzt. Er weist nach, dass viele der Kritiken an Hegel unberechtigt sind. Obwohl er selbst häufig Hegels Text kritisiert, bemüht er sich immer wieder mit seinen Mitteln die Konsistenz von Hegels Formulierungen nachzuweisen, was ihm oft erhebliche Anstrengungen kostet.

Der Autor verwendet häufig eigene Beispiele zu Erläuterung seiner Auffassung die jedoch in der Regel nicht von dem elementaren Niveau der hegelschen Beispiele abweichen.

Trotz der oft ausufernden Überlegungen bleibt Kettner doch letztlich dem Text von Hegel eng verhaftet. Er stellt die von Hegel verwendeten Begriffe nicht infrage. Auch mögliche Anwendungen der Überlegungen von Hegel etwa zur Auseinandersetzung mit Menschen, deren Gedankengebäude auf einzelnen Erlebnissen fußt, geht er nicht ein.

Die Arbeit ist durch eine extrem feine Zergliederung des Textes von Hegel gekennzeichnet. Der Autor zerlegt die zehn Seiten des Abschnitts zur sinnlichen Gewissheit von Hegel in 36 Textsegmente, die er in insgesamt 98 Paragrafen sukzessive kommentiert, wobei die letzten Textsegmente (ab Textsegment 20) zunehmend umfangreicher und die Kommentare zunehmend kürzer werden. Vor und nach diesen Kommentaren diskutiert er Probleme des Textes auf insgesamt weiteren 90 Seiten. Die sich so insgesamt ergebende erstaunliche Anzahl von 260 Seiten Kommentar zu den zehn Seiten von Hegel sind durch eine verwirrende Anzahl von Wiederholungen und inneren Bezügen gleicher Gedanken oft schwer durchschaubar und verständlich. Der extremen äußeren Strukturiertheit steht eine extreme Diversität der Gedankenführung im Innern entgegen. Hinzu kommen eine extrem verschachtelte Sprache und teilweise sehr geschraubte Formulierungen mit unnötigen Fremdwörtern. Einem Kenner des originalen Hegelschen Textes erscheint dieser oft verständlicher als viele der Ausführungen von Kettner.

Ein bedeutender Mangel der Arbeit ist, dass Kettner mit keinem Wort auf die Philosophen Spinoza, Leibniz, Kant, Fichte, Jacobi, Schelling und andere, sowie auf Bezüge zu hinter der Arbeit stehenden Theorien wie Spinozismus, Skeptizismus, Empirismus, Transzendentalphilosophie und andere eingeht. Ohne diese Bezüge ist eine tiefgründige Kommentierung der Ausführungen von Hegel nicht zu leisten.

Da Kettner bei den Literaturangaben die Vornamen der Autoren stets abkürzt, wird die Suche nach den Quellen erheblich erschwert. Viele Angaben sind zudem unvollständig, eine Angabe fehlt.

Kettner legt einen formalen Maßstab an den Text von Hegel, der diesem nicht gerecht wird. Der Autor stellt aus der Sicht der formallogischen Betrachtungen zahlreiche Absurditäten heraus, die sich bei dieser Sichtweise aus dem Text von Hegel ergeben, die bei einer anderen Interpretation aber gegenstandslos sind.

Kettner schließt, metaphorisch gesagt, mit den Kanonen der formalen Sprachanalyse auf einen kleinen Spatzen, der gerade zur Welt gekommen ist.

Auch im Hinblick auf die fehlende Rezeption der Arbeit kann man davon sprechen, dass sie ein singuläres Ergebnis der Hegelforschung ist.

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