Hans-Dieter Sill, 12.08.2022

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Das entäußerte Mentale

Neben den Kategorien des Mentalen und Nichtmentalen halte ich es für sinnvoll, eine dritte Kategorie einzuführen. Das damit verbundene Anliegen soll am Beispiel des Begriffs „Wissen“ erläutert werden, der in zwei Bedeutungen verwendet werden kann.

„Wissen“ bezeichnet zum einen bestimmte Zustände bzw. Strukturen in einem menschlichen Gehirn, in denen alle Kenntnisse und Vorstellungen des jeweiligen Menschen zu einem bestimmten Wissensbereich gespeichert sind. Wenn ein Mensch sich zu seinem Wissen auf einem Gebiet äußert oder wenn in einem Fachbuch das Wissen zu einem Gebiet dargestellt ist, ändert sich der ontologische Charakter des Begriffs „Wissen“. Er ist in dieser Form nicht mehr Mentales, sondern Bestandteil der nichtmentalen Realität und kann Gegenstand von kommunikativen, unterrichtlichen oder wissenschaftlichen Prozessen sein.

Für den Begriff „Theorie“ ergibt sich, dass „Theorie“ einmal ein System von Gedanken und Vorstellungen im Kopf eines Menschen bezeichnet, zum Beispiel die philosophischen Vorstellungen im Kopf von Hegel, und zum anderen die Theorie, die in seinen schriftlichen oder mündlichen Darstellungen in Büchern oder Vorlesungen enthalten ist.

Das mündliche, schriftliche oder handlungsmäßige Äußern von Gedanken, Überlegungen, Gefühlen oder anderen mentalen Zuständen kann als Entäußerung bezeichnet werden. Entäußerung wird im philosophischen Sinne zwar meist als Vergegenständlichung verstanden. „Systematischen Stellenwert hat der Begriff der Entäußerung bei Hegel wie bei Marx hinsichtlich der dialektischen Vermittlung von Subjekt (Geist, Mensch) und Objekt (gegenständliche Wirklichkeit). Bei Hegel bezeichnet Entäußerung die (erste) Negation des zunächst nur an sich seienden Geistes in die Gegenständlichkeit bestimmter Objekte“ (Prechtl und Burkard 2008, S. 137). Der Prozess der Entäußerung lässt sich aber auch auf nichtgegenständliche Objekte übertragen. „Schon der frühe Hegel hat die moderne Entzweiung, das Auseinandertreten von Subjekt als Selbstbewusstsein und Objekt als der ihm äußerlichen Wirklichkeit ausgesprochen, … Aber erst die Phänomenologie des Geistes (1807) entfaltet die Dialektik dieser Entzweiung. Sie ist die Darstellung des werdenden Wissens. Das Wahre ist nur als Werdendes wirklich, es hat sich als Vernunft tätig in die Wirklichkeit zu entäußern, um sich gegenständlich und damit erkennbar zu werden“ (Sandkühler et al. 2010, S. 532).

Als Bezeichnung für die neue Kategorie schlage ich „entäußertes Mentales“ vor. Das entäußerte Mentale hat folgende charakterisierende Merkmale:

  • Es ist ein Ergebnis mentaler Vorgänge der Verarbeitung von Gedanken, Begriffen, Theorien, Vorstellungen, Emotionen, Episoden und anderer mentaler Zustände.
  • Es existiert außerhalb des Mentalen.
  • Es existiert nicht selbstständig, sondern ist immer an einen nichtmentalen Träger gebunden.

Mögliche nichtmentale Träger für das entäußerte Mentale sind z. B. Schallwellen, Papier, elektronische Medien, Leinwände und Farben oder Werkstoffe für die Produktion von Möbeln. Das entäußerte Mentale ist Bestandteil von Produkten des menschlichen Schaffens. Das entäußerte Mentalen bildet mit seinem Träger eine Einheit. Die gedruckten Buchstaben in einem Text sind Träger der mit diesen Buchstaben ausgedrückten Gedanken. Ein Kunstwerk wie ein Musikstück, ein Bild oder eine Skulptur sind Träger der Vorstellungen, Gedanken oder Gefühle des Künstlers, der sie produziert hat. Ohne die darin ausgedrückten Gefühle und Gedanken wäre Musik nur Schallwellen, ein Bild nur Papier und Farben und eine Skulptur nur ein Stück Bronze.

