Hans-Dieter Sill                                                                                                                                                10.03.2022

Analyse von Beiträgen zu Problemen der „sinnlichen Gewissheit“

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Inhalt

Verwendete Literatur

Es wurden folgende Literaturquellen ausgewertet, die Reihenfolge entspricht dem Jahr der ersten Auflage: (Fulda und Henrich 1998), (Ludwig 1997), (Siep 2000), (Arndt und Müller 2004), (Vieweg und Welsch 2008), (Stekeler-Weithofer 2014), (Ostritsch 2020), (Jaeschke 2020).

(Fulda und Henrich 1998) sowie (Arndt und Müller 2004) sind Zusammenstellungen von bereits publizierten Artikeln.

Inhalte und Bemerkungen zu den Beiträgen

Wieland (1998, S. 67–82): Hegels Dialektik der sinnlichen Gewissheit

Zitate

Denn was am Anfang von Hegels Phänomenologie geschieht, unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht wenig von dem was Protreptik und Elenktik in den frühen Platondialogen zustande bringen. Man wird also einmal von der Hypothese ausgehen dürfen, dass Hegels Dialektik der sinnlichen Gewissheit in Analogie zu jener frühplatonischen Dialektik zu verstehen ist, zu der – mindestens – zwei Partnern nötig sind. Es wird nun überraschen, dass wir in der Dialektik der sinnlichen Gewissheit ebenfalls zwei Partner, gleichsam stilisiert, vorfinden: In Hegels Gedankengang kommt nicht nur die sinnliche Gewissheit, das unmittelbare Wissen selbst vor, sondern ebenso auch wir, die wir dieses unmittelbare Wissen zum Gegenstand der Betrachtung machen: „Wir haben uns ebenso unmittelbar oder aufnehmend zu verhalten, also nichts an ihm, wie es sich darbietet, zu verändern, und von dem Auffassen das Begreifen abzuhalten“ (TWA 3, S. 82) (S. 70).

Ein Fortschritt im Gang der Untersuchung ergibt sich erst, wenn wir fragen, wie sich die sinnliche Gewissheit selbst versteht. Sie ist nämlich, wie man leicht sieht, kein transzendentales oder reines Bewusstsein, sondern eine Bewusstseinsform von der Art, dass sie Aussagen machen und, wie sich später zeigen wird, auch Fragen beantworten kann. Mag sein, dass uns die sinnliche Gewissheit als die reichste alle Erkenntnisweisen erscheint, wenn wir darauf achten, welche Aussagen wir über sie machen können und wenn wir die Fülle ihrer möglichen Inhalte ansehen. […] Die Tatsache, dass die sinnliche Gewissheit von allen ihren Inhalten nichts anderes als allein das ärmste und leerste Prädikat – das Sein – aussagen kann, zeigt, dass für sie selbst der Reichtum, den wir an ihr zu sehen glauben, gar nicht vorhanden ist. […] Diese Diskrepanz zwischen dem Bild, dass wir uns von der sinnlichen Gewissheit machen, und der Selbstdeutung dieser Gewissheit provoziert den Fortgang der Erörterung (S. 71).

Das reine Sein macht in dem angegebenen Sinn das Wesen der sinnlichen Gewissheit aus; anstatt vom „Wesen“ kann Hegel hier gleichbedeutend auch von der „Wahrheit“ sprechen (S. 72).

Hegel bezeichnet schon in diesem Abschnitt den Weg des Bewusstseins mithilfe des Wortes „Dialektik“. Es ließ sich zeigen, dass für diese Art von Dialektik der Gegensatz zwischen zwei Partnern, nämlich dem Bewusstsein in der Weise der sinnlichen Gewissheit und uns konstitutiv ist.

Platoniker ist Hegel in der Phänomenologie aber auch noch in anderer Hinsicht: es wird nur dann etwas als Einsicht akzeptiert, wenn das Bewusstsein selbst darauf gekommen ist. Nichts anderes ist gemeint, wenn Hegel von der Erfahrung des Bewusstseins spricht: die Phänomenologie will den Weg dieser Erfahrung nachzeichnen, aber sie will weder formgerechte Deduktionen liefern, noch sich mit bloßen Reflexionen über das Bewusstsein zufrieden zu geben (S. 77)

Hegels Phänomenologie ist nun zwar ebenso Bewusstseinsphilosophie wie die Philosophie seiner Vorgänger. Worauf es Hegel hier aber vor allem ankommt, ist dies: er will das Bewusstsein nicht nur zum Gegenstand der Reflexion machen, sondern er will es mit allen seinen Erfahrungsmöglichkeiten an seiner Theorie selbst beteiligen. So steht das Bewusstsein, dass die Theorie macht, dem Bewusstsein, über das es die Theorie macht, nicht mehr unvermittelt gegenüber. Das Bewusstsein ist auch nach idealistischer Auffassung nichts, was aus sich selbst verständlich wäre. Hegel versucht indessen nicht, das Bewusstsein aufgrund dieser Tatsache aus einem höheren Prinzip zu deduzieren, sondern er sucht einen Weg, der es dem unmittelbaren Bewusstsein gestattet, seine Abhängigkeiten und Verflechtungen schrittweise selbst einzusehen. Das gilt im Grunde für den ganzen Weg des Bewusstseins bis hin zum absoluten Wissen (S. 78).

Das Bewusstsein bei dem die Phänomenologie ansetzt, ist zugleich das des gemeinen Menschenverstandes. Hegel wusste von der Kontingenz der Inhalte dieses gemeinen Menschenverstandes; er hat ihn als Ausgangspunkt der spekulativen Untersuchung anerkannt, freilich als ein Ausgangspunkt, der überwunden werden muss. Der gemeine Menschenverstand glaubt im unmittelbaren Wissen eine Grundlage zu haben, die sich durch nichts erschüttern lässt (S. 79).

Das Absolute ist nämlich insofern „bei uns“, als der Wahrheitsanspruch der mit allen Formen und Gestalten unseres Wissens immer verbunden ist, seinem Wesen nach ein Absolutheitsanspruch ist, ob wir das wollen oder nicht. Dieser Anspruch wird der Prüfung unterworfen, bei der sich zeigt, dass er nicht gerechtfertigt werden kann. Doch Hegel weiß, dass man ein Absolutheitsanspruch immer nur dann zurückweisen kann, wenn man einen neuen und anderen Absolutheitsanspruch erhebt. Weil das so ist, kann seine Philosophie zugleich Theorie des Absoluten und radikale Skepsis sein. Hegel geht davon aus, dass wir in allen unserem Denken auch im trivialen Bewusstsein, immer schon ein Absolutes vorausgesetzt haben, denn auch das triviale Bewusstsein erhebt den Anspruch, im Besitz von Wahrheit zu sein (S. 80).

Weitere Inhalte: Es wird nur auf Beispiele von Hegel Bezug genommen.

Bemerkungen zum Beitrag:

  • Der Gedanke eines Dialoges zwischen dem Bewusstsein und einer außenstehenden Person ist eine interessante Art der Interpretation, aber letztlich fragwürdig. Man kann die Verwendung des Wortes „wir“ bei Hegel im Sinne von „man“ auch so interpretieren, dass es um Hinweise für das Verhalten eines Ich geht. Der durchaus stattfindende Dialog spielt sich im Bewusstsein als der Gesamtheit aller mentalen Zustände und Prozesse selber ab. Dies drückt der Autor selber mit seinen Worten aus: „Worauf es Hegel hier aber vor allem ankommt, ist dies: er will das Bewusstsein nicht nur zum Gegenstand der Reflexion machen, sondern er will es mit allen seinen Erfahrungsmöglichkeiten an seiner Theorie selbst beteiligen. So steht das Bewusstsein, dass die Theorie macht, dem Bewusstsein, über das es die Theorie macht, nicht mehr unvermittelt gegenüber“ (S. 78).
  • Die beiden Bestandteile des Bewusstseins, die miteinander einen Dialog eingehen, ist der bisherige Bestand und die neu hinzugekommene „sinnliche Gewissheit“ über ein unbekanntes Objekt. Die Fragestellungen sind heuristischer Art als Fragen an sich selbst.
  • Die Betrachtungen zum Wahrheitsanspruch des gemeinen Menschenverstandes bzw. trivialen Bewusstseins sind sehr treffend.

Ludwig (1997, S. 45–55): Hegel für Anfänger. Phänomenologie des Geistes.

Zitate

Wir wollen einmal in Gedanken vor die Haustüre treten. Die Eindrücke, die unsere Sinne in jeder Sekunde treffen, sind in einer derartigen Fülle vorhanden, dass sie schier kein Ende nehmen wollen. Fasst ertrinken wir im Reichtum unendlicher Sinneseindrücke, sodass wir uns fragen: Kann es eigentlich noch ein Mehr an Erkenntnis geben? Diese Denkweise nennt Hegel „sinnliche Gewissheit“ (S. 45).

Die erste Stufe ist genommen: Wir verhalten uns passiv und sehen etwas. Aber indem wir dies tun, müssen wir uns auch im Klaren sein, dass das Sehen eines Gegenstandes doch nicht so unmittelbar ist, wie es den Anschein hat (S. 48).

Wir stellen uns zwei Krüge vor, der eine trägt die Aufschrift „Das Jetzt“ und der andere die Aufschrift „Das Hier“. Im Jetzt(-Krug) befindet sich „Jetziges“, Jetzige Zeitpunkte: mittags, nachts, 21 Uhr, dieser April, dieses Jahr […] Im Hier(-Krug) befindet sich „Hiesiges“ örtliche Bestimmungen: hier ist der Baum, das Haus, dort die Katze, der Hund.

Alles was „ist“ oder „nicht ist“ befindet sich in den beiden Krügen, bleibt aber nicht, denn was in Zeit und Raum ist, ändert sich ständig. Was aber nicht verschwindet sind die „Diese“. Sie bleiben. Das Jetzt bleibt als Sein, während die Uhr die jetzige Zeitangabe unerbittlich widerlegt. Das Hier bleibt als Sein, während die Örtlichkeiten ständig wechseln. Selbst das „Dieser Ich“ kann als ein Krug betrachtet werden, in den alle möglichen Namen neben meinem hineingeworfen werden können (S. 51).

Das Bewusstsein in der Primitiv-Gestalt der sinnlichen Gewissheit meint, dass es sich direkt und unmittelbar auf einzelne Gegenstände beziehen kann. Das aber ist ein Irrtum, das vermeintlich Einzelne kann nur als Allgemeines erfasst werden: Die Begriffe Dieses, Jetzt und Hier, und vor allem die Sprache entlarven das Einzelne als Allgemeines (S. 55).

Weitere Inhalte:

Beispiele Hegels werden kommentiert. Als weiteres Beispiel wird eine konkrete Aussage zum Besuch eines Fußballspiels verwendet.

Bemerkungen zum Beitrag:

  • Ludwig versucht unter Verwendung der Worte von Hegel den gemeinten Sachverhalt zu erläutern. Das Bild eines Kruges, der mit einer generischen Bezeichnung für die konkreten Objekte versehen ist, die in ihn hineingelegt werden können, ist in gewissen Beziehungen geeignet. Dies entspricht dem Begriff der Variablen in der Informatik als Namen eines Speicherplatzes für Daten.
  • Es treten bei der Ausführung dieses Gedankens durch Ludwig allerdings mehrere Probleme auf:
    • Das Wort „jetzt“ bezeichnet nicht nur Zeitpunkte sind. Eine bessere Möglichkeit wäre die Beschriftung „Zeitangaben“.
    • Die Objekte Baum, Haus, Katze sind keine örtlichen Bestimmungen, sondern Objekte. Wenn es um den konkreten Ort eines Objektes geht, müsste es Ortsangaben heißen. Dabei ist dann allerdings zu beachten, dass man nicht für alle Objekte einen Ort angeben kann, wie etwa bei Gedanken und elektrischen Feldern. Möglich wäre auch generell von Objekten zu sprechen, was aber von den Intentionen Hegels wegführt.
    • Da aber Zeiten und Orte Kontinua sind, sich also nicht des kritisieren lassen, ist das Modell grundsätzlich ungeeignet.
    • Das Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem, um das es Hegel geht, lässt sich mit dem Modell eines Kruges veranschaulichen. Der Gedanke einer zeitlichen Änderung ist nicht erforderlich und verkompliziert nur die Sache.
    • In den von Ludwig verwendeten Krügen lässt sich nicht alles einordnen was „ist“ und schon gar nicht was „nicht ist“.

Siep (2000, S. 83–87): Der Weg der „Phänomenologie des Geistes“. Ein einführender Kommentar zu Hegels „Differenzschrift“ und zur „Phänomenologie des Geistes“

Zitate

Was die sinnliche Gewissheit beansprucht, ist eine reiche, noch nicht von Abstraktionen verkürzte Erkenntnis von Gegenständen. Sie will den Gegenstand „an sich“ erfassen, ohne ihn zu interpretieren, zu vergleichen, auf Begriffe zu bringen usw. Deshalb wird sie von einer einzelnen Person („ich“) beansprucht, die vom Gegenstand ihrer Gewissheit nichts anderes aussagt als das Prädikat „ist“ (im Sinne von „existiert“) mit dem Zusatz einer Raum- und Zeitangabe und eventuell eines Namens („dies hier ist ein Baum“) (S. 84).

Man kann in der von Hegel dargestellten Erfahrung der sinnlichen Gewissheit vier Momente unterscheiden:

  1. Die ursprüngliche Intention dieser Bewusstseinsgestalt: der Gegenstand ist ein einzelner, aber bleibender, vom Bewusstsein unabhängiger, von ihm ist ein unverkürztes („reiches“) aber zugleich gewisses Wissen möglich.
  2. Der tatsächliche Bewusstseinsinhalt, der durch die Ausdrücke „ich, dies, jetzt, hier, ist“ und die Namen ausgedrückt wird. Das aber ist etwas Allgemeines, denn Indikatoren sind allgemeine Ausdrücke, deren Bezugsgegenstand (Referent) sich ständig ändern kann (kontextabhängig).
  3. Da sich beides nicht entspricht, findet 3. eine Korrektur statt, die mehrere Phasen hat. Zunächst wird das Bleibende und zugleich einzelne abwechselnd auf die Objekt- oder Subjektseite („ich“) verlegt. Schließlich soll die Bewegung des Aufzeigens selber die Intention der sinnlichen Gewissheit erfüllen. Diese Bewegung erfasst aber kein einzelnes Dieses, sondern ein gegliedertes sinnliches Kontinuum.
  4. Der neue Gegenstand, auf den diese Korrektur zurückschlägt, d. h. die neue Intension der Gegenstandsauffassung der nächsten Bewusstseinsgestalt: das Ding als ein raum-zeitliches Kontinuum mit verschiedenen, veränderlichen Eigenschaften. Es stellt gewissermaßen die vergegenständlichte Bewegung des Aufzeigens dar. Insofern ist tatsächlich das „Für uns“ der letzten Korrekturstufe der sinnlichen Gewissheit das „An sich“ des neuen Gegenstandes (S. 85).

Was aber ist die eigentliche Aussage des Kapitels? Will Hegel zeigen, dass es nichts einzelnes gibt oder wir uns jedenfalls in unseren Aussagen nicht darauf beziehen können? Es gibt Formulierungen, die das nahelegen: „Da das Allgemeine das Wahre der sinnlichen Gewissheit ist und die Sprache nur dieses Wahre ausdrückt, so ist es gar nicht möglich, dass wir ein sinnliches Sein, das wir meinen je sagen können“ (TWA 3, S. 85). […] Das bedeutet aber nicht, dass wir uns mit der Sprache nicht auf einzelnes beziehen können. Es heißt vielmehr zum einen, dass die sprachlichen Ausdrücke stets über einzelnes hinausgehen und zum anderen, dass man mit den sprachlichen Mitteln, auf die sich die sinnliche Gewissheit beschränkt, kein Wissen (in ihrem eigenen Verständnis) zu erreichen ist. […]

Dass die Intention der sinnlichen Gewissheit durch ihre sprachlichen Mittel verkehrt wird, zeigt Hegel in drei Erfahrungsschritten. Zuerst zeigt sich die Allgemeinheit der auf den Gegenstand hinweisenden Ausdrücke. Sie enthalten gerade nichts von dessen sinnlichem Reichtum, sondern sind auf alles und jedes anwendbar. Die erste Korrektur setzt daher das Wesentliche der sinnlichen Gewissheit nicht mehr in den intendierten Gegenstand, sondern in das sinnlich empfindende Subjekt. Aber dieses als einzelnes, ohne allgemeine Prädikate, ist bloß „Ich“ – erneut ein von allen möglichen Sprechern, die auf sich selbst hinweisen, verwendbare Ausdruck. Seine identifizierende Funktion liegt gerade nicht in seinem Gehalt, sondern seinem Gebrauch in einer Situation. Ihre letzte Zuflucht sucht die „Unmittelbarkeitsthese“ daher im sprachlosen Hinweisen („Aufzeigen“) auf ein sinnlich einzelnes Etwas selber: die ganze aber momentane Beziehung auf den Gegenstand durch bloßes Zeigen soll ihn in seiner Konkretion und Wesentlichkeit zugleich erfassen. Auch dieser Versuch scheitert. Das Zeigen kann eben kein bleibendes, unabhängig von ihm selbst bestehendes fassen. Es kann nur auf Raum-Zeitstellen hinweisen, ohne dass man wüsste, ob ein Punkt, eine Oberfläche usw. gemeint ist. […] Die neue Gegenstandskonzeption, die dadurch entsteht, ist die eine Vielheit von Raumzeitpunkten, eines raum-zeitlich ausgedehnten Etwas, das durch verschiedene sinnliche Prädikate charakterisiert wird. Das ist für Hegel die „Dingontologie“, die Auffassung also, die Realität bestehe aus Dingen mit sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften. Wie die Indikatoren, so kann auch das Ding verschiedene sinnliche Inhalte aufnehmen (S. 85-87).

Weitere Inhalte

Es wird nur auf Beispiele von Hegel Bezug genommen.

Bemerkungen zum Beitrag:

Im zweiten Teil wiederholt der Autor die Gedanken, die in den von ihm sogenannten vier Momenten der sinnlichen Gewissheit schon enthalten waren.

Koch (2008, S. 139–144): Sinnliche Gewißheit und Wahrnehmung

Zitate

Wir suchen für die bunte Szenerie dessen, was uns der Fall zu sein scheint, eine Ontologie als Ersteingabe in die Bewusstseinsstruktur. Sie muss die einfachste kategoriale Konzeption sein, die noch durch keine anderen Konzeptionen vermittelt ist, sondern sich unmittelbar darbietet. Wir reflektieren also auf unser Alltagsbewusstsein, unser manifestes Weltbild, und klammern in Gedanken alle unsere begrifflichen Zutaten zu diesem Weltbild ein. Übrig bleibt eine Mannigfaltigkeit distinktiver Entitäten überhaupt (S. 139).

Was der Theoretiker durch Abstraktion aus unserem manifesten Weltbild als unmittelbares Wissen herausdestilliert, nennt Hegel die sinnliche Gewissheit. Wir können sie uns vielleicht als eine Mannigfaltigkeit Humescher Sinneseindrücke vorstellen. Diese Eindrücke sind distinkte Entitäten und sollen in ihrer Distinktion und Einzelheit unmittelbar epistemisch zugänglich sein (S. 140).

Im Szenarium der sinnlichen Gewissheit entfallen jedoch alle deskriptiven Differenzen zwischen Objekten und zwischen Subjekten als irrelevant. Deswegen kann die Bezugnahme auf Partikularien nicht denkend vollzogen, sondern, wie Hegel sich ausdrückt, nur „gemeint“ werden.

Soweit der Anfang des ersten Kapitels […], in denen Hegel untersucht, wie sich die sinnliche Gewissheit dem Theoretiker darstellt, […]. In der Folge betrachtet er sie als Bewusstseinsform eigenen Rechts und begibt sich auf ihren eigenen Standpunkt, und dies in drei Anläufen: unter dem Vorzeichen erstens des erkenntnistheoretischen Realismus, zweitens des Idealismus und drittens des neutralen Monismus (S. 141).

Die Differenz von An-Sich und Für-Es und der Differenz von Objekt und Subjekt ermöglichen eine Kombinatorik der Zuordnung. Zunächst wird das Objekt dem An-Sich und das Subjekt dem Für-Es zugeordnet. Das Objekt ist […] gesetzt als unmittelbares An-sich und das Subjekt als durch das Objekt bestimmtes Wissen. An sich soll es ein unmittelbares Einzelnes sein, worauf sich die sinnliche Gewissheit rein indexikalisch beziehen müsste, also mittels der reinen Indikatoren „hier“ und „jetzt“. (S. 141).

Jeder Zeitpunkt ist irgendwann der jetzige, und jeder Ort von irgendeinem Standpunkt aus der hiesige. So erweisen sich der Sinn von „jetzt“ und „hier“ als maximal allgemeine, durch Negativität vermittelte Gehalte, und wir kommen zu dem Ergebnis, dass der Gegenstand der sinnlichen Gewissheit, der an sich jeweils ein einzelner sein sollte, für das Bewusstsein ein undifferenziert allgemeiner ist. Die nominalistische Ontologie der sinnlichen Gewissheit hat eine ganz antinominalistische Epistemologie zur Folge, und damit ist die sinnliche Gewissheit, zumindest in ihrem ersten Stadium, falsifiziert.

Nachdem wir damit gescheitert sind, müssen wir es mit der Umkehrung versuchen. […] Sei also nun das Subjekt das unmittelbare, einzelne An-sich-Seiende und das Objekt das vermittelte Bloß-für-das Subjekt-Seiende. Das ist die idealistische Version der sinnlichen Gewissheit; aber auch sie liefert keine kategoriale Übereinstimmung. Denn das Subjekt erweist sich ebenfalls ein maximal Allgemeines und negativ Vermitteltes, weil es sich nur mittels des reinen Indikators „Ich“ auf sich beziehen kann, mit dem jedes Subjekt sich in völlig gleicher Weise auf sich bezieht.

Wir erreichen zu guter Letzt die Ebene eines angeblich vorpropositionalen Denkens und Anschauens. Das Reale soll nicht mehr in der Dualität von Objekt und Subjekt vorkommen, sondern soll im Sinne eines neutralen Monismus verstanden werden als weder subjektiv noch objektiv. Gleichwohl soll die Bewusstseinsdifferenz des An-Sich und des Für-Es auch hier noch greifen können, denn sonst könnte von einem Bewusstsein gar nicht mehr gesprochen werden. […] Das Bewusstsein soll mit seinem Gegenstand, einem Sinneseindruck, völlig identisch sein. Jetzt haben wir also nicht mehr ein Subjekt in Beziehung auf eine Mannigfaltigkeit von Objekten zu betrachten, sondern ein einzelnes, unmittelbares Erlebnis, das Objekt und Subjekt in einem ist.

Doch an dieser strengen Unmittelbarkeit und Einzelheit droht nun die bewusstseinskonstitutive Differenz von An-Sich und Für-Es zugrunde zu gehen, wenn wir sie nicht per Dekret äußerlich festhalten. […] Aber das Dekret scheitert an der Kontinuität von Raum und Zeit. […] Es gibt im Raum und Zeit nichts Einfaches, insbesondere keine logisch atomaren Sinneseindrücke. Das vermeintlich Einfache ist ein Mannigfaltiges, dessen Details der sinnlichen Gewissheit wiederum nur in höchst allgemeiner Weise gegeben sind.

Damit sind die Möglichkeiten, das Reale als unmittelbares Einzelnes aufzufassen, erschöpft und ist die sinnliche Gewissheit endgültig falsifiziert (S. 144).

Weitere Inhalte: Es wird nur auf Beispiele von Hegel Bezug genommen.

Bemerkungen zum Beitrag:

  • Der Autor hält sich eng an die Ausführungen von Hegel, die er durch Bezüge zu anderen Auffassungen, insbesondere von Hume, erläutert.
  • Während allerdings von Hegel die sinnliche Gewissheit bezüglich eines Gegenstandes als ein neuer Bestandteil des Denkens angesehen wird, stellt sie nach dem Autor eine durch einen Theoretiker herausdestillierte „Abstraktion aus unserem manifesten Weltbild als unmittelbares Wissen“ dar, wobei er als manifestes Weltbild das Alltagsbewusstsein bezeichnet. Die von ihm so beschriebene Ausgangskonstellation für die Betrachtungen zur sinnlichen Gewissheit bleiben unverständlich, insbesondere wird nicht klar, was er unter einem „Theoretiker“ versteht.

Ohashi (2008, S. 115–134): Die Tragweite des Sinnlichen

Zitate

Der Weg der Phänomenologie des Geistes beginnt bekanntlich mit der Stufe der sinnlichen Gewissheit. Dieser Abschnitt scheint im Hinblick auf den Grundcharakter des gesamten Weges der Phänomenologie des Geistes zunächst die unterste bzw. einfachste Stufe zu sein, die deshalb für die späteren Stufen nur wenig Bedeutung hat. Dagegen wird im folgenden die These vertreten, dass sich dies nicht so einfach verhält. Denn die sinnliche Gewissheit wird auf den entwickelteren Stufen der Wahrnehmung sowie des Verstandes und dann zusammen mit Wahrnehmung und Verstand auf den weiteren Stadien des Selbstbewusstseins, der Vernunft und des Geistes, bis hin zum absoluten Wissen als Moment wiederholt. All diese späteren Stufen haben erneut die Bewegung der sinnlichen Gewissheit zu ihrem Moment. […] Das gesamte Werk könnte sogar in einer gewissen Umkehrung als „Phänomenologie des Sinnlichen“ de-konstruiert werden (S. 115).

Die sinnliche Gewissheit ist das Bewusstsein, das den unendlichen Reichtum dessen, was in Zeit und Raum erscheint, im Ganzen zu besitzen meint (S. 116).

Der Übergang von der sinnlichen Gewissheit zur Wahrnehmung geschieht jedoch nicht so, dass das erste Stadium einfach verlassen würde. Denn der Gegenstand der Wahrnehmung zeigt sich dort als Ding von vielen Eigenschaften, wobei die Eigenschaften, kurz gesagt, das sinnliche Sein, somit der Inhalt dessen sind, was die sinnliche Gewissheit erfasst zu haben gemeint hatte. „Allein das sinnliche Sein und Meinen geht selbst in das Wahrnehmen über; ich bin zu dem Anfang zurückgeworfen und wieder in denselben, sich in jedem Momente und als Ganzes aufhebenden Kreislauf hineingerissen“ (TWA, S. 98) (S. 117).

Wie steht es nun mit der sinnlichen Gewissheit im Verstand? Ihre Wiederholung scheint nicht infrage zu kommen, da der Verstand das Allgemeine im Innern des Denkens, im Gesetz als dem Übersinnlichen sieht und den Bereich des Sinnlichen hinter sich lässt. Allerdings ist das Gesetz nicht das bloße jenseits des Sinnlichen, denn es wird erst vermittelst der sinnlichen Phänomene gewusst. „Das Übersinnliche ist das Sinnlich und Wahrgenommene, gesetzt, wie es in Wahrheit ist“ (TWA 3, S. 118). Der Verstand muss so erneut durch die sinnliche Gewissheit und die Wahrnehmung hindurch gehen, um das Innere der Dinge als das Allgemeine in Wahrheit erkennen zu können. Somit ergibt sich, dass alle Stufen des Bewusstseins den Prozess der Wiederholung der sinnlichen Gewissheit vollziehen (S. 118).

Zunächst ist auf das erste Wort des Abschnittes „Sinnliche Gewissheit“ aufmerksam zu machen: „Das Wissen, welches zuerst oder unmittelbar unser Gegenstand ist, kann kein anderes sein als dasjenige, welches selbst unmittelbares Wissen, Wissen des Unmittelbaren oder Seienden ist“ (TWA 3, S. 82). Hier fällt das Wort „Wissen“, dass dem „absoluten Wissen“ am Ende entspricht. Aber von noch entscheidenderer Bedeutung ist für unsere Betrachtung des Sinnlichen, dass das Sinnliche hier von Anfang an auf den Maßstab des „Wissens“ bezogen wird.

Es ist eigentlich gar nicht selbstverständlich, dass das Sinnliche im Hinblick auf die „Gewissheit“, als eine Gestalt des „Wissens“ angesehen wird. Das Sinnliche als der Bereich der aisthesis [Sinneswahrnehmung] hat eigentlich keinen Anspruch auf so etwas wie Gewissheit. Diese ist, philosophiegeschichtlich gesehen, der Anspruch des Wissens, den Descartes zuerst erhoben hat (S. 127).

Diese Pflege und Kultivierung des Ackers der Sinnlichkeit wird nun in der Phänomenologie des Geistes […] tatsächlich vollzogen – allerdings in verborgener Weise. Der Acker, der in dieser Weise gepflegt und bebaut wird, kann mit dem Namen des „Gemeinsinnes“ bezeichnet werden, obwohl dieser Name in der Phänomenologie des Geistes nicht vorkommt. Er ist der verborgene Bereich, der diesem Werk insgesamt zugrunde liegt (S. 129).

Diese Blickrichtung beginnt schon in dem der Wahrnehmung vorangehenden Abschnitt über „Sinnliche Gewissheit“. Die Notwendigkeit des Übergangs von dieser zur Wahrnehmung lag darin, dass, was die sinnliche Gewissheit gefasst zu haben meint, keine Allgemeinheit als Bedingung der Wahrheit besitzt. So wird jene Gewalt geübt, um das Sinnliche auf die Richtung des wahrheitsfähigen Wissens umzuwenden. Dadurch geschieht aber innerhalb des „Sinnlichen“ ein Ordnungswandel: Das Sehen erlangt den Vorrang vor den anderen Sinnen. Im Abschnitt über „Sinnliche Gewissheit“ kommt deshalb kein Beispiel von Riechen, Schmecken oder Tasten vor. Das Hören taucht nur einmal auf, stattdessen werden ständig Beispiele aus dem visuellen Feld gegeben. Dies hängt ohne Zweifel mit der Orientierung am Wissen zusammen. Denn das Sehen bildet das Charakteristische des Wissens, […] (S. 131).

Im Abschnitt über die sinnliche Gewissheit ist ein weiterer Sinnhorizont des Gemeinsinnes zu erblicken, der nun als gemeinschaftlicher Sinn bestimmt wird. Das Bewusstsein der sinnlichen Gewissheit ist ein Ich. Dieser Ich sieht den Baum und behauptet, dass Hier sei der Baum. „ein anderer Ich sieht aber das Haus und behauptet, dass Hier sei nicht ein Baum, sondern vielmehr ein Haus“ (TWA 3, S. 86). Dieser „andere Ich“ hat zwar noch keine Bestimmung des Geistes, der mit „diesem“ Ich eine Gemeinschaft bildet. Er schließt aber auch nicht diese Bestimmung aus. Auf dieser Stufe kann gesagt werden, dass dieser „andere Ich“ ebenfalls der Unmittelbarkeit des Sehens gewiss ist wie „dieser Ich“. Hier wird schon die Auseinandersetzung zwischen einem seiner Selbstständigkeit bewussten Geist mit dem anderen Geist angelegt, die bald im Abschnitt über „Das Selbstbewusstsein“ ans Licht kommt (S.132).

Weitere Inhalte

Die Überlegungen zur sinnlichen Gewissheit werden bis zum absoluten Wissen und dem Geist weitergeführt.

Es werden im Zusammenhang mit der sinnlichen Gewissheit nur Beispiele von Hegel herangezogen.

Bemerkungen zum Beitrag:

Der Beitrag enthält zahlreiche problematische Formulierungen und Gedanken, von denen hier nur einige angeführt werden.

  • Die Bewusstseinsgestalt der sinnlichen Gewissheit kann nicht als das Bewusstsein bezeichnet werden, das meint den unendlichen Reichtum dessen, was in Zeit und Raum erscheint, im Ganzen zu besitzen. Das Bewusstsein richtet sich auf ein konkretes Objekt, von dem es meint durch seine Sinneseindrücke vollständige Gewissheit zu haben.
  • Die Tatsache, dass sinnliche Wahrnehmungen auch bei den weiteren Bewusstseinsgestalten eine Rolle spielen, berechtigt nicht zu der Feststellung, dass die Gestalt der sinnlichen Gewissheit wieder erneut eine Rolle spielt. Der Stand (die Gestalt) der sinnlichen Gewissheit ist überwunden, da sie sich nicht als das Wahre erwies.
  • Im Zitat von Hegel „Das Übersinnliche ist das Sinnlich und Wahrgenommene, gesetzt, wie es in Wahrheit ist.“ Geht es um das Sinnliche und nicht um die sinnliche Gewissheit, wie auch die Fortsetzung zeigt: „Die Wahrheit des Sinnlichen und Wahrgenommene aber ist, Erscheinung zu sein“.
  • Man kann die Formulierungen im ersten Satz des Abschnitts sinnliche Gewissheit nicht so deuten, dass von Hegel das Sinnliche als eine Gestalt des Wissens angesehen wird. Der Autor stellt im nächsten Satz selber fest, dass das Sinnliche keinen Anspruch auf so etwas wie Gewissheit hat. Anspruch auf Wissen, der sich dann als nichtig erweist, hat bei Hegel die sinnliche Gewissheit.
  • Das Wort „Wissen“ entspricht nicht dem Terminus „absoluten Wissen“.
  • Eine Ursache für die Probleme, die mit dem proklamierten Gemeinsinn als verdecktes Merkmal der Phänomenologie des Geistes verbunden sind, könnte die unzureichende Beachtung der mehrfachen Bedeutung des Wortes „Sinn“ sein. Sinn bezeichnet einmal ein Sinnesorgan (die fünf Sinne des Menschen) und hat in dieser Bedeutung Bezug zum Adjektiv sinnlich, und zum anderen steht sind für Verständlichkeit, Aufgeschlossenheit für etwas. Diese Bedeutung hat es eine Wortverbindung „Gemeinsinn“.
  • Das Sehen hat sicher den höchsten Anteil an den Arten der sinnlichen Wahrnehmung zum Aufbau von Wissen, es kann aber nicht als das Charakteristische des Wissens bezeichnet werden. Bei einem Weinverkoster spielen Geruch und Geschmack wohl die entscheidende Rolle.
  • Aus den Formulierungen von Hegel „Ich, dieser“ und „ein anderer Ich“ kann nicht geschlossen werden, dass es sich um ein gemeinschaftliches Erkennen handelt. Gemeint ist offensichtlich, dass verschiedene Personen unterschiedliche sinnliche Gewissheiten in einer gleichen Situation haben können. Ein typisches Beispiel ist die Beschreibung eines Verkehrsunfalls von verschiedenen diesen Unfall beobachtenden Personen, deren Darstellung sich oft unterscheiden.

Schmieder (2004, S. 39–57): Hegels Kritik und Feuerbachs Rehabilitierung der sinnlichen Gewißheit in fotografietheoretischer Sicht

Zitate

Das Sein, mit dem sich Hegel am Beginn seiner Phänomenologie und Logik auseinandersetzt, ist, wie Feuerbach kritisch herausstellt, nicht das wirkliche, konkrete Sein, sondern nur die Idee ihrer Unmittelbarkeit. Es ist das Denken, dass „im Unterschiede von sich als die Tätigkeit des Vermittelns, das Sein als das Unmittelbare, nicht Vermittelte [bestimmt]“ (Feuerbach 1982, S. 303). Die Entgegensetzung von Denken und Sein bleibe so eine Entgegensetzung innerhalb des Denkens; das Sein im Gegensatz zum Denken ist bei Hegel selbst wiederum nur ein Gedachtes. Die Hegelsche Philosophie trifft deshalb der Vorwurf, die Wirklichkeit immer nur auf eine vermittelte Weise, präokkupiert durch den vorausgesetzten Begriff, angeschaut zu haben (S. 42).

Feuerbach wendet gegen Hegels Identitätsphilosophie ein, dass das dem Denken entgegengesetzte nicht wieder das Denken selbst, sondern nur etwas sein kann, das qualitativ vom Denken unterschieden und von dem das Denken fundamental abhängig ist (S. 43).

Hegel erkenne zwar die Wahrheit der Sinnlichkeit an, aber aufgrund seiner Voraussetzung des Begriffs kann ihm diese „nur im Zwielicht der Reflexion“ (Feuerbach 1982, S. 323), auf eine mittelbare Weise, nur durch die Negativität der Begriffsform hindurch erscheinen. Gegen diese bloß indirekte Anerkennung der Wahrheit der Sinnlichkeit geht Feuerbach mit der Umkehrmethode vor, [[…]]. Wird bei Hegel die Sinnlichkeit zu einem Prädikat der Idee und die Idee zum Subjekt des Prozesses gemacht, brauche man Feuerbach zufolge nur alles umzukehren und die Wahrheit der Hegelschen Philosophie sei gefunden. Statt der Idee wird das Reale, das Sinnliche „zum Subjekt seiner selbst“ gemacht, ihm komme „absolut selbstständige, göttliche, primative, nicht erst von der Idee abgeleitete Bedeutung“ (Feuerbach 1982, S. 315) zu (S. 44).

Feuerbach aber setzt nicht nur das Unmittelbare dem Denken voraus und verteidigt gegen den Idealismus das Primat des Objekts, sondern er spricht dem Unmittelbaren – und zwar im Gegensatz zum Denken bzw. zur Vermittlung – zu, das Wahre zu sein: „Alles ist vermittelt, sagt die Hegelsche Philosophie. Aber wahr ist etwas nur, wenn es nicht mehr ein Vermitteltes, sondern ein Unmittelbares ist“ (Feuerbach 1982, S. 321). Damit hat Feuerbach den Begriff, der kritisch gegen Hegel gewendet den Bruch mit der Spekulation eingeleitet hat, mit einer neuen Bedeutung aufgeladen. Andreas Arndt hat diese Wende treffend dargestellt: „Die Unmittelbarkeit erhält hier nicht bloß die Bedeutung der Antithese oder Negation der Vermittlung im Denken, ist nicht bloß negativer Begriff als das vom Denken Un-vermittelte, sondern erhält eine positive Bedeutung als eine von der Reflexion getrennte aparte Sorte der Selbstvermittlung. Sie wird von der Unmittelbarkeit für ein bestimmtes, d. h. endliches Denken zur Unmittelbarkeit an sich“ (Braun 1990, S. 511) (S. 44).

Damit gerät Feuerbach nach Arndt in konzeptionelle und terminologische Schwierigkeiten (S. 45).

Weil die sinnliche Gewissheit das Besondere dieses, dass sie meint, nicht aussagen kann, und sich immer der Sprache, und damit eines Allgemeinen bedienen muss, kommt Hegel zu dem Schluss, dass „das Allgemeine das Wahre der sinnlichen Gewissheit“ (TWA 3, S. 85) ist und das, „was das Unaussprechliche genannt wird, nichts anderes ist als das Unwahre, Unvernünftige, bloß Gemeinte“ (TWA 3, S. 92).

Feuerbach erhebt gegen diese Behandlung der sinnlichen Gewissheit entschiedenen Protest. Zwar sieht auch er, dass das Einzelne sich nicht sagen lässt, aber diese Unmöglichkeit des Aussagens des Einzelnen bedeutet für ihn nicht, dass der Gegenstand ein bloß subjektiv vermeinter ist. Feuerbach macht Hegel den Vorwurf, sich nicht wirklich in das sinnliche Bewusstsein hineingestellt und hineingedacht, sondern das sinnliche Bewusstsein nur so zum Gegenstand gemacht zu haben, wie es Gegenstand des Gedankens ist.

Der zentrale Einwand, den Feuerbach gegen Hegel erhebt, ist der, auf dogmatische Weise die Wahrheit des Begriffs vorausgesetzt zu haben, so dass Hegel letztlich nicht aus dem Denken herauskommt zum wirklichen, konkret bestimmten Sein. Um zu diesem konkreten Sein hinzukommen, bedarf es Feuerbach zufolge des Rückgangs auf die sinnliche Anschauung, die dem Denken erst den Stoff für seine Arbeit liefert und an der das Denken seine Wahrheit auszuweisen hat. Erst die sinnliche Anschauung führt auf das Substrat zurück, das jedem Denken vorausgesetzt ist: auf die Natur und auf die Leiblichkeit. „Nur durch die Sinne wird ein Gegenstand im wahren Sinne gegeben, nicht durch das Denken für sich selbst. Das mit dem Denken gegebene oder identisch Objekt ist nur Gedanke. Wo kein Sinn, ist kein Wesen, kein wirklicher Gegenstand (Feuerbach 1982, S. 316) (S. 47/48).

Feuerbach hat in seiner Auseinandersetzung mit Hegel die zentrale Schwäche von dessen Philosophie, die identitätsphilosophische Bestimmung des Verhältnisses von Denken und Sein, erkannt und der Kritik unterzogen. Andererseits bleibt Feuerbach bei der Anschauung, der Affirmation des Unmittelbaren stehen, die, wie oben gesehen, von der Reflexion abgekoppelt und im Gegensatz zum Denken aufgefasst wird (S. 48).

Von vielen – insbesondere marxistischen – Autoren ist Feuerbachs Stehenbleiben bei der Anschauung bzw. sein Fixieren der Unmittelbarkeit als Ausdruck der Befangenheit eines bürgerlichen Denkers, der die materiellen Voraussetzungen der Herrschaft der Sprache entzieht und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft mit Schweigen belegt bzw. ästhetizistisch verklärt. Zweifellos ist mit der These, dass Feuerbachs erkenntnistheoretische Befangenheit letztlich eine klassenpolitische sei, ein wichtiger Aspekt der neuen Anschauung berührt. Allerdings ist die Problematik mit dem Hinweis auf die klassenpolitische Dimension noch nicht erschöpft. Wird Feuerbachs Bestreben, ein Bedürfnis der zeitgenössischen Praxis zu erfüllen und mit seiner Proklamation einer neuen Anschauung bzw. eines neuen Sehens nur das theoretisch nachzuvollziehen, was in der Praxis längst Wirklichkeit ist, ernstgenommen, dann lässt sich sehen, dass Feuerbachs Unternehmen die Dinge „im Original, in der Ursprache“ (Feuerbach 1982, S. 326) zu erfassen, als theoretischer Reflex auf das neue Medium Fotografie zu verstehen ist, das im Jahre 1839 – im Jahr von Feuerbachs erster Hegelkritik – erfunden worden ist und das möglich macht, was unter den Bedingungen des bisherigen menschlichen Erfahrungsmethoden nicht möglich war, nämlich die Wirklichkeit ohne Humanisierungsprozess, ohne unsere humanisierende Umdeutung bzw. [[…]] ohne Zwischenschaltung eines Denkens sich selbst abbilden zu lassen. Die Kamera als ein Apparat zur Fixierung des Besonderen dokumentiert das Sosein und das Dasein der Dinge, sie enthält das Unaussprechliche, Einmalige, das dem Begriff verschlossen ist, fest (S. 50).

Weitere Inhalte

Es gibt nur einige wenige Bezüge zu Beispielen von Hegel.

Bemerkungen zum Beitrag

  • Im Beitrag von Schmieder werden die unterschiedlichen Auffassungen von Hegel und Feuerbach lediglich dargestellt und in Beziehung gesetzt, ohne sie einer gründlichen Analyse zu unterziehen. So sind bereits die Ansichten von Feuerbach, dass Hegel das Sein nur als ein Gedachtes fasst, nicht zutreffend. Der Autor ist offensichtlich der Meinung, dass Feuerbach mit seiner prinzipiellen Kritik an Hegel recht hat, sodass eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung gar nicht möglich ist.
  • Die Diskussion zum Primat des Objektes geht an den Gedanken von Hegel vorbei. Hegel interessieren die Beziehungen zwischen dem Gegenstand und seiner Wahrnehmung durch das Subjekt.
  • Die Idee des Autors, das Phänomen der sinnlichen Gewissheit mit der Fotografie in Verbindung zu bringen ist aus mehreren Gründen problematisch. Eine Fotografie ist zum einen nur bei gegenständlichen Objekten mit einer sichtbaren räumlichen Ausdehnung möglich. Prozesse oder mentale Objekte lassen sich nicht fotografieren. Selbst bei einem gegenständlichen Objekt ist die Fotografie zweidimensional und enthält nicht alle Informationen über das Objekt.

Ostritsch (2020, S. 98–104): Hegel. Der Weltphilosoph

Zitate

Was ist die einfachste Art und Weise, auf ein Gegenstand Bezug zu nehmen? Nun, aufzuzeigen und zu sagen: „Dieser da!“ Als „dieser da!“ scheint der Gegenstand unmittelbar gewiss. Es ist, als wäre er dem Bewusstsein ohne Umwege sinnlich präsent. Dieser Gegenstand da wird schließlich unmittelbar gehört, gesehen, empfunden etc.

Sobald man nun aber diese Gestalt des Bewusstseins bittet, ihr Modell von Wissen und Wahrheit näher zu erläutern, gerät sie in Schwierigkeiten (S. 98).

Die Erfahrung, die die Bewusstseinsgestalt der sinnlichen Gewissheit bisher gemacht hat, lässt sich so zusammenfassen: Sie meint einen einzelnen Gegenstand, nämlich diesen, jetzt. Aber die Sprache erlaubt es dem Bewusstsein nicht, zu sagen, was es meint, denn der Ausdruck dieser Gegenstand jetzt ist ein ganz allgemeiner Ausdruck, der auf jeden Gegenstand zutreffen kann. Sprachliche Ausdrücke sind immer allgemein und deshalb, so Hegel, „ist es gar nicht möglich, dass wir ein sinnliches Sein, das wir meinen, je sagen können“ (TWA 3, S. 85) (S. 100).

Ein letzter Ausweg für die Bewusstseinsgestalt der sinnlichen Gewissheit scheint sich aufzutun: Wenn die Wahrheit weder auf der Seite des Gegenstandes noch auf die Seite des Ich fällt, müssen Ich und Gegenstand als eine unzertrennliche Einheit verstanden werden. Beide, Ich und Gegenstand, sind in einem Ereignis unmittelbarer Gewissheit miteinander verschmolzen. Jeder Vergleich mit einem anderen Gegenstand oder einem anderen Ich verbietet sich dadurch. Die sinnliche Gewissheit ist eine höchst private Angelegenheit, die keine Blicke von außen zulässt.

Aber auch für dieses in sich verkapselte private Gewissheitsereignis entspinnt sich die bereits bekannte Dialektik (S. 102).

Damit nun aber hat sich das Bewusstsein der sinnlichen Gewissheit endgültig selbst überholt: Wissen und Wahrheit […] sind niemals etwas bloß Atomares, schlechthin Einzelnes, sondern immer schon „ein Allgemeines“ (TWA 3, S. 92). Die Eigenschaften, die ein Gegenstand zu dem machen, was er ist, sind allgemein, weil sie auch anderen zukommen können (S. 103).

Weitere Inhalte

Es gibt nur Bezüge zu Beispielen von Hegel.

Bemerkungen zum Beitrag

Der Autor bleibt eng an der Darstellung von Hegel und verwendet dessen Formulierungen sowie Argumentationen.

Pirmin Stekeler-Weithofer (2014, S. 415–478): Hegels Phänomenologie des Geistes

Beschreibungen und Zitate

Aufgrund des Umfangs von 64 Seiten, in denen auch der gesamte Text von Hegel von etwa zehn Seiten enthalten ist, sowie der zahlreichen diskutierten Probleme erfolgt neben Zitaten eine Beschreibung des Inhalts.

Bevor der Autor mit seinen Kommentaren zu dem abschnittsweise wiedergegebenen Text von Hegel beginnt, diskutiert er auf 30 Seiten mehrere Probleme, die in Beziehung zu Hegels Text stehen. Dabei geht er ausführlich auf Auffassungen anderer Philosophen ein.

Zu Beginn charakterisiert er das generelle Anliegen des Abschnitts zur sinnlichen Gewissheit und gibt bereits einige Ergebnisse seiner späteren Überlegungen an.

„Thema des Abschnitts zur sinnlichen Gewissheit ist, […], eine Kritik der Idee, wir könnten bei der Entwicklung eines richtigen (wahren oder vernünftigen) Verständnisses unserer selbst und unserer Lage in der Welt ausgehen von unseren je eigenen unmittelbaren ‚Erfahrungen‘ und ‚Selbsterfahrungen‘, unter Einschluss von ‚Empfindungen‘, die wir als eine Art unmittelbares Gefühl in uns zu finden meinen“ (S. 415).

„Die zunächst negative Kritik an jeder vermeintlichen Unmittelbarkeit wird zu einer positiven Einsicht, die man so artikulieren könnte: jeder Bezug auf ein Dieses setzt die Unterscheidung von einem Anderen und damit eine wenigstens rudimentäre räumliche Anschauung voraus, […]“ (S. 415)

Räumliche Anschauung in diesem vollen Sinne setzt zum Beispiel schon immer eine gemeinsame Praxis des Perspektivenwechsel auf denselben Gegenstand meiner oder deiner, also unserer, Anschauung voraus. Vorausgesetzt sind empraktische Bestimmungen dafür, wie wir uns auf dasselbe Objekt oder Ding in einer gemeinsamen Anschauung beziehen können, und was es heißt, dabei von ‚meiner‘ bzw. von ‚deiner‘ Anschauung zu sprechen“ (S. 416).

Er diskutiert dann den Zusammenhang von Wahrnehmen und Denken.

„All unser Wahrnehmen und Erfahren ist vermittelt durch unsere Sinne und dann auch durch unsere Erinnerungen, Assoziationen. Insbesondere aber ist es vermittelt durch unser Denken. […] Semantisch wohl bestimmte Gegenstände der Empfindungen gibt es aber nicht, und zwar weil es überhaupt keine Gegenstandsform ohne begriffliche Bestimmungen des zugehörigen (vorzugsweise sortalen) Gegenstandsbereiches (mit wohldefinierter Ungleichheit oder Verschiedenheit der Gegenstände und einer entsprechenden Gleichheit) gibt“ (S. 416/417).

Ausführlich setzt er sich dann mit dem Szientismus und speziell dem Physikalismus auseinander und wirft dabei generelle Fragen auf.

„Woher wissen wir, erstens dass das, was die ‚Physik‘ sagt, oder die Physiker sagen, die absolute Wahrheit ist, zweitens dass das, was die Physikalisten sagen, nämlich dass die Physik am Ende auch alle wirklichen Wahrheiten enthält, wahr ist?“ (S. 418).

Er prangert die dogmatische Haltung des Szientismus an, wie sie durch Sellars und Quine vertreten wird, aber auch schon bei Hobbes und Locke angelegt und auch bei Hume zu finden ist. Man kann nur Wirkungen erkennen, keine Ursachen wie etwa Kräfte. Theorien sind Modelle der Erklärung von realen Prozessen, sie können nicht auf Sinne wirken. „Kräfte sind ja von uns gesetzte ‚Dispositionen‘, also modale Begriffe. Sie sind gerade als solche modelltheoretische ‚Entitäten‘, mit deren Hilfe wir Normalbewegungen darstellen und dadurch ursächlich erklären. Die Wirklichkeit dieser theoretisch gesetzten Ursachen besteht nur in ihren Wirkungen“ (S. 422).

Er wirft dann die Frage auf: „[…], wie können wir mit den Methoden der Wissenschaft und durch ihr theoretisches Wissen informiert zwischen Sein und Schein, Wirklichem und bloßer Phantasie unterscheiden? […] Man wird am Ende das sagen müssen, was Hegel schon gesagt hat. Die Wissenschaft ist die Instanz gemeinsamer Praxis, in der wir jeweils beurteilen, was als Wissen oder als wahr gelten kann, wobei die Wissenschaft selbst die Maßstäbe der Urteile liefert“ (S. 424)

Er weist dann auf das Problem der unterschiedlichen Bedeutung des Wortes „Wissenschaft“ im deutschen und „science“ im englischen hin. „Wissenschaft enthält alles Wissen, auch dass der Geisteswissenschaften über Geschichte und Kultur, über Institutionen wie die Wissenschaften selbst und deren Logik in der Philosophie. Im englischen Sprachraum gibt es keine Geisteswissenschaft. In den sciences weiß man daher gar nicht, was das überhaupt ist: Wissenschaft. Leider wirkt sich das auch auf das Unbewusstsein von Naturwissenschaften hierzulande aus. Das zeigt sich übrigens insbesondere im naiven Fehlverständnis des logischen Status des Mathematischen. Denn Mathematik ist wie die Sprachwissenschaft oder die formale Logik eine Geisteswissenschaft“ (S. 424/425).

Er diskutiert dann das Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung und allgemeinem Wissen, dass aus seiner Sicht von Hegel begrifflich klar unterschieden wurde. Er ist der Ansicht, dass sich alle Wissenschaftler in folgendem Dilemma befinden: „einerseits ist, wie der Empirismus mit Recht feststellt, jeder Bezug auf Dinge der Welt über die Sinne vermittelt. Andererseits liefert die Sinnesempfindung keinen verlässlichen Zugang zur Welt, schon gar nicht zu den Dingen, wie sie ‚an und für sich‘ sind [..] und nicht bloß in Beziehung auf uns erscheinen. Die Sinnesempfindung verbindet uns also nicht unmittelbar mit den wirklichen Dingen der wirklichen Welt […], sondern ist fallibel, irrtumsanfällig. Um aber fallibel und irrtumsanfällig zu sein, bedarf es der Möglichkeit eines korrigierenden Wissens. Das aber kann seinerseits nicht unmittelbar sein. Die Sinne sind dabei immer nur eine Instanz der Vermittlung. [..] Jedes Wissen, gerade auch Wahrnehmungswissen […] Ist begrifflich ‚informiert‘, wie Terry Pinkard so schön sagt. Damit ist es ‚theoretisch‘ geformt, was bekanntlich auch Quine betont. An dieser Diagnose ist nicht sinnvoll zu zweifeln. Es ist daher in der Folge die subjektive Perspektivität und die begriffliche Formung jedes Erkenntnisanspruchs, der von einer Person erhoben wird, nicht etwa infrage zu stellen, sondern als basale Tatsache anzuerkennen“ (S. 425/426).

Die Armut und Bestimmungsleere der Sinnesempfindung verdeutlicht er am Beispiel der Situation, dass man morgens aufwacht und noch nicht weiß, was man alles sieht.

Er diskutiert dann mit Bezug auf Hegel den deiktischen Gebrauch des Wortes „dies“. Das „Ansichsein des Bezugsgegenstandes, sein Genus, [muss] schon bekannt sein […]; und eben das ist die zentrale Einsicht Hegels. [..] Das kleine Wort ‚dies‘ ohne Genus-Angabe kann also nie unmittelbar auf etwas Bestimmtes referieren. Sein Bezug ist immer schon anaphorisch.“ (S. 428/429).

Genauso wie das Wort „dies“ hat auch das Wort „ich“ keinen unmittelbaren Referenten, was anschließend ausführlich erörtert wird (S. 430-432).

Zusammenfassend stellt Stekeler in Bezug auf den Gebrauch deiktischer Ausdrücke fest: „Sinn und Bedeutung (Bezug) von Ausdrücken wie ‚ich‘, ‚dies‘, ‚hier‘ und ‚jetzt‘ sind nie unmittelbar, sondern immer schon vermittelt. Sie haben nur Sinn im Kontrast zu einem ‚du‘ und ‚das‘, ‚dort‘ und ‚dann‘. Es sind auch keine Namen, wie Hegel bemerkt. Schon dadurch ist der Selbstbezug im ‚ich‘ nicht unmittelbar. D. h., die Pronomina haben eine allgemeine Bedeutung. Einen konkreten Bezug aber haben sie nur im Kontext aktueller Sprech- oder Denkhandlungen, in Reden mit anderen Personen oder in Rollenspielen mit sich selbst“ (S. 433).

„Das, was unmittelbar je bloß von mir empfunden oder perzipiert wird, das kann weder gezeigt, noch gesagt werden. Denn zeigen können wir nur, was uns gemeinsam zugänglich ist. Aber auch sagen können wir nur Allgemeines. Alle Wahrheit ist auf die eine oder andere Weise allgemein. Alles Wissen ist allgemein. Das gilt auch für ein empirisches Wissen über etwas Einzelnes, etwa den Eiffelturm: Wir können uns gemeinsam auf dieses Gebäude beziehen, und zwar auf seine je besonderen und eben damit auch allgemeinen Eigenschaften oder Charakteristika“ (S. 434/435).

„Es folgt allerdings, dass es keine Wahrheit und kein Wissen im reinen Ich-Modus gibt, dass Wissen und Wahrheit von einer allgemeinen Anerkennbarkeit, faktisch von einem allgemein anerkannten Erfolg kooperativen Urteilens und Handelns abhängt. Entsprechendes gilt für das ethisch-moralisch Gute“ (S. 438).

Die dargestellten Zusammenhänge haben erhebliche Auswirkungen auf die Anerkennung empirischer Wahrheiten. „Kurz, keine empirische Wahrnehmung kann die allgemeinen logischen und materialbegrifflichen Präsuppositionen infrage stellen, welche im jeweiligen empirischen Wissen als definierende Geltungsbedingungen schon als bekannt und beherrscht vorausgesetzt werden. Da zu den materialbegrifflichen Voraussetzungen des Sinnes empirische Aussagen immer auch schon ein generisches Normalfallwissen gehört, ergibt sich eine komplexe methodische Stufung des Sinns empirische Aussagen. Sie hat zur Folge, dass wir immer sehr genau hinschauen müssen, inwieweit und wie empirische Aussagen allgemeines Wissen widerlegen können, und inwieweit die empirischen Aussagen ohne die Voraussetzung des allgemeinen Wissens sinnlos wären. Es ist die Stufung des Begrifflichen und Empirischen, die hier so prekär ist und welche in den Sachwissenschaften notorisch in ihrer Bedeutung gerade auch für die Grenzen eines so oder so verfassten empirischen Wissens unterschätzt wird“ (S. 443/444).

Ein weiteres Problem, das nach Meinung von Stekeler den Abschnitt zur sinnlichen Gewissheit tangiert, ist das Verhältnis von Kausalität und Freiheit. „Das rechte immanente Verständnis von Kausalität und Freiheit ist daher auch das zentrale Problem von Hegels systematischer Philosophie, die sich nicht bloß hier, sondern auch in ihren ethisch-praktischen Erwägungen als eine echte, nicht bloß […] oberflächliche oder erbauliche Philosophie der Freiheit darstellt. Diese Lesart Hegels stelle ich schon jetzt klar und deutlich den üblichen Lesarten entgegen, welche in der Regel das Problem der Freiheit maßlos unterschätzen. Denn angesichts der Erklärungsansprüche der Naturwissenschaften und angesichts des Wissens über die Prägungen von Personen durch ethische Traditionen und einer Einsicht in die Konservativität des Verstandes als bloßer Fähigkeit zur rechten Befolgung vorgegebener Regeln und Schematismen bedarf es einer weit genaueren Erklärung der Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Freiheit, als sie Kant zu liefern in der Lage war. Eine solche fehlt auch noch bei John Stuart Mill und später bei Bertrand Russell. Das Hohelied der Freiheit kann man leicht singen, wenn man die Probleme der Ansprüche naturkausaler Erklärungen nicht hinreichend ernst nimmt. Hier bedarf es der Widerlegung verschiedener ‚empiristischer‘ Vorstellungen, zum Beispiel auch der von einem absolut sicheren Anfang des Wissens in der sinnlichen Gewissheit – ohne jeden Vorgriff auf die spätere Frage nach den ‚Ursachen‘ und ‚Grenzen‘ dieser Gewissheit (S. 444/445).

In den direkten Kommentaren zu Hegels Text erläutert der Autor auch die Besonderheiten der Sprechweise von Hegel.

„Um im Folgenden nicht immer sagen zu müssen, dass ich oder wir über das sprechen, was mir oder uns hier und jetzt als gewiss oder als dieser oder jener Gegenstand sinnlich unmittelbaren Wissens erscheint, benutze auch ich hier, wie Hegel, gelegentlich die Titelausdrücke ‚das Hier‘ und ‚das Jetzt‘; ‚das Ich‘ auch ‚das Wir‘ und ‚dass Dies‘. Diese Ausdrucksweisen der mehrstufigen Reflexionssprache ermöglichen abkürzende Verweise und über die Nominalisierung auch entsprechende prädikative Kommentare. Es sind ihnen dann allerdings vom Leser immer entsprechend passende Objektaussagen zuzuordnen. Hegel meint also keineswegs, wie mancher glauben mag, dass es ein Ich oder Wir ‚gibt‘ oder ein Dieses oder ein Hier. Die beiden Ausdrücke ‚das reine Ich‘ und ‚das reine Dies‘ stehen also gewissermaßen bloß für zwei formale oder logische Momente einer Zeige- und Sprechhandlung, die reine Performation und das reine Zeigen“ (S. 447/448).

„Es geht hier um die Unterscheidung zwischen unseren Kommentierungen der üblichen Vorstellungen von der sinnlichen Gewissheit und dem, was die sinnliche Gewissheit selbst ist. Bedeutsam ist dabei, erstens, dass Hegel sich der Stufung und reflektierender Überlegungen absolut bewusst ist, und dass er, zweitens, zwischen Kommentaren von ‚außen‘ und Argumenten aus einer Binnenperspektive unterscheidet“ (S. 449).

Der Autor stellt Fragen zum Status der sinnlichen Gewissheit und dem Reden über sie: „Wie also kann ein Gegenstand in der sinnlichen Gewissheit unmittelbar erscheinen? Und wie erscheint er dem Theoretiker, der über ihn redet und die Erscheinungen der sinnlichen Gewissheiten teils erklären, teils als angeblich irrtümlich aufheben möchte?“ (S. 450)

Ausführlich kommentiert er den Satz von Hegel: „Das Jetzt ist die Nacht.“ und die sich daran anschließenden Überlegungen. „Der Satz ist, wie gesagt, als mehrstufiger, formenanalytischer oder reflexionslogischer Merksatz oder Kommentar zu lesen. Hegel sagt also keineswegs, dass es je objektstufig einen Sinn hätte zu sagen ‚Das Jetzt ist die Nacht‘. Der Satz sagt vielmehr: Wenn es darum geht, zu bestimmen, was die begrenzte Extension des Wörtchens ‚jetzt‘ im konkreten Beispiel ist, könnte die Antwort lauten ‚jetzt ist Nacht‘ oder ‚das Wort ‚jetzt‘ bezieht sich auf diese Nacht‘. Man denke zum Beispiel an den Satz, den die Engel den Hirten zu Weihnachten geäußert haben mögen: ‚dies ist die Nacht, es wird heute, jetzt gerade, der Heiland geboren‘ – und daran, dass die Geburt eine Weile dauert, sodass das Wort ‚jetzt‘ nicht etwa auf einen Augenblicksmoment verweisen kann, wie man meinen würde, wenn man von dem je relevanten Prozess abstrahierte“ (S. 451).

„Da die sinnliche Gewissheit nicht unmittelbar einen bestimmten Gegenstand erkennen kann, ist die Bestimmung dessen, was wir meinen, sinnlich unmittelbar wahrzunehmen, durch ein willkürliches Meinen bestimmt. Unmittelbar ist also nicht der Gegenstandsbezug, sondern der Akt des Meinens. Wegen seiner Beliebigkeit oder Willkür führt dieser aber nicht unmittelbar zu einem Wissen, selbst wenn er durch das Gefühl der Gewissheit begleitet ist. Wir müssen daher zwischen einem performativen Urteilsvollzug und seinem Inhalt unterscheiden, genauer zwischen erstens der versicherten Behauptung, dass eine allgemeine Geltungsbedingung erfüllt ist, zweitens, der Geltungsbedingungen selbst in ihrer allgemeinen Bestimmtheit und, drittens, (der Bewertung) ihrer wirklichen Erfüllung (durch uns, nicht bloß durch mich)“ (S. 456).

„Während man zunächst gedacht hatte, man könne einen Gegenstand sinnlich unmittelbar wahrnehmen, ist jetzt klar, dass ein bestimmter Gegenstand nur durch ein begriffliches Denken und Urteilen vermittelt gegeben ist – sodass die sinnliche Wahrnehmung erst in einer zweiten Runde daran beteiligt ist, zu prüfen, ob der so bestimmte Gegenstand wirklich vorliegt. Unmittelbar also ergeben sich aus dem sinnlichen Kontakt mit der Umwelt bloß erst einige mögliche Urteile oder Meinungen in Bezug auf die mögliche begriffliche Bestimmung des Wahrgenommenen“ (S. 457).

„Die Bestimmung des Gegenstandes geschieht im Meinen. Das Meinen kann nahegelegt sein durch das Empfinden oder Perzipieren. Aber es liefert als solches bloß ein Möglichkeitsurteil. Jede Versicherung artikuliert bloß erst eine Möglichkeit“ (S. 458).

Erneut erfolgen Betrachtungen zum Wesen des Ich: „Ich kann nicht sagen, wer oder was das Ich ist, auf das ich mich mit dem Wort ‚ich‘ beziehe. Ich kann bestenfalls die Stimme erheben oder auf meine Brust und damit meinen Leib zeigen. Der Bezug des Wortes ‚ich‘ zeigt sich dabei im Kontrast zu den anderen, die auch ‚ich‘ sagen, also zu dir oder ihm (S. 459).

Zu der Feststellung von Hegel, dass es unmöglich ist zu sagen, welches dieses Ding oder welchen diesen Ich ich meine, kommentiert der Autor: „Es ist nicht möglich, sich auf ein bloß einzelnes ‚dieses Ding‘ zu beziehen, ohne begriffliche Bestimmung, was für ein Gegenstand es ist. Dies gilt nicht bloß für den Versuch, sprachlich zu referieren. Auch ein auf ein Ding spezifisch gerichteter Handlungsbezug ist nicht möglich, wenn es der allgemeinen Spezifik mangelt. Macht man sich klar, dass die Bestimmungen des Dinges im allgemeinen, an sich, eine Bestimmung durch uns ist, dann versteht man, dass und in welchem Sinn ein ‚absolut Einzelnes‘ nicht ‚existiert‘ ohne Unterscheidung, von welcher Art oder Genus es ist, was es also generisch oder eben an sich ist, wie es überzeitlich und perspektivenüberschreitend uns gegeben ist und wie sein Fürsichsein zu verstehen ist, also die Äquivalenzrelation zwischen den Erscheinungen, welche die Identität des Gegenstandes definieren“ (S. 460).

Diese Gedanken beschreibt er dann in einer formalen Form mit Variablen und stellt fest: „Hegel musste die enorme Schwierigkeit meistern, diese Einsichten in einer von ihm eigens entwickelten Prosa oder Sprechweise zu erläutern, ohne den Notationen, die wir heute, nach Frege und der Entwicklung logischer Konventionen etwa für indizierte Variable oder Relationen dafür zur Verfügung haben. Das erklärt zugleich die Schwierigkeit der Lektüre dieser Sätze. Ohne logische Vorbildung und ohne Kenntnis zeitgenössischer Redekonventionen (etwa nach Kant und Fichte) sind sie häufig schlicht nicht zu verstehen. Hinzu kommt, dass man das Problem der Bestimmung eines Bezugsobjekts durch Bestimmung der Gleichwertigkeit verschiedener Bezugnahmen erst einmal kennen muss und in seiner Schwierigkeit nicht unterschätzen darf. Wer glaubt, alle physischen Dinge seien einfach da, es gehe nur darum, die Konstruktion abstrakter Gegenstände zu erläutern, der ist schon aus der Analyse ausgestiegen (S. 461).

Mit Bezug auf die Erkenntnisse von Kant zu den apriorischen Formen des Erkennens schreibt der Autor: „Es ist einerseits trivial und selbstverständlich, andererseits sehr wichtig, dass eine empirische Assertion oder Information (wie etwa ‚da hinten ist eine Kuh‘) nicht möglich wäre, wenn die Beteiligten nicht schon (empraktisch) wüssten, wie Kühe von anderen Lebewesen, wie zuvor schon Tiere von anderen Dingen zu unterscheiden sind und was sie normalerweise so alles Unterschiedliches tun und tun können. Zum relativen Apriori des Verstehens von empirischen Einzelaussagen gehören daher mehr an Kategorien im Sinne von beherrschten Aussageformen und ein größeres generisch-begriffliches Vorwissen, als Kants Analyse hergibt (S. 462/463).

Er geht dann auf ein Defizit viele Theorien ein, die mangelnde Berücksichtigung des Prozesscharakters alles Existierenden: „Der gesamte Bereich der Aussagen über Prozesse und Bewegungen, die Analyse von Verben, bleibt bei Kant wie später auch in der Analytischen Philosophie nach Frege ausgeblendet. […] Denn eine Analyse weltbezogener empirischer Aussagen kann sich nicht bloß an zeitallgemeinen oder ewigen Sätzen wie denen der Mathematik […] orientieren oder gar an reinen Momentaufnahmen absolut präsentischer Aussagen. Man muss sich das Problem nur vor Augen führen, um zu sehen, was hier fehlt: die Analyse von ‚epochalen‘ d. h. eine gewisse eingeklammerte Zeit lang dauernden Prozessen sowie in ihrer Gegenwart im empirischen Fall eines Einzelprozesses, als auch in ihrer generischen Wiederholbarkeit […]. Es gilt sogar, wie Hegel erkennt […], dass eigentlich schon jedes Ding, insbesondere jedes Lebewesen, in seiner Existenz durch den Prozess seines Seins und deren Epoche oder Zeitdauer bestimmt ist: Die Einheit jedes Lebewesens ist durch sein Leben definiert. Die Einheit eines bloß physischen Dinges, etwa eines so großen wie der Sonne oder der Erde, ist auch nur in der Zeit des Bestehens zwischen ihrem Entstehen und Vergehen definiert“ (S. 463).

Zum zentralen Begriff des Momentes schreibt Stekeler: „Hegels zentrales Analysewort für das Verhältnis zwischen einem holistisch durch ein Titelwort umrissenen Ganzen (wie etwa dem Wissen oder der Wahrnehmung) und bloßen Teilaspekten oder Teilformen, wie sie in einer logischen Analyse explizit herausgestellt werden, ist das Wort ‚Moment‘. Wir können mit seiner Hilfe sagen: Das Ganze des Wissens hat die Wahrnehmung als Moment. Die Wahrnehmung wiederum lässt sich zwar in die Momente der sinnlichen Empfindung und der meinenden Erwägung von Möglichkeiten zerlegen, aber nicht aus diesen als vermeintlich unabhängigen ‚Bestandteilen‘ zusammensetzen“ (S. 464/465).

Der Autor kommentiert dann ausführlich Hegels Beispiel zur Wahrnehmung eines Baumes.

„In der Unmittelbarkeit des Urteilens und Meinens werden die Unterscheidungen zwischen Baum und Strauch, hier und dort, jetzt und dann schon vorausgesetzt. Wir müssen also schon unterscheiden können zwischen dem, was ein Baum ist und dem, was kein Baum ist, zwischen dem, was als ein Hier anzusprechen ist und dem, was nicht hier ist. […] Der Inhalt einer anschauungsbezogenen Aussage oder Proposition und ihre Wahrheit müssen auf eine gewisse Seite im Perspektivenwechsel erhalten bleiben. D. h., wir müssen schon ‚diesen Baum hier‘ aus meiner Perspektive mit ‚jenem Baum dort‘ aus deiner oder seiner Perspektive identifizieren können. Hegel drückt das auf eine zunächst schwer verständliche Weise aus, wo er davon spricht, dass es ‚zwischen dem Ich und dem Gegenstand keinen Unterschied der Wesentlichkeit‘ gäbe. Das meint nicht, dass Ich der Gegenstand bin, sondern dass ‚kein Unterschied‘ in Bezug auf den Gegenstand ‚eindringen kann‘. Von den Unterschieden zwischen meiner und deiner Perspektive ist abzusehen, aber das nur so weit, wie die ko-varianten, d. h. äquivalenzerhaltenden, Übersetzungen meiner gesichtspunktabhängigen Anschauungsurteile in deine tragen. Ein bloßes Absehen von Subjektivitäten ließe dagegen keinen Inhalt zurück“ (S. 466/467).

„Die Äquivalenz des Inhalts von Aussagen folgt anderen Regeln als die der Figur des Satzes. Derselbe Satz artikuliert in verschiedenen Sprech- und Zeigesituationen verschiedene Propositionen. Dass ist eigentlich völlig trivial. Wir müssen es nur beachten. Das 20. Jahrhundert ist dann aber fast zu stolz auf diese selbstverständliche Einsicht (S. 467).

Zu Hegels Ausführungen zum Wort „jetzt“ stellt der Autor fest:

„Es ist eine falsche Vorstellung, dass Wort ‚jetzt‘ nenne einen unmittelbaren Zeitmoment, einen Zeitpunkt jetzt, der sofort vergangen ist. Das Wort ‚jetzt‘ wird vielmehr relativ zu einem präsentischen Prozess gebraucht, nicht anders als das Wort ‚dies‘, dass sich ebenfalls auf gegenwärtige Prozesse und Ereignisse beziehen kann, aber auch auf Dinge und Gestalten im Raum. […] Sofern gerade eine Fahrt zwischen Leipzig und Berlin relevant ist, verweist das Wort ‚jetzt‘ im Satz ‚ich bin jetzt im Zug‘ durchaus auf die ganze Fahrt. Eine Teilepoche wird relevant, wenn ich sage, ‚ich bin jetzt in Wittenberge‘. Der epochale Zeitraum kann dabei beliebig kurz werden, etwa wenn ich sage, ‚gerade jetzt huscht draußen ein Reh vorbei‘. […] Wir erhalten daher schon das folgende (Zwischen-)Ergebnis: Jedes Sein muss etwas sein, das dauert. Ich spreche hier daher von einem Prozess. Das aufzeigbare Jetzt steht dem allgemeinen Kontrast zu anderen Zeiten, das aufzeigbare Hier zu anderen Orten, dass sich im Sagen zeigende Ich zu anderen Personen.“ (S. 469/470).

Nach Hegels „idiosynkratischen“ Reflexionen über zeitliche Momente schreibt der Autor: „Es ist erstaunlich, dass man einerseits genau weiß, dass es sich so verhält, wie Hegel hier sagt und woran er uns hier erinnert, es andererseits immer wieder vergisst. Sonst gäbe es nicht das ewige Gerede von dem momentanen Augenblick des Hier und Jetzt oder die unmögliche Vorstellung noch bei Rudolf Carnap, man könne Raumzeitpunkte direkt als Basisvariablen für weltbezogene Existenzaussagen verwenden, ohne schon über sich bewegende Körperdinge sprechen zu müssen“ (S. 472).

Bemerkungen zum Beitrag

  • Die Kommentare zu dem kurzen Text von Hegel gehen zum Teil weit über die betreffende Thematik hinaus.
  • Der Autor begleitet die Gedankengänge von Hegel kritisch und weist an einigen Stellen auf Missverständnisse hin. Er gibt Erklärungen für die Schwierigkeiten von Hegel, unterstützt aber im Wesentlichen seine Ansichten.
  • Auf den 34 Seiten der in den Text von Hegel (etwa zehn Seiten) eingebetteten Kommentare werden viele Gedanken wiederholt, die in den 30-seitigen Vorbetrachtungen für den Abschnitt schon enthalten waren.
  • Trotz des sehr breiten Feldes der diskutierten Erfahrungen werden vom Autor einige Erfahrungsbereiche insbesondere von Wissenschaftlern nicht diskutiert. Dazu gehört die Konfrontation mit empirischen Daten und mit wissenschaftlichen Theorien in der Phase der sinnlichen Gewissheit.

Vergleichende Analyse der Beiträge

Generelle Einschätzungen zu den Beiträgen

Alle acht Beiträge beschäftigen sich mit den gleichen etwa 11 Seiten von Hegel zur sinnlichen Gewissheit aus seiner Phänomenologie des Geistes. Der Umfang der Beiträge schwankt zwischen 5 Seiten (Siep) und 64 Seiten (Stekeler-Weithofer). Auch zwischen der Art der Interpretationen gibt es erhebliche Unterschiede. Bei einigen Beiträgen (Ludwig, Koch) hat man den Eindruck, dass es bei Hegel um ein recht inhaltsloses und bedeutungsarmes Spiel mit Worten geht.

Es gibt Interpretationen, die nicht nachvollziehbar und sogar teilweise fehlerhaft sind (Ohashi, Schmieder), auf die ich in den Bemerkungen zu den Beiträgen hingewiesen habe. Bis auf Stekeler-Weithofer halten sich alle übrigen Autoren eng an den Text von Hegel und verwenden seine Formulierungen und Beispiele. Die interpretierten Auffassungen von Hegel werden meist nur dargestellt ohne Bewertungen und Einordnung in eigener Modellvorstellungen. Eine Problematisierung des Hegelschen Textes sowie eine Diskussion eigener Beispiele findet in diesen Beiträgen nicht oder nur marginal statt, wobei verwendete Beispiele zum Teil ungeeignet sind (Ludwig).

Erst aus dem Beitrag von Stekeler-Weithofer wird deutlich, welche weiterführenden Probleme Hegel in seinem Text angesprochen hat und welche oft tief liegenden Gedanken er dazu äußerte. Die von Hegel sogenannte erste „Bewusstseinsgestalt“ hat für den Erkenntnisprozess eine weit größere Bedeutung als offensichtlich gemeinhin angenommen wird. Stekeler-Weithofer versteht es, die Probleme mit eigenen Worten und an einigen Beispielen meist verständlich (aus meiner Sicht) u erläutern.

Der Beitrag von Schmieder beschäftigt sich nicht im engeren Sinne mit der Interpretation des Textes von Hegel, sondern vor allem mit der Kritik von Feuerbach an den Hegelschen Auffassungen. Er wird bei den folgenden Auswertungen nicht weiter diskutiert, da dazu eine eingehendere Beschäftigung mit den Auffassungen von Feuerbach erforderlich wäre.

Möglichkeiten des Umgangs mit den Texten von Hegel

Eine Analyse der Schriften von Hegel kann unter verschiedenen Fragestellungen erfolgen:

  1. Wie können die Texte interpretiert werden, d. h. welche Gedanken und Überlegungen von Hegel haben vermutlich zu den Texten geführt?
  2. Welche Bezüge gibt es zu philosophischen Problemen sowie Gedanken anderer Philosophen vor und nach Hegel?
  3. Wie können einige der durch die Interpretation der Texte ermittelten Gedanken von Hegel für ein Modell von Erkenntnisprozessen auch ohne unbedingte Benutzung seiner Termini und Ausdrucksweisen verwendet werden?
  4. Welche Anregungen können aus diesem Modell für die Lösung heutiger wissenschaftlicher, gesellschaftlicher oder menschlicher Probleme entnommen werden?

Zur verwendeten Terminologie bei der Analyse

Der Terminus „Denken“ bezeichnet einen mentalen Prozess. Mentale Objekte sind aber auch mentale Zustände wie Gedanken, Einstellungen, Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten und andere. Die Wahrnehmung ist ebenfalls ein mentaler Prozess, an dem Sinnesorgane beteiligt sind, die Informationen in das Gehirn liefern. Alle Prozesse und Zustände, die mit der Gehirntätigkeit eines Menschen verbunden sind, werden als Mentales bezeichnet. Denken ist also ein Bestandteil des Mentalen.

In der Wortverbindung „Denken und Sein“, ist „Sein“ offensichtlich der Gegenbegriff, das Negative des Denkens. Sein ist „einer der grundlegenden, aber auch vieldeutigsten und bis in die Gegenwart umstrittenen Begriffe in der abendländischen Philosophie, dessen Bedeutung je nach Verwendung in einer bestimmten philosophischen Disziplin oder einem bestimmten Kontext erheblich variiert. […] Innerhalb der modernen analytischen Philosophie fällt der Seinsbegriff einer z.T. vernichtenden Kritik anheim“ (Prechtl und Burkard 2008, S. 544). Wird „Sein“ im umfassenden Sinne als Bezeichnung für alles Existierende verwendet, dann gehört das Denken auch zum Sein.

Anstelle des Terminus „Sein“ als Gegenbegriff zum Denken wird deshalb der Terminus „Nichtmentales“ verwendet. Damit wird alles Existierende außer den Prozessen und Zuständen der Gehirntätigkeit eines Menschen bezeichnet. Physiologische Prozesse wie Sinneswahrnehmungen, Empfindungen und Gefühle sind Grenzfälle. Sie vermitteln zwischen dem Mentalen im engeren Sinne und dem Nichtmentalen.

Eine besondere Form des Nichtmentalen ist das entäußerte Mentale. Damit werden nichtmentale Objekte wie Wörter, Texte, Kunstwerke oder Musik bezeichnet, die Träger von Gedanken, Gefühlen und anderen mentalen Zuständen sind. Dabei muss unterschieden werden zwischen den gegenständlichen Trägern wie Schallwellen, Buchstaben oder Materialien der Kunstwerke und den damit zum Ausdruck gebrachten, entäußerten Gedanken, Gefühlen und anderen mentalen Zuständen.

Hegels bezeichnet mit seinem zentralen Terminus „Bewusstsein“ mentale Dinge bei einem Subjekt, die Ergebnis seines Erkenntnisprozesses sind wie etwa Wahrnehmungsinhalte, empfundene Gefühle, Vorstellungen, Gedanken oder Theorien. Mit „Gestalten“ des Bewusstseins meint er die Ergebnisse verschiedenen Phasen des Erkenntnisprozesses. Die Verwendung des Wortes „Bewusstsein“ wurde erst 1719 von Christian Wolff als Übersetzung des lateinischen Wortes conscientia eingeführt. Die Probleme, die mit der Verwendung dieses Wortes verbunden sind, konnte Hegel in seiner Tragweite noch nicht erkennen. Der Begriff „Bewusstsein“ ist, wie Cassirer 1954 schrieb, „… der eigentliche Proteus der Philosophie […]. Er tritt in all ihren verschiedenen Problemgebieten auf; aber er zeigt in keinem von ihnen dieselbe Gestalt, sondern ist in einem unablässigen Bedeutungswandel begriffen“ (Philos. der symbolischen Formen 3 (1954) 57). Mit der Entwicklung der Neurowissenschaften hat es weitere Bedeutungsveränderungen gegeben. Ich habe mich ausführlich mit diesem Begriff auseinandergesetzt mit dem Ergebnis, das Wort nur in speziellen Zusammenhängen zu verwenden und insbesondere in philosophischen Texten möglichst darauf zu verzichten.

Ausführliche Diskussionen zu den genannten Termini sind in folgenden Texten enthalten:

Zur Interpretation des Textes von Hegel, Bezüge zu anderen Auffassungen

Im Sinne der Möglichkeiten A und B des Umgangs mit Hegels Texten sollen zunächst die Interpretationen des Textes durch die Autoren sowie die hergestellten Bezüge zu anderen philosophischen Theorien oder Auffassungen untersucht werden.

Art und Anzahl der grammatischen Subjekte

Es gibt unterschiedliche Auffassungen dazu, welche und wie viele Akteure in den Aussagen von Hegel zur sinnlichen Gewissheit und zum Bewusstsein vorkommen.

Siep (2012, S. 84) ist der Meinung, dass die sinnliche Gewissheit nur von einer einzelnen Person beansprucht wird („ich“). Die sinnliche Gewissheit will „den Gegenstand ‚an sich‘ erfassen, ohne ihn zu interpretieren, zu vergleichen, auf Begriffe zu bringen usw.“

Wieland (1998) stellt eine Verbindung von Hegels Text zu den Platon-Dialogen her. Als stilisierte Partner der Dialoge interpretiert er die sinnliche Gewissheit und diejenigen (wir), die die sinnliche Gewissheit zum Gegenstand der Betrachtungen machen. Für die Dialektik des Weges der sinnlichen Gewissheit ist nach seiner Meinung der Gegensatz von sinnlicher Gewissheit und „wir“ konstitutiv. Die sinnliche Gewissheit kann nach seiner Ansicht auch Fragen beantworten. Die Erfahrung des Bewusstseins, von der Hegel spricht, besteht nach seiner Ansicht in der Erlangung eigener Einsichten durch die sokratische Methode der Selbstbefragung.

Auch Ohashi (2008, S. 132) spricht von zwei verschiedenen Personen in dem er sich auf die Formulierungen „Ich, dieser“ und „ein anderer Ich“ bezieht. Für ihn ist das versteckte Anliegen sogar der gesamten Schrift von Hegel einen „gemeinschaftlichen Sinn“ zu beschreiben. Für ihn ist die sinnliche Gewissheit ein Moment aller Stadien des Selbstbewusstseins.

Wieland (1998, S. 78) unterscheidet zwei Formen des Bewusstseins, ein Bewusstsein, das „die Theorie macht“ und ein Bewusstsein, „über das die Theorie gemacht“ wird.

Koch (2008, S. 141) ist der Meinung, dass die sinnliche Gewissheit durch unsere Reflexion auf unser Alltagsbewusstsein, dass er als manifestes Weltbild bezeichnet, entsteht. Diese Abstraktion wird nach seinen Worten von einem „Theoretiker“ vorgenommen, der die sinnliche Gewissheit aus dem Alltagsbewusstsein „herausdestilliert“. Dieser „Theoretiker“ sind offensichtlich wir selbst. Er kann sich auf den Standpunkt der sinnlichen Gewissheit begeben.

Stekeler-Weithofer (2014, S. 449) stellt heraus, dass Hegel sich bewusst ist, dass man Kommentare der sinnlichen Gewissheit von außen und Argumente aus einer „Binnenperspektive“ unterscheiden muss. Weiterhin deutet er die deiktischen Ausdrücke bei Hegel als einen Perspektivenwechsel zwischen verschiedenen Akteuren.

Bei Ostritsch ist die sinnliche Gewissheit ein selbstständiger Akteur, sie kann befragt werden. Auf der dritten von Hegel beschriebenen Stufe ist sie eine private Angelegenheit.

Hegel selbst stellt zu Beginn des Abschnitts zur sinnlichen Gewissheit fest, dass „das Bewusstsein seinerseits […] in dieser Gewissheit nur als reines Ich“ ist (TWA 3, S. 82) und am Ende sagt er dann: „so mache ich die Erfahrung, was die Wahrheit der sinnlichen Gewissheit in der Tat ist: ich zeige es auf als ein Hier, das ein Hier anderer Hier oder an ihm selbst ein einfaches Zusammen viele Hier, d. h. ein Allgemeines ist; ich nehme so es auf, wie es in Wahrheit ist, und statt ein Unmittelbares zu wissen, nehme ich wahr.“ (TWA 3, S. 92).

Insgesamt kann man feststellen, dass es bei den Interpreten keine einheitlichen Auffassungen zu dem Problem der Anzahl der Akteure gibt. Ausgehend von den zitierten Formulierungen von Hegel selbst, scheinen mir die Auffassungen von Siep, Stekeler-Weithofer und Ostritsch den Intentionen von Hegel am nächsten zu kommen, wobei der Gedanke eines Perspektivenwechsels von Stekeler-Weithofer die Auffassungen von der personenbezogenen Perspektive ergänzt. Ein sokratischer Dialog mit sich selbst (Wieland), die Beschreibung eines gemeinschaftlichen Sinns (Ohashi) oder die Gewinnung der sinnlichen Gewissheit durch eine Abstraktion eines Theoretikers aus dem Alltagsbewusstsein (Koch) halte ich für wenig einleuchtende Interpretationen.

Rolle deiktischer Ausdrücke, Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem, Rolle der Sprache

In allen Beiträgen wird die Rolle deiktischer Ausdrücke diskutiert, die im Text von Hegel eine zentrale Stellung haben. Diese Ausdrücke sollen nach Siep (2012, S. 85) den tatsächlichen Bewusstseinsinhalt beschreiben. Sie sind aber etwas Allgemeines, da sich der Bezugsgegenstand ständig ändern kann. Hegel will nach Siep mit seinem Kapitel zeigen, dass es nichts Einzelnes gibt oder wir uns jedenfalls in unseren Aussagen nicht darauf beziehen können, weil sprachliche Ausdrücke stets über einzelnes hinausgehen. Ludwig (1997, S. 55) stellt fest: „Einzelnes kann nur als Allgemeines erfasst werden.“

Auch Hegel sagt, dass sinnliches Sein, was wir meinen, nicht gesagt werden kann, da Sprache nur Allgemeines ausdrücken kann. Stekeler-Weithofer stellt dazu fest, dass man sich nicht auf ein Einzelnes durch Sprache oder Handlung beziehen kann, ohne eine begriffliche Bestimmung, was für ein Gegenstand es ist.

Nach Stekeler-Weithofer (2014, S. 415) ist die Grundidee des Abschnitts zur sinnlichen Gewissheit nicht das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem oder dass wir uns mit der Sprache nicht auf Einzelnes beziehen können, sondern „eine Kritik der Idee, wir könnten bei der Entwicklung eines richtigen (wahren oder vernünftigen) Verständnisses unserer selbst und unserer Lage in der Welt ausgehen von unseren je eigenen unmittelbaren ‚Erfahrungen‘ und ‚Selbsterfahrungen‘, unter Einschluss von ‚Empfindungen‘, die wir als eine Art unmittelbares Gefühl in uns zu finden meinen.“

Wieland (1998, S. 79) äußert sich in ähnlicher Weise, wenn er sagt, dass Hegel als Ausgangspunkt seiner Untersuchungen den gemeinen Menschenverstand angesehen hat, der glaubt „im unmittelbaren Wissen eine Grundlage zu haben, die sich durch nichts erschüttern lässt.“

In Bezug auf den Gebrauch der deiktischen Ausdrücke wie „ich“, „dies“, „hier“ und „jetzt“ bei Hegel stellt Stekeler-Weithofer (2014, S. 433) als einziger fest, dass sie nie unmittelbar, sondern nur vermittelt im Kontrast zu einem „du“ und „das“, „dort“ und „dann“ Sinn und Bedeutung haben. Sie sind auch keine Namen, wie Hegel bemerkt. „Diese Ausdrucksweisen der mehrstufigen Reflexionssprache ermöglichen abkürzende Verweise und über die Nominalisierung auch entsprechende prädikative Kommentare. Es sind ihnen dann allerdings vom Leser immer entsprechend passende Objektaussagen zuzuordnen. Hegel meint also keineswegs, wie mancher glauben mag, dass es ein Ich oder Wir ‚gibt‘ oder ein Dieses oder ein Hier“ (Stekeler-Weithofer 2014, S. 447). Zum Satz von Hegel: „Das Jetzt ist die Nacht.“ stellt er fest (Stekeler-Weithofer 2014, S. 451): „Der Satz ist […] als mehrstufiger, formenanalytischer oder reflexionslogischer Merksatz oder Kommentar zu lesen. Hegel sagt also keineswegs, dass es je objektstufig einen Sinn hätte zu sagen ‚Das Jetzt ist die Nacht‘. Der Satz sagt vielmehr: Wenn es darum geht, zu bestimmen, was die begrenzte Extension des Wörtchens ‚jetzt‘ im konkreten Beispiel ist, könnte die Antwort lauten ‚jetzt ist Nacht‘ oder ‚das Wort ‚jetzt‘ bezieht sich auf diese Nacht‘.“

An Hegels Beispiel zur Wahrnehmung eines Baumes diskutiert Stekeler-Weiterhofer die Notwendigkeit des Perspektivenwechsels. „In der Unmittelbarkeit des Urteilens und Meinens werden die Unterscheidungen zwischen Baum und Strauch, hier und dort, jetzt und dann schon vorausgesetzt. Wir müssen also schon unterscheiden können zwischen dem, was ein Baum ist und dem, was kein Baum ist, zwischen dem, was als ein Hier anzusprechen ist und dem, was nicht hier ist. […] Der Inhalt einer anschauungsbezogenen Aussage oder Proposition und ihre Wahrheit müssen auf eine gewisse Seite im Perspektivenwechsel erhalten bleiben. D. h., wir müssen schon ‚diesen Baum hier‘ aus meiner Perspektive mit ‚jenem Baum dort‘ aus deiner oder seiner Perspektive identifizieren können“ (Stekeler-Weithofer 2014, S. 466–467).

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich viele Autoren in Bezug auf die deiktischen Ausdrücke eng an die Formulierungen von Hegel gehalten und nicht deutlich herausgestellt haben, dass diese als Pronomen keine eigene Bedeutung besitzen, sondern nur in Bezug auf konkrete Objekte Sinn ergeben. Dies wurde nur von Stekeler-Weithofer explizit artikuliert. Er weist darauf hin, dass etwa der Satz: „Das Jetzt ist die Nacht.“ sinnlos ist, wenn man ihn im wörtlichen Sinne auf der Ebene der Objekte versteht, also das Wort „Jetzt“ als Namen ansieht. Das wirft dann allerdings die Frage auf, welchen Sinn es überhaupt macht, solche Sätze zu verwenden, die nur zur Verwirrung von Lesern führen, selbst wenn es sich um Philosophen handelt.

Die von Wieland und Stekeler-Weithofer formulierte Grundidee Hegels in diesem Abschnitt, den Glauben an das unmittelbar Wahrgenommene zu erschüttern, lässt sich auch mit einfachen Worten ausdrücken. Gerade in der heutigen Zeit von Fake-Nachrichten und Verschwörungstheorien ist dies eine grundlegende Einsicht. Die Wahrnehmung besteht in diesen Fällen in dem Lesen oder Hören von falschen oder verfälschten Informationen, die dann für wahr gehalten werden.

Die Formulierung Hegels, dass man Einzelnes mithilfe der Sprache nicht ausdrücken kann, wurde von allen Autoren übereinstimmend dahingehend interpretiert, dass Substantive immer Klassen von Objekten umfassen und es keine Namen für ein singuläres Objekt gibt. Jede Beschreibung eines einzelnen Objektes erfordert immer Wörter, deren Verwendung sich nicht nur auf das einzelne Objekt beschränkt. Ausnahmen bilden solche Wörter wie „die Kreiszahl π“ oder die „Gravitationskonstante γ“, die genau ein einzelnes Objekt bezeichnen.

Wahrheit und Wahrheitsanspruch

Nach Wieland (1998, S. 80) ist der „Wahrheitsanspruch, der mit allen Formen und Gestalten unseres Wissens immer verbunden ist, seinem Wesen nach ein Absolutheitsanspruch“. Einen Absolutheitsanspruch kann man immer nur dann zurückweisen, wenn man einen neuen oder anderen Absolutheitsanspruch erhebt. Hegel geht nach seinen Worten davon aus, dass „wir in allen unserem Denken auch im trivialen Bewusstsein, immer schon ein Absolutes vorausgesetzt haben, denn auch das triviale Bewusstsein erhebt den Anspruch im Besitz von Wahrheit zu sein.“

Diese Überlegungen stützen den oben geäußerten Grundgedanken Hegels, den Glauben an das unmittelbar Wahrgenommene problematisieren. Der damit verbundene Absolutheitsanspruch ist ein wesentliches Hindernis, diesen Glauben zu erschüttern. Offen bleibt bei Wieland, auf welche Weise ein neuer Absolutheitsanspruch geltend gemacht werden kann. Dazu gäbe es prinzipiell zwei Möglichkeiten, eine andere Wahrnehmung zu vermitteln bzw. die ursprüngliche deutlich infrage zu stellen.

Stekeler-Weithofer (2014, S. 438) erklärt, „dass es keine Wahrheit und kein Wissen im reinen Ich-Modus gibt, dass Wissen und Wahrheit von einer allgemeinen Anerkennbarkeit, faktisch von einem allgemein anerkannten Erfolg kooperativen Urteilens und Handelns abhängt.“ Zur Relativität der Wahrheit stellt er fest, dass wir „am Ende das sagen müssen, was Hegel schon gesagt hat. Die Wissenschaft ist die Instanz gemeinsamer Praxis, in der wir jeweils beurteilen, was als Wissen oder als wahr gelten kann, wobei die Wissenschaft selbst die Maßstäbe der Urteile liefert“ (S. 424).

Dazu ist allerdings zu sagen, dass es beim Auftreten einer neuen Erkenntnis oft nur wenige oder vielleicht nur eine Person gibt, die von der Wahrheit dieser Erkenntnis überzeugt sind und dies auch begründen können, während die Mehrzahl der Wissenschaftler dies zunächst abgelehnt. Während sich in den Naturwissenschaften und der Mathematik neue Erkenntnisse aufgrund der möglichen Verifizierbarkeit meist durchsetzen können, ist dies im Bereich der Geisteswissenschaften und insbesondere der Philosophie weit weniger der Fall.

Rolle der Wahrnehmung

Bei Hegel ist die Wahrnehmung die Bewusstseinsgestalt nach der sinnlichen Gewissheit. Fast alle Autoren gehen wohl aus diesem Grunde nicht auf Probleme der Wahrnehmung in ihren Ausführungen zu Hegels Text ein. Dabei gibt es ohne Wahrnehmung keine Form der sinnlichen Gewissheit.

Ausführlich beschäftigt sich Stekeler-Weithofer (2014, S. 422–426) insbesondere in seinen Vorbetrachtungen zum Abschnitt zur sinnlichen Gewissheit mit Problemen der Wahrnehmung. Es gibt nach seiner Ansicht kein reines Wahrnehmen unabhängig von mentalen Zuständen und Prozessen. Für Empfindungen an sich gibt es keine speziellen Wörter. Jedes Wahrgenommene ist deshalb durch die im Kopf vorhandenen Begriffe und Denkweisen des Individuums bestimmt, es ist „theoretisch geformt“ und damit hat es immer eine individuelle Ausprägung. „Die subjektive Perspektive und die begriffliche Formung jedes Erkenntnisanspruchs, der von einer Person erhoben wird, [ist] nicht etwa infrage zu stellen, sondern als basale Tatsache anzuerkennen.“

Dies entspricht den Erkenntnissen der Neurowissenschaften. „Das Gehirn analysiert diese primären Empfindungen und wandelt sie in Wahrnehmungen um, auf deren Grundlage informationsgestützte Entscheidungen über künftige Handlungen getroffen werden. Sinnliche Empfindungen sind jedoch nicht allein für die Entstehung von Wahrnehmungen verantwortlich. Man kann nämlich auch das Wahrnehmen, was nicht empfunden wird, oder das nicht wahrnehmen, was man empfindet, oder auch mehr als eine Wahrnehmung aus denselben Empfindungen konstruieren. […] Wahrnehmungen stellen begründete Vermutungen des Gehirns über die Summe dessen dar, was die Sinne ihm mitteilen“ (O’Shea 2008, S. 91).

Die Feststellung einer subjektiven Perspektive und begrifflichen Formung von Erkenntnisansprüchen einer Person ist von weittragender Bedeutung. Jede Person hat ein eigenes System von Überzeugungen und Vorstellungen, ein eigenes Gedankengebäude, das alles beeinflusst was wahrgenommen wird oder eben auch nicht wahrgenommen wird. Deshalb sind Diskussionen zwischen Personen mit verschiedenen Gedankengebäuden oft schwierig oder gar nicht möglich. Jeder der etwa in einer Verschwörungstheorie verfangen ist, lässt sich mit Argumenten dagegen kaum überzeugen. Dies als basale Tatsache zu akzeptieren ist zwar zunächst notwendig, enthebt andere aber nicht von der Aufgabe, das Gedankengebäude zu erschüttern.

Stekeler-Weithofer weist weiterhin auf Grenzen der Wahrnehmung hin. Wahrgenommen können immer nur Wirkungen, keine Ursachen, wie etwa Kräfte. Kräfte sind gesetzte Dispositionen, modelltheoretische Entitäten, mit deren Hilfe man Erscheinungen ursächlich erklären kann. Dazu ist allerdings einschränkend zu sagen, dass man durchaus Ursachen wahrnehmen und erforschen kann. So kann man etwa den Blitz als Ursache des Donners oder den Schlag eines Hammers als Ursache der Verformung des Eisens beim Schmied wahrnehmen. Was nicht wahrnehmbar ist sind die Erklärungsmodelle zwischen diesen beiden Ereignissen.

Meinen und wissen

Da Hegel in seinem Text gelegentlich das Wort „meinen“ verwendet, gehen einige Autoren auch auf das Verhältnis von „wissen“ und „meinen“ ein. Koch (2008, S. 141) stellt dazu fest, dass die Bezugnahme auf Einzeldinge nicht denkend vollzogen, sondern nur „gemeint“ werden kann. Ostritsch (2020, S. 100) ist der Auffassung, dass die Bewusstseinsgestalt der sinnlichen Gewissheit einen einzelnen Gegenstand meint, aber die Sprache es dem Bewusstsein nicht erlaubt, zu sagen, was es meint, denn der Ausdruck „dieser Gegenstand jetzt“ ist ein ganz allgemeiner Ausdruck, der auf jeden Gegenstand zutreffen kann. So erkläre sich die Ansicht von Hegel, dass es „gar nicht möglich [ist], dass wir ein sinnliches Sein, dass wir meinen, je sagen können“ (TWA 3, S. 85)

Stekeler-Weithofer (2014, S. 456–457) stellt dazu fest: „Da die sinnliche Gewissheit nicht unmittelbar einen bestimmten Gegenstand erkennen kann, ist die Bestimmung dessen was wir meinen, sinnlich unmittelbar wahrzunehmen, durch ein willkürliches Meinen bestimmt. Unmittelbar ist also nicht der Gegenstandsbezug, sondern der Akt des Meinens. […] Unmittelbar also ergeben sich aus dem sinnlichen Kontakt mit der Umwelt bloß erst einige mögliche Urteile oder Meinungen Bezug auf die mögliche begriffliche Bestimmung des Wahrgenommenen. […] Die Bestimmung des Gegenstandes geschieht im Meinen. Das Meinen kann nahegelegt sein durch das Empfinden oder Perzipieren. Aber es liefert als solches bloß ein Möglichkeitsurteil. Jede Versicherung artikuliert bloß erst eine Möglichkeit.“

Das Wort „meinen“ hat auch in der Verwendung bei Hegel verschiedene Bedeutungen. In seiner Feststellung, dass es nicht möglich ist, sagen zu können, was man meint, geht es um das sprachliche Artikulieren einer vorhandenen aber nicht sagbaren Auffassung. Dieser Bedeutungsaspekt liegt auch den Interpretationen von Koch und Ostritsch zugrunde. Nach Stekeler-Weiterhofer hat Hegel aber auch die Verwendung von „meinen“ im Sinne von „annehmen“ oder „vermuten“ intendiert. Daraus schlussfolgert er dann als einziger, dass mit der sinnlichen Gewissheit nur ein Möglichkeitsurteil vorliegt, das dann im weiteren Verlauf des Erkenntnisprozesses überprüft werden muss. Damit weist er auf den Unterschied zwischen dem Meinen als Annehmen, also Bilden einer Hypothese, und dem Wissen als einer verifizierten Erkenntnis hin.

Probleme, die nur im Beitrag von Stekeler-Weithofer angesprochen werden

Anerkennung empirischer Wahrheiten

Der Autor diskutiert die Frage, inwieweit empirische Ergebnisse allgemeines Wissen widerlegen können und sieht dies als ein komplexes Problem der „Stufung des Begrifflichen und Empirischen“ an. Zu den Voraussetzungen des Sinns empirische Aussagen gehört nach seinen Worten „immer auch schon ein generisches Normalfallwissen“ (S. 443).

Im medizinischen und auch im pädagogischen Bereich spielen heutzutage „evidenzbasierte“ Aussagen eine große Rolle. Damit sind statistisch abgesicherte Ergebnisse empirischer Untersuchung gemeint. Bei den diesen Aussagen zu Grunde liegenden Datenanalysen sind aus meiner Sicht oft zwei grundlegende Probleme zu beachten. Im Design der Untersuchungen werden oft die Bedingungen, unter denen die Daten entstanden sind, nicht erfasst bzw. berücksichtigt. Weiterhin sind die verwendeten statistischen Methoden oft nicht adäquat.

Zum Prozesscharakter des Existierenden

Stekeler-Weithofer geht in Bezug auf die Analyse empirischer Aussagen die mangelnde Berücksichtigung des Prozesscharakters alles Existierenden ein: „Der gesamte Bereich der Aussagen über Prozesse und Bewegungen, die Analyse von Verben, bleibt bei Kant wie später auch in der Analytischen Philosophie nach Frege ausgeblendet. […] Denn eine Analyse weltbezogener empirischer Aussagen kann sich nicht bloß an zeitallgemeinen oder ewigen Sätzen wie denen der Mathematik […] orientieren oder gar an reinen Momentaufnahmen absolut präsentischer Aussagen.“ (S. 463).

Untersuchung von eigenen Beispielen

Die aufgeworfenen Probleme sollen an Beispielen untersucht werden. Dabei geht es darum das infrage stehende Verhältnis von Mentalem und Realem mit eigenen Worten zu charakterisieren. Es werden keine trivialen Beispiele verwendet, wie die Feststellung ob es Tag oder Nacht ist oder ob es sich um einen Baum oder ein Haus handelt. Es geht um grundlegende Fragen von Erkenntnisprozessen, also um echte Fragen der Forschung aber auch um Probleme aus dem Alltag.

Beispiele aus Forschungssituationen

Das erste Beispiel sei die Entdeckung einer neuen Wurmart, die Biologen der Universität Rostock im eisbedeckten Südpolarmeer in etwa 500 Metern Tiefe entdeckten. Gefunden wurde sie von der Biologin Friederike Säring in Sedimentproben, die während Antarktis-Expeditionen in den Jahren 2013, 2016 und 2019 genommen wurden. Der Wurm ist nur etwa 1 cm groß. (SVZ, 16. Februar 2022, https://www.svz.de/35429637)

Bei der ersten Begegnung mit dem Wurm vermutete die Biologin der Meinung, dass es sich um eine unbekannte Art handelt. Das reale Objekt, das der Biologin gegenüberstand, ist ein einzelnes Tier oder auch mehrere Exemplare. Die sinnliche Wahrnehmung besteht aus einem Komplex von Prozessen des Sehens, Fühlens und Riechens. Im Ergebnis dieser Prozesse entstand im Kopf der Biologin eine erste mentale Reflexion des realen Objekts. Diese mentale Struktur und der Prozess ihrer Entstehung entspricht der von Hegel so bezeichneten sinnlichen Gewissheit der Biologin in Bezug auf das reale Tier. Die mentale Struktur ist eine Einheit aus bildlichen Vorstellungen, sprachlichen Elementen und eventuell auch Emotionen, z. B. die Freude über das Entdeckte.

Über den Vorgang der sinnlichen Gewissheit und seine Ergebnisse können folgende Feststellungen getroffen werden.

  • Das Tier ist der Ausgangspunkt. Es ist das primäre Objekt, das Unmittelbare mit den Worten von Feuerbach. Es hat sich durch den Erkenntnisprozess nicht verändert. Es existiert auch ohne ihn. In Bezug auf sein Wesen ist sie das Unaussprechliche, das bloß Gemeinte, da es in dieser Phase des Erkenntnisprozesses es noch keinen Begriff gibt, d. h. die wesentlichen Momente zur Charakterisierung der Tierart noch nicht bestimmt sind.
  • Im Kopf der Biologin sind neue mentale Zustände vorhanden. Dazu gehört eine erste Beschreibung der Wurmart, eine bildliche Vorstellung und anderes. Die Biologin ist sich gewiss, dass dieser Wurm existiert. Sie meint, dass es sich um eine bisher unbekannte Wurmart handelt, ist sich aber noch nicht sicher. Zur Beschreibung des Wurms verwendet sie allgemeine Begriffe wie Kiemen, Segmente, innere Organe und andere. Zur Bestätigung oder Widerlegung ihrer Vermutung sind weitere Untersuchungen des Wurms erforderlich.

Das zweite Beispiel sei der Prozess der Entwicklung des Wissens und Könnens im Umgang mit Prozenten bei einem Schüler, der von pädagogischen Wissenschaftlern untersucht wird. So weit wie mir bekannt ist, ist dieser Prozess bisher noch nicht wissenschaftlich untersucht worden. Der Prozess erstreckt sich über einen Zeitraum von vielen Jahren, angefangen bei den ersten Begegnungen mit Prozentangaben im Kindesalter, über das Lösen von Prozentaufgaben in der Schule bis zum Umgang mit Prozenten im persönlichen und beruflichen Leben. Es handelt sich methodisch gesehen um eine Längsschnittstudie für einen Einzelfall. Der Anlass dieser Forschungen sind die zum Teil erheblichen Probleme, die Lernende aber auch Erwachsene im Umgang mit Prozenten haben.

Zu Beginn der Untersuchungen im Kindesalter ist das Untersuchungsobjekt noch nicht vollständig vorhanden, es beginnt sich erst herauszubilden. Die Wissenschaftler müssen zu Beginn der Untersuchung für dieses ihnen unbekannten Erkenntnisobjektes ein Modell konstruieren, mit dem der Entwicklungsprozess beschrieben und strukturiert werden kann. Es müssen die Einflussfaktoren bestimmt werden, die in diesem Prozess wirken, wie die Besonderheiten der Phasen der ontogenetischen Entwicklung, das familiäre Umfeld, der Unterricht im Fach Mathematik und anderen Fächern, die Medien und andere. Für das Modell benötigt man ein System aus Begriffen und Verfahren. Ein weiterer Ausgangspunkt der Forschungen sind wissenschaftliche Hypothesen zu dem Entwicklungsprozess und seinen Ergebnissen. Die Forscher sind sich gewiss, dass sich sein Untersuchungsobjekt in der Entstehung befindet und sich in der weiteren Zeit vollständig herausbilden wird.

Über diesen Vorgang und seine Ergebnisse können folgende Feststellungen getroffen werden.

  • Der Prozess der Entwicklung des Wissens und Könnens des Schülers im Umgang mit Prozenten ist das Objekt der Erkenntnis. Obwohl es zum Zeitpunkt der Untersuchung noch nicht vollständig vorhanden ist, ändert es sich durch die Tätigkeit der Wissenschaftler nicht, da aus methodischer Sicht der Forschungsprozess das Untersuchungsobjekt nicht beeinflussen darf.
  • Im Kopf der Wissenschaftler gibt es noch kein wissenschaftlich abgesichertes System von Begriffen, mit dem der Prozess und seine Ergebnisse beschrieben werden können. Es ist zwar der Prozentbegriff in entäußerte Form als Einheit von formalen und nicht formalen Momenten vorhanden, aber es geht um das System von Gedanken, das sich zum Prozentbegriff beim Schüler schrittweise herausbildet. Die entäußerte Form des Begriffs ist ein Modell, das als Ziel des Unterrichts angesehen werden kann.

Das dritte Beispiel sei die Analyse und Bewertung einer philosophischen Theorie, zum Beispiel der Normalisierungstheorie von Jürgen Link. Die Theorie liegt in entäußerter Form vor, etwa (Link 2018). Da der Autor noch lebt, wäre als Untersuchungsobjekt auch das betreffende System von Gedanken in seinem Kopf möglich, das durch Gespräche und Befragungen erforscht wird. Der forschende Philosoph hat Gewissheit über die existierende Theorie durch Zusammenstellung und kursorisches Lesen der betreffenden Literatur oder erste Gespräche mit Jürgen Link.

Über diesen Vorgang und seine Ergebnisse können folgende Feststellungen getroffen werden.

  • Bei dem Erkenntnisobjekt handelt es sich um eine philosophische Theorie, also um einen mentalen Zustand im Kopf eines Philosophen, der in entäußerter Form als Text oder Vortrag vorliegt. Es ist davon auszugehen, dass sich die Theorie des Philosophen im Laufe seiner eigenen Entwicklung verändert. Dieser Veränderungsprozess soll aber nicht Gegenstand der Forschung sein, sondern der Stand der Entwicklung der Theorie zu einem bestimmten Zeitpunkt. Deshalb kann das Untersuchungsobjekt auch als unveränderlich angesehen werden.
  • Der Forscher, dem die Theorie bisher weitgehend unbekannt war, hat nach der ersten Bekanntschaft damit zwar gewisse Vorstellungen, kann aber die Theorie nicht umfassend charakterisieren. Er kann seine ersten Vorstellungen mit philosophischen Kategorien beschreiben. Um die wesentlichen Gedanken zu erfassen, ist in den nächsten Phasen des Erkenntnisprozesses eine gründliche Auseinandersetzung mit der Theorie erforderlich.

Beispiele aus Alltagssituationen

Diese Situation ist ein häufiger Fall im Leben von Menschen: es wird über Dinge nur auf der Grundlage der sinnlichen Wahrnehmung geredet. Ein Beispiel für eine solche Situationen ist:

  • Ein Lehrer kommt in eine Klasse, die ihn bisher nicht kannte. Für die Schüler ist er zunächst nur ein Name und eine äußere Erscheinung: „Das ist unser neuer Lehrer Meyer“. Die Schüler sind für den Lehrer das gleiche: „Das ist Max“. Diese ersten, über die Sinne vermittelten Eindrücke der Schüler über den Lehrer und umgekehrt werden sich im Laufe der Zeit verändern oder konkretisieren.

Die Situation betrifft nicht nur nichtmentale Objekte, sondern auch mentale. Beispiele sind die Rezeption neuer Gedanken, eines Kunstwerks oder die Gefühle eines anderen Menschen.

Schlussfolgerungen aus den Analysen und der Betrachtung von Beispielen

Mit seinem Kapitel zur „sinnlichen Gewissheit“ hat Hegel zum einen das Ziel verfolgt, sich mit bisherigen erkenntnistheoretischen Ansätzen kritisch auseinanderzusetzen. Dies betrifft insbesondere den damaligen Stand des Empirismus und Skeptizismus. Er versucht mit einfachen Beispielen einige grundlegende Probleme zu veranschaulichen und mit ihrer Hilfe aus seiner Sicht fehlerhafte Auffassungen zu widerlegen. Insbesondere geht es ihm darum zu zeigen, dass man nicht von unmittelbaren Erfahrungen ausgehen kann, um ein zutreffendes Verständnis der Welt und auch seiner selbst zu erreichen. Diese Fehlvorstellungen betreffen insbesondere den sogenannten gesunden Menschenverstand, der glaubt, „im unmittelbaren Wissen eine Grundlage zu haben, die sich durch nichts erschüttern lässt“ (Wieland, 1998, S. 79). Aber auch für die aktuelle Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sind diese Diskussionen von Bedeutung. In der Analytischen Erkenntnistheorie  wird die Sinneswahrnehmung als eine wesentliche Quelle des Wissens angesehen (Grundmann 2017, 339 ff.).

Hegels Darstellungen können den Eindruck erwecken, dass es sich um ein relativ einfaches Problem handelt. Viele Interpreten scheinen diesen Eindruck zu teilen, sie gehen oft nicht über den Gedankenkreis von Hegel hinaus. Insbesondere die Interpretationen von Stekeler-Weithofer haben gezeigt, dass mit dem Kapitel höchst anspruchsvoll Überlegungen verbunden sind.

Der Terminus „sinnliche Gewissheit“ ist in seiner Verwendung durch Hegel durchaus verständlich. Wie die Darstellung der drei Beispiele zeigt, ist eine Verständigung über die Probleme auch ohne diesen Terminus möglich. Es geht darum, dass man den Untersuchungsgegenstand erfasst hat und sich gewiss ist, dass er existiert. In den Beispielen von Hegel bezieht sich das Wort „sinnlich“ auf die Wahrnehmung von realen Gegenständen. Bei einer Beschäftigung mit Theorien oder Daten spricht man eher nicht von einer „sinnlichen“ Erfassung.

Zum anderen geht es Hegel darum, die erste Phase eines Erkenntnisprozesses zu beschreiben. Er bezeichnet die sinnliche Gewissheit als eine „Bewusstseinsgestalt“. Es folgen noch weitere Phasen und Momente der wissenschaftlichen Erkenntnisfindung, die Hegel ebenfalls Bewusstseinsgestalten nennt. Auf das missverständliche Wort „Bewusstseinsgestalt“ kann verzichtet werden. Man kann von Stufen oder Phasen der Erkenntnis sprechen, wobei Hegel nicht eine lineare Stufen- oder Phasenfolge intendiert, sondern verschiedene Momente des Erkenntnisprozesses charakterisiert, die im Prozess der Erkenntnisgewinnung zu beachten sind, aber nicht immer auftreten.

Bei allen drei Beispiel ist zu erkennen, dass zu Beginn eines solchen Prozesses immer eine Phase der Bewusstwerdung, bzw. der Erfassung des Problems durchlaufen werden muss. Es lassen sich Bezüge zu einer Theorie das Lösen von Problemen herstellen, die von George Pólya für das Beispiel mathematischer Probleme entwickelt und erstmalig 1945 veröffentlicht wurde (Pólya 2010). Auf dieser Grundlage hat Sill (2019) eine heuristische Orientierungsgrundlage für das Bearbeiten von Sachproblemen entwickelt (Sill 2019, 177 ff.). In der ersten Phase geht es um das Erfassen des Sachverhalts. Sie entspricht von ihrer Zielstellung dem Zugang von Hegel mit seinen Betrachtungen zur sinnlichen Gewissheit. Bevor überhaupt mit der weiteren Bearbeitung des Problems begonnen wird, sollte sich der Forscher (der Problemlöser) fragen, worum es eigentlich geht, ob er alles weiß und versteht, was zu Erfassung des Sachverhalts erforderlich ist, welche Fragen man sich überhaupt stellen könnte und welche Hypothesen möglich sind. Aus der ersten Begegnung mit einem Sachverhalt, dem Gewisswerden seiner Existenz ergeben sich also keine Gewissheiten, sondern „bloß erst einige mögliche Urteile oder Meinungen Bezug auf die mögliche begriffliche Bestimmung des Wahrgenommenen“ (Stekeler-Weithofer 2014, S. 457).

In der zweiten Phase des Problemlöseprozesses geht es um das Analysieren des Sachverhaltes. Diese Phase hat Beziehungen zur nächsten „Bewusstseinsgestalt“ von Hegel, der Wahrnehmung.

Literaturverzeichnis

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Koch, Anton Friedrich (2008): Sinnliche Gewißheit und Wahrnehmung. Die ersten beiden Kapitel der Phänomenologie des Geistes. In: Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch (Hg.): Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1876), S. 135–152.

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Pólya, George (2010): Schule des Denkens. Vom Lösen mathematischer Probleme. Sonderausg. der 4. Aufl. Tübingen: Francke (Sammlung Dalp).

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