Güstrow, 07.03.2022

Exzerpt zu Schülein und Reitze (2021): Wissenschaftstheorie für Einsteiger

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Gedanken zur Publikation

Das Buch von Schülein und Reitze aus dem Jahre 2002 ist 2021 bereits in 5. Auflage erschienen. Das besondere Interesse an dieser Publikation kann aus meiner Sicht durch ihre Besonderheiten begründet sein. Den Autoren ist es gelungen, auf 173 Seiten einen Überblick über die Geschichte der Erkenntnis- und der Wissenschaftstheorie zu geben. Sie fassen dabei die beiden oft getrennten dargestellten Disziplinen in sinnvoller Weise zusammen. Es werden die Auffassungen von insgesamt 39 Philosophen beschrieben, davon 16 in Kurzfassung, 10 mit längeren Ausführungen und zu 13 Philosophen geben Sie längere Auszüge aus ihren Werken und eine Kurzbiografie an. Die Autoren stellen zu insgesamt 27 philosophischen Theorien charakteristische Merkmale vor und geben in vielen Fällen eigene Bewertungen an. Das Buch ist als Einstiegsliteratur in beide philosophische Disziplinen gut geeignet.

Auf weiteren 90 Seiten äußern sie sich zu allgemeinen Fragen der Wissenschaftstheorie, insbesondere auch zu politischen und ethischen Aspekten und geben einen eigenen Zugang zur Strukturierung von Wissenschaftsdisziplinen an.

Neben einen Überblick zu wesentlichen Inhalten werden zu vielen diskutierten Theorien ergänzende und kritische Bemerkungen zu Auffassungen der Autoren angegeben. Insbesondere wird auch ihr Vorschlag zur Strukturierung von Wissenschaften diskutiert. Schwerpunkte der Bemerkungen sind Überlegungen zum möglichen Einfluss des mathematischen Hintergrunds der Philosophen sowie zu Bezügen zu meinem Modell des Gedankengebäude (Grenzen des Denkens).

Zitate und Bemerkungen

1     Wieso Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie?

Während Erkenntnistheorie sich mit der generellen Frage beschäftigt, wie Erkenntnis möglich ist und funktioniert, widmet sich Wissenschaftstheorie der speziellen Problemlage der Sonderform Wissenschaft. Für beide Fragestellungen haben dabei eine Reihe von modernen Wissenschaften – Wissenssoziologie, Wissenspsychologie, Wissenschaftsgeschichte, formale Logik – eine Fülle von Einsichten und Interpretationen beigesteuert und dadurch das Verständnis der Problemlagen erheblich verbessert. Eine definitive Klärung gibt es jedoch – aus Gründen, die noch diskutiert werden – (bisher) nicht.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird deutlich, was Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie leisten müssen. Erkenntnistheorie muss die Logik von Erkenntnis klären, Wissenschaftstheorie die Funktionsweise einer besonderen Form von institutionalisierter Erkenntnis erfassen und begreifen.

Bildlich könnte man das so darstellen:

  1. 30

Angesprochen werden also fünf zusammenhängende Dimensionen von Erkenntnis:

  • Die Konstitution von Erkenntnis durch die logische und empirische Welt und ihre Bestandteile/Bedingungen.
  • Die Leistung der logischen und empirischen Produzenten und Träger von Erkenntnis (logisch: erkennendes Subjekt, d.h. humane Akteure, Institutionen, Systeme).
  • Die methodisch und theoretisch geleitete Konstitution des Gegenstands von Erkenntnis (Objekt der Reflexion), die Definition eines Themas aus der Welt.
  • Das methodisch und theoretisch geleitete Prozessieren mit dem Gegenstand bis zur Erzeugung von (logisch:) Erkenntnis und (empirisch:) Wissen (Reflektiertes Objekt).
  • Die Auswirkungen von Erkenntnis und Wissen auf die Welt und den Träger der Erkenntnisproduktion.