Auch Industrieprodukte wie Möbel, Häuser oder Autos sind Träger von entäußerten Gedanken, Vorstellungen, Ideen und Kenntnissen der Konstrukteure, Architekten, Designer und anderer an der Konzipierung der Produkte beteiligten Personen.

Zu den möglichen Trägern von entäußertem Mentalen gehören alle Werkstoffe, Gegenstände oder sonstigen Materialien, die von Menschen bearbeitet werden können. Dies können in manchen Fällen auch biologische Objekte sein, wie Blumen, die kunstvoll zu Sträußen oder Arrangements gebunden werden, Bäume, die in einem Park von einem Landschaftsarchitekten gepflanzt wurden oder der menschliche Körper, der von Modedesignern geschmückt oder von Bodypaintern bemalt wird.

Die Mehrzahl der Objekte in der Natur, wie Pflanzen, Tiere, Meere oder Berge, das Innere der Erde oder planetare Objekte treten nicht als Träger von entäußertem Mentalen auf.

Die Bezeichnung „entäußertes Mentales“ ist umfassender als „geäußertes Mentales“. Mit „äußern“ ist in der Alltagssprache gemeint, dass Gedanken, Meinungen oder Vorstellungen sprachlich zum Ausdruck gebracht werden, oder dass etwas, zum Beispiel eine Krankheit, in etwas, zum Beispiel Fieber, zum Ausdruck kommt. Die Ideen eines Künstlers, die in seinem Kunstwerk zum Ausdruck kommen, bezeichnet man nicht als Äußerungen des Künstlers. Die Formulierung, dass der Künstler seine Ideen in dem Kunstwerk entäußert hat, halte ich für zutreffender.

Das nichtentäußerte Mentale, also das, was nur im Kopf eines Menschen vorhanden ist, soll kurz als „Mentales“ bezeichnet werden. Auch dieses Mentale ist im Kopf nach Auffassung von Gehirnforschern an nichtmentale Träger gebunden. Wie diese Bindung oder auch mögliche Selbstständigkeit konkret beschaffen ist, soll hier nicht weiter betrachtet werden. Dies ist für philosophische Forschung aus meiner Sicht von geringer Bedeutung.

Die Hermeneutik als Theorie der Interpretation von Texten beschäftigt sich mit dem Inversen der Entstehung des entäußerten Mentalen, das Zurückgehen auf das dahinterstehende Mentale. Diese Inversion ist nicht problemlos und schon gar nicht eindeutig möglich, da entäußertes Mentales, etwa der Inhalt geschriebener Sätze, ein Produkt eines Systems von mentalen Zuständen und Prozessen ist, die teilweise auch unbewusst ablaufen.

Der Terminus des entäußerten Mentalen hat Bezüge zum Begriff der Information, als dem Grundbegriff der Informationstheorie. Es gibt verschiedene Explikate des Wortes „Information“, denen aber allen gemeinsam ist, „daß Information nicht eine konkrete physikalische Gegebenheit ist, sondern entweder bestimmte strukturelle Zusammenhänge zwischen solchen Gegebenheiten bezeichnet oder aber (wenn die Gegebenheit eine Mitteilung ist) den Gehalt oder Inhalt der Mitteilung.“ (Ritter et al. 2007, S. 356) Der Begriff Information hat aber auch Aspekte, die nicht als Momente des entäußerten Mentalen angesehen werden können. So kann Information als Konfiguration von Symbolen oder als Klasse aller Sätze, die von einem Satz logisch impliziert werden, aufgefasst werden (Ritter et al. 2007, S. 356).

Der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker erörterte 1959 in einem Vortrag den Begriff der Information und äußerte dazu: „Man beginnt sich heute daran zu gewöhnen,  daß Information als eine dritte, von Materie und Bewußtsein verschiedene Sache aufgefaßt werden muß“ (Weizsäcker 1959, S. 44). Er stellt dann aber einen Bezug zum Begriff der Form her und schreibt: „Ich werde … Information als eine Form oder Gestalt oder Struktur auffassen“ (Weizsäcker 1959, S. 45).

Dieser Gedanke eines Dritten wurde ebenfalls von Frege in einer Schrift aus dem Jahre 1918 geäußert (in Frege 1993), allerdings in einem anderen Sinne. Er unterscheidet zunächst zwischen den Vorstellungen eines Menschen und der Außenwelt. Mit Vorstellungen bezeichnet er zusammenfassend alles das, was unter Mentalem verstanden werden kann. Ausführlich erläutert er an vielen Beispielen, dass Vorstellungen immer an einen Träger, also einen konkreten Menschen, gebunden sind und deshalb ein interpersonaler Vergleich oder Austausch mit Problemen verbunden ist. Das Wort „Gedanke“ verwendet er als etwas, was außerhalb des Menschen existiert. Das widerspricht der üblichen Verwendung dieses Wortes als Inhalt und Ergebnis des Denkens und damit als einem mentalen Objekt. Gedanken in diesem Sinne sind für Frege wahre Aussagen, die unabhängig von der Kenntnistätigkeit des Menschen existieren. Als Beispiele nennt er unter anderem den Satz des Pythagoras oder einen Planeten, bevor entdeckt wurde. Gedanken sind deshalb unabhängig von einem Träger und er formuliert den berühmten Satz: „Die Gedanken sind weder Dinge der Außenwelt noch Vorstellungen. Ein drittes Reich muß anerkannt werden.“ (S. 43) Ein Mensch kann nach Frege Gedanken nur fassen, die aber dadurch unverändert bleiben. „Indem der Gedanke gefasst wird, bewirkt er Veränderungen zunächst nur in der Innenwelt des Fassenden; doch bleibt er selbst im Kerne seines Wesens davon unberührt, da die Veränderungen, die er erfährt, nur unwesentliche Eigenschaften betreffen. Es fehlt hier das, was wir im Naturgeschehen überall erkennen: die Wechselwirkung. Die Gedanken sind nicht durchaus unwirklich, aber ihre Wirklichkeit ist ganz anderer Art als die der Dinge. Und ihr Wirken wird ausgelöst durch ein Tun der Denkenden, ohne das sie wirkungslos wären, wenigstens soweit wir sehen können. Und doch schafft der Denkende sie nicht, sondern muß sie nehmen, wie sie sind. Sie können wahr sein, ohne von einem Denkenden gefaßt zu werden, und sind auch dann nicht ganz unwirklich, wenigstens wenn sie gefaßt und dadurch in Wirksamkeit gesetzt werden können“ (S. 53). Die Gedanken im Sinne des „dritten Reiches“ von Frege entsprechen also nicht einem entäußerten Mentalem.

Mit seiner Drei-Welten-Theorie knüpft Popper in bestimmter Hinsicht an die Vorstellungen von Frege an. Als Welt 1 bezeichnet Popper (1978) „the world that consists of physical bodies: of stones and of stars; of plants and of animals; but also of radiation, and of other forms of physical energy“ (S. 143). Die Welt 2 ist für ihn „the mental or psychological world, the world of our feelings of pain and of pleasure, of our thoughts, of our decisions, of our perceptions and our observations; in other words, the world of mental or psychological states or processes, or of subjective experiences“ (S. 143). Und als Welt 3 bezeichnet er „the world of the products of the human mind, such as languages; tales and stories and religious myths; scientific conjectures or theories, and mathematical constructions; songs and symphonies; paintings and sculptures. But also aeroplanes and airports and other feats of engineering“ (S. 144).

Diese Drei-Welten-Theorie hat Bezüge zu den von mir dargestellten Auffassungen. Die Welt 1 von Popper enthält Objekte, die bei mir nicht oder nur eingeschränkt als mögliche Träger von entäußertem Mentalen auftreten. Die Welt 2 bei Popper entspricht offensichtlich der Gesamtheit des (nicht entäußerten) Mentalen. In seine Überlegungen zur Welt drei sind Gedanken zur Kategorie des entäußerten Mentalen enthalten. Man kann aber nicht davon sprechen, dass es sich bei den genannten Produkten nur um Produkte des Mentalen handelt, für die Herstellung von Flugzeugen oder Flughäfen sind auch und vor allem andere Prozesse der Produktion erforderlich. Es ist auch nicht klar erkennbar, was es bedeutet, eine Theorie als Produkt des „menschlichen Geistes“, also des Mentalen zu bezeichnen. Theorien existieren als mentale Objekte auch in der Welt 2 von Popper.

Ein besonderes Problem der Kommunikation über das entäußerte Mentale besteht darin, dass es zur Unterscheidung von Mentalem und entäußertem Mentalen keine speziellen Bezeichnungen gibt.

Eine Ausnahme bildet die Verwendung der Termini „Kenntnisse“ und „Wissen“ in der pädagogischen Psychologie in der DDR. Unter Kenntnissen wurden „individuelle Abbilder von Dingen Eigenschaften, Vorgängen oder Relationen der objektiven Realität“, also mentale Objekte verstanden, die „in Form von Vorstellungen, Begriffen, Urteilen im Gedächtnis gespeichert werden“ (Kossakowski et al. 1977, S. 139). Diese werden von „dem Wissen als einer Form des gesellschaftlichen Bewusstseins unterschieden“, also einem nichtmentalen Objekt, wobei allerdings darauf hingewiesen wird, dass „im pädagogischen und allgemeinen Sprachgebrauch die Termini Wissen und Kenntnis meistens synonym verwendet“ werden (Kossakowski et al. 1977, S. 152). Diese Unterscheidung zwischen Kenntnissen und Wissen habe ich in der bisher gesichteten aktuellen psychologischen und philosophischen Literatur nicht gefunden. Der Terminus Wissen wird hauptsächlich für Mentales und gelegentlich auch für Nichtmentales verwendet.

Zum Problem der sprachlichen Unterscheidung von Mentalem und entäußertem Mentalen schlage ich vor, keine neuen Wörter zu erfinden, sondern verkürzte Sprechweisen und entsprechende Abkürzungen zu verwenden. So könnte man von Wissen „im mentalen Sinne“ (i.m.S.) und von Wissen „im entäußerten Sinne“ (i.e.S.) als Verkürzung der Formulierung „Wissen im Sinne des entäußerten Mentalen“ sprechen. Diese Zusätze sind bei allen Objekten möglich, die sowohl als Mentales und als entäußertes Mentales existieren wie Worte, Ideen, Begriffe, Theorien u. a. Auf den Zusatz kann verzichtet werden, wenn aus dem Kontext hervorgeht, dass es nur um den Bereich des Mentalen geht oder wenn durch Adjektive ausgedrückt wird, dass es sich um entäußertes Mentales handelt, wie etwa „geäußerte Ideen“.

Literaturverzeichnis

Frege, Gottlob (1993): Der Gedanke • Eine logische Untersuchung. In: Günther Patzig und Gottlob Frege (Hg.): Logische Untersuchungen. 4., durchges. und bibliogr. erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht (Kleine Vandenhoeck-Reihe, 1219), S. 30–53.

Kossakowski, Adolf; Kühn, Horst; Lompscher, Joachim; Rosenfeld, Gerhard (Hg.) (1977): Psychologische Grundlagen der Persönlichkeitsentwicklung im pädagogischen Prozeß. APW, Institut für Pädagogische Psychologie. Berlin: Verl. Volk und Wissen.

Popper, Karl R. (1978): Three Worlds. Hg. v. University of Michigan (THE TANNER LECTURE ON HUMAN VALUES). Online verfügbar unter https://tannerlectures.utah.edu/_documents/a-to-z/p/popper80.pdf, zuletzt geprüft am 16.07.2021.

Prechtl, Peter; Burkard, Franz-Peter (Hg.) (2008): Metzler Lexikon Philosophie. Begriffe und Definitionen. 3., erw. und aktualisierte Aufl. Stuttgart: Metzler. Online verfügbar unter https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/.

Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried; Gabriel, Gottfried (Hg.) (2007): Historisches Wörterbuch der Philosophie. 13 Bände. Basel: Schwabe.

Sandkühler, Hans Jörg; Borchers, Dagmar; Regenbogen, Arnim; Schürmann, Volker; Stekeler-Weithofer, Pirmin (Hg.) (2010): Enzyklopädie Philosophie. In drei Bänden mit einer CD-ROM. Hamburg: Meiner.

Weizsäcker, Carl Friedrich von (1959): Sprache als Information. In: Bayerischen Akademie der Schönen Künste (Hg.): Die Sprache. Vortragsreihe vom 19. bis 23. Januar 1959 in München, vom 26. bis 30. Januar in Berlin. München: Oldenbourg (Jahrbuch Gestalt und Gedanke, 5).