Die hier schematisch dargestellten Beziehungen und Dimensionen sind grob vereinfacht und analytisch aufgelöst. Die volle Reichweite der Probleme lässt sich nicht auf Skizzen dieser Art reduzieren. Wir benutzen sie in der Folge deshalb auch nur illustrativ. S. 31

Bemerkungen:

  • Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie werden von Anfang an in einem engen Zusammenhang behandelt.
  • Der Unterschied zwischen den Termini „Erkenntnis“ und „Wissen“ bleibt unklar. Auch in der Wissenschaft werden Erkenntnisse gewonnen.
  • Auch wenn, wie angegeben, schematische Darstellungen immer nur Vereinfachungen der Sachverhalte sind, wird die Rolle des erkennenden Subjekts beim Übergang vom Gegenstand der Erkenntnis (O1) zu Erkenntnis und Wissen (O2) mit dem Schema 0nicht erfasst.

2     Die Anfänge von Erkenntnistheorie

Mit Platons Schüler und Nachfolger Aristoteles erreicht die Erkenntnistheorie der griechischen Philosophie ihren Höhepunkt und Abschluss. Was er entwickelt, fasst vieles zusammen, was vorher gedacht wurde, tut dies auf sensationell neue Weise und kommt damit auf ein Niveau, welches für nahezu 1000 Jahre(!) Bezugspunkt und Messlatte aller weiteren Abläufe wurde. S. 48

Aristoteles ist damit der Begründer einer modernen – wissenschaftlichen – Erkenntnistheorie. Sein Werk, seine Kategorien und vor allem die Syllogistik wurden in der Folge zum Symbol, wenn nicht Synonym von objektiver Erkenntnis. […] Aristoteles hat (nicht nur in Bezug auf Erkenntnistheorie) ein Werk hinterlassen, das einmalig ist. Sein außerordentlich differenziertes, gleichwohl immer auch nüchternes und pragmatisches Denken, seine Fähigkeit zur kategorialen Gliederung von komplexen Sachverhalten war eine Stilvorlage für alles, was nachfolgte. Es gibt kaum ein Thema, kaum eine Interpretationsstrategie, die er nicht durchdacht und in einen weiteren Kontext eingebettet hat. – Mit den „großen Drei“ (Sokrates, Platon, Aristoteles) ist die griechische Philosophie auf ihrem Höhepunkt, aber auch an ihrem Ende angekommen. S. 53

Bemerkung:

  • Die gleiche Aussage lässt sich für Hegel treffen. Auch er hat alle Themen durchdacht, in die aktuelle Diskussion eingebettet und Vorlagen geliefert für alles was danach kommt. Wie die antiken Philosophen hat er auch eine eigene Sprachkultur entwickelt und muss historisch verankert werden.

 

3     Der Neubeginn unter veränderten Bedingungen

Die Philosophie blieb im Mittelalter die „Magd der Theologie“ (ancilla theologiae), aber de facto beherrschte sie mit ihren Fragestellungen sehr viele Diskurse. So ist der „Universalienstreit“ – die Frage, ob Allgemeinbegriffe vor aller Realität (wie im Idealismus Platons) oder in vielen Einzelheiten existieren (so die Realisten) oder nur ex-post-Konstruktionen und Benennungen unseres Geistes sind (so die Nominalisten) – nichts anderes als eine breit angelegte und intensiv geführte erkenntnistheoretische Diskussion in theologischem Gewand. Und sie enthält im Kern bereits einige der zentralen erkenntnistheoretischen Grundpositionen, die später neu fundiert und ausgearbeitet wurden: Idealismus, Realismus und Konstruktivismus (in der Gestalt des Nominalismus).

Auf diese Weise konservierte und pflegte die Theologie erkenntnistheoretisches Denken in einer Zeit, die eigentlich gar keine Erkenntnistheorie brauchte, und bot zugleich eine Art Sprungbrett für die bürgerliche Erkenntnistheorie der frühen Neuzeit. S. 60

Rationalismus

Als Rationalismus wird eine Perspektive bezeichnet, die davon ausgeht, dass Erkenntnis nicht allein aus den empirischen Gegebenheiten hervorgeht, sondern durch intellektuelle Leistungen hervorgebracht wird. S. 63

Descartes geht von der unbestreitbaren Möglichkeit des Irrtums aus und zieht in Form eines Gedankenexperiments eine radikale Konsequenz: Was wäre, wenn man annimmt, dass alles Empirische nur Täuschung ist? Das einzige, was dann noch als sicher übrig bleibt, ist das Ich, welches diese Annahmen macht: „Ich habe mich überredet, daß es schlechterdings nichts in der Welt gibt: keinen Himmel, keine Erde, keine Geister, keine Körper, also doch wohl mich selbst nicht? Keineswegs: ich war sicherlich, wenn ich mich dazu überredet habe.“  (Descartes 1960 [1637], 100) Es kann also alles in Frage gestellt werden – nur das Ich des Fragenden nicht. „Ich bin, ich existiere, soviel ist gewiß.“ (A. a. O., 101) Und dieses Ich kann (da alles Empirische fraglich ist) kein materielles Wesen sein; es ist ein geistig aktives Ich. „Was bin ich …? Ein denkendes Ding! … Ein Ding, das zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will“. (A. a. O.) Diese „res cogitans“, welche sich mit der materiellen Welt („res extensa“) auseinandersetzt, ist also der einzig definitive Bezugspunkt von Erkenntnis. S. 65

In Ideen wird die Welt erfasst. Andererseits muss etwas vorhanden sein, das erschließbar ist und gleichzeitig der Möglichkeit von Ideen vorausgeht. Da dies nicht die unsicheren empirischen Dinge sein können, sieht Descartes ihren Grund in einer transzendentalen Substanz, in Gott: „Unter dem Namen Gottes verstehe ich eine Substanz, die unendlich, unabhängig, von höchster Einheit und Macht ist, und von der ich selbst geschaffen worden bin, ebenso wie alles andere Existierende, falls es nämlich existiert.“ (A. a. O., 113) Gott bleibt also letzte Ursache.

Die methodische Erfassung von Regeln erfolgt durch die Mathematik, wobei den angewandten Wissenschaften die „Universalmathematik“ zugrunde liegt. „Das Wort ‚Mathematik‘ … (bedeutet) dasselbe wie ‚Wissen‘.“ (A.a. O., 32) Zur Mathematik gehört alles, wo „nach Ordnung und Maß geforscht wird“, wobei es nicht darauf ankommt, „ob man dieses Maß nun in den Zahlen oder in den Figuren oder Gestirnen oder den Tönen oder in irgendeinem anderen Gegenstande zu suchen hat.“ (A. a. O.) Die Universalmathematik ist also die Sprache der Universallogik der Wirklichkeit. Die Fähigkeit, Mathematik zu verstehen, ist dem (entsprechend geschulten) menschlichen Verstand eigen (kann aber verschüttet werden) – eine bemerkenswerte Ehre. S. 66

Diese Trennung von Subjekt und Objekt gilt als Ursprung einer folgenreichen Aufspaltung der Welt in zwei Bereiche – in Geist und Materie. S. 66

Bemerkungen:

  • Descartes hat bedeutende Beiträge zur Entwicklung der Mathematik geliefert. Als erster hat er eine Verbindung zwischen Algebra und Geometrie hergestellt und damit Grundlagen für die analytische Geometrie gelegt. Er hat in dem Zusammenhang als erster mit Variablen, also mit Bezeichnungen für veränderliche Größen gearbeitet und damit die bisherige statische Dominanz mathematischer Betrachtungen qualitativ verändert.
  • Ausgehend von seinen mathematischen Arbeiten hatte er das Ziel, eine allgemeine philosophische Methode zur Lösung aller Probleme der Philosophie zu entwickeln. Die Anstrengungen führten aber zu keinem Ergebnis.

Leibniz

Zu den Erkenntnistheoretikern, die auf Descartes’ Pfaden weitergegangen sind, gehören vor allem Leibniz und Spinoza. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), oft auch als das „letzte Universalgenie“ der Geschichte bezeichnet, weil er sich mit allen damals bekannten Wissenschaften (mehr oder weniger intensiv) beschäftigte, ist vor allem als Mathematiker (als einer der Begründer der Infinitesimalrechnung) bekannt geworden. Seine rationalistische Erkenntnistheorie ist originell. Er greift das Substanz-Konzept auf (die Welt besteht aus einer einzigen Substanz), sieht die Substanz jedoch in Form von kleinsten Einheiten, die er Monaden nennt. Die Monaden sind körperlose, nicht auf materielle Einflüsse reagierende Einheiten, die nicht teilbar sind, aber untereinander in Austausch stehen. S. 67

Bemerkungen:

  • Für sein Konzept der Infinitesimalrechnung hat Leibniz mit unendlich kleinen (infinitesimalen) Größen gerechnet. Dieser Zugang wurde dann nicht weiter verfolgt, ist aber in jüngster Zeit im Rahmen der Nicht-Standard-Analysis (NSA) wieder aufgegriffen worden. Möglicherweise hat ihn das Operieren mit den unendlich kleinen Größen zu seiner Theorie der Monaden angeregt.

Spinoza

Baruch Spinoza (1632–1677) entwickelt das rationalistische Denken in einer anderen Hinsicht weiter und kommt dabei ebenfalls zu revolutionären Vorstellungen, die Verbote und Verfolgungen zur Folge haben. Sein Denken wird dadurch charakterisiert, was Monismus (Einheit von Gott und Natur) und Naturalismus (der Mensch wird als Teil der Natur verstanden) genannt wird. Rationalistisch ist vor allem die Annahme, dass die Ordnung der Ideen und die Ordnung der Welt identisch sind. Diese Identitätsvorstellung hat weitreichende Folgen. Spinoza geht davon aus, dass es nur eine Substanz gibt, die alles – die gesamte Welt, Gott und sich selbst – umfasst. Gott ist daher nicht vor oder außerhalb der Natur; die Natur ist Gott. S. 68

Empirismus

Bacon

Als Wegbereiter des Empirismus gilt Francis Bacon (1561–1626). […] Der Titel bedeutet denn auch klipp und klar „neues Werkzeug“. Gemeint ist das methodische Werkzeug für sämtliche Wissenschaften. Herstellerin dieses neuen Werkzeugs ist die oberste Wissenschaft. Sie wacht darüber, dass wahre Erkenntnis entsteht; Bacon sieht in ihr vor allem eine Kritikerin der anderen Disziplinen. Sie muss auf die Vorurteile aufmerksam machen, die unserem Denken anhaften, und sie überwinden, denn wahre Erkenntnis ist nur möglich, wenn wir uns von Vorurteilen befreien. Bacon nennt die Vorurteile „idola“, d.h. Trugbilder, und teilt sie in vier Gruppen ein. Die idola tribus („Trugbilder des Stammes“) sind diejenigen der menschlichen Gattung. Wir können die Wirklichkeit nur mit den Mitteln unseres Verstandes und unserer Sinne erfassen, die immer ein verfälschtes Bild der Wirklichkeit erzeugen. S. 69

Die idola specus („Trugbilder der Höhle“) sind die Vorurteile des einzelnen Menschen, die individuell verschieden sind je nach Veranlagung, Erziehung, Gewohnheit und Neigung. „Die Idole der Höhle sind die Idole des einzelnen Menschen. Denn ein jeder hat (neben den Abirrungen der menschlichen Natur im allgemeinen) eine Höhle oder eine gewisse nur ihm eigene Grotte, welche das Licht der Natur bricht und verdirbt, teils infolge der eigenen und besonderen Natur eines jeden; teils infolge der Erziehung und des Verkehrs mit anderen, teils infolge der Bücher, die ein jeder mit Vorliebe liest, und der Autoritäten, denen er Verehrung Bewunderung zollt; teils infolge der Unterschiedlichkeit der Eindrücke, wie sie einer voreingenommenen und vorurteilsvollen Sinnesart oder aber einer gleichmütigen und gesetzten Stimmung entsprechen und dergleichen mehr. Daher ist offenbar der menschliche Geist in seiner Verfassung bei den verschiedenen Individuen ein veränderliches, unberechenbares Ding.“ (Bacon 1990a, S. 164) S. 71

Bemerkungen

  • Dies entspricht meiner Idee des Gedankengebäudes eines Menschen, als den individuellen Grundsätzen, Vorstellungen, Erfahrungen und sonstigen Voraussetzungen der eigenen geistigen Tätigkeit.

Bacons schärfster Hinweis ist der auf die idola theatri („Trugbilder des Theaters“): Hier geißelt er die Irrtümer, die in den philosophischen Schulen entstehen und tradiert werden, und vergleicht ihre Theorien mit Theaterinszenierungen. Tatsächlich büßen ja viele Theorien durch ihre Verschulung Erkenntniswert ein. Theorien können durch ihre Verschulung an Reflexion verlieren und dogmatisch werden; dann werden sie zu Institutionen, in denen der Zwang, auf bestimmte Weise zu denken, dominiert. Auch dem Theater schenken wir Glauben, wenn wir uns in den Bann einer gelungenen Inszenierung ziehen lassen.

„Es gibt endlich Idole, welche in den Geist der Menschen aus den verschiedenen dogmatischen Behauptungen philosophischer Lehrmeinungen wie auch aus den verkehrten Gesetzen der Beweisführung eingedrungen sind; diese nenne ich die Idole des Theaters; denn so viele Philosophien angenommen und erfunden worden sind, so viele Fabeln sind nach meiner Auffassung damit geschaffen und für wahr unterstellt worden, welche die Welt als unwirklich und erdichtet haben erscheinen lassen … Und ich beziehe dies wiederum nicht bloß auf die allgemeinen philosophischen Systeme, sondern auch auf die Prinzipien und auf eine große Anzahl von Lehrsätzen der Wissenschaften, welche durch Tradition, Leichtgläubigkeit und Nachlässigkeit Geltung erlangt haben.“ (Bacon 1990a, S. 164–165) S. 72

Bacons Wahrheitsbegriff ist dem Utilitarismus, aber auch dem heutiger Neo-Konstruktivisten verwandt – wahr ist, was in der Praxis am besten als Handlungsanleitung funktioniert: „Konsequenz aus der Theorie von den Naturen ist, daß das am wahrsten ist, was in der Handlung am nützlichsten ist.“ (Bacon 1990b, Aph. B4) S. 74

Locke

Derjenige, der das empiristische Forschungsprojekt Bacons als Erster konsequent ausformuliert und erkenntnistheoretisch begründet hat, ist John Locke. Für ihn folgt Gewissheit nicht aus dem Denken, sondern aus dem sinnlichen Wissen. Es ist „… der tatsächliche Empfang von Ideen aus der Umwelt, der uns von der Existenz anderer Dinge Kunde gibt und uns erkennen läßt, daß im gegebenen Augenblick wirklich etwas außer uns existiert, was jene Ideen in uns hervorruft, wenn wir vielleicht auch weder erkennen noch danach fragen, wie sich dieser Vorgang abspielt. Denn es beeinträchtigt nicht die Zuverlässigkeit unserer Sinne und die Gewißheit der Ideen, die sie uns vermitteln, daß wir nicht wissen, auf welche Weise sie zustande kommen. (Locke 2017, S. 304) S. 78

Locke hat die Sinne als Pforten zur Welt angesehen. Sein Argument dafür ist, dass die Sinne nicht trügen und er meint, dass alles mit den Sinnen zu erfassen sei. S. 81

Die Aggregation von Ideen verläuft immer gleich, so dass sich immer der gleiche Überbau entwickelt. Die Wahrheit komplexer Ideen entsteht durch Induktion: Aus Einzelfällen bildet der menschliche Verstand allgemeine Erkenntnisse. Das generalisierende Verfahren der Induktion ist für Locke deshalb auch in der Wissenschaft legitim. S. 82

Induktion ist also schlicht und einfach menschlich und überlebenswichtig. Mit diesem Argument wandte sich Locke gegen allzu ausgeprägten Fundamentalismus und plädierte für ein Vorgehen mit Augenmaß. – Lockes Erkenntnistheorie mutet modern an. Sein Rückgriff auf die Sinne erscheint aus heutiger Sicht gerade deshalb so geschickt, weil er das daraus entstehende Wissen relativiert. Trotzdem rief seine Theorie Widerspruch hervor, wobei der Begriff der Induktion ins Zentrum der Kritik gerückt wurde. S. 83

Hume

Locke glaubte also, das Erkenntnisproblem durch die Bindung an die sinnliche Erfahrung lösen zu können. David Hume folgte ihm in diese Richtung nach und radikalisierte den Sensualismus noch. Seiner Meinung nach gehen alle Vorstellungen auf die unmittelbar gegebenen Sinneseindrücke (impressions) zurück; Ideen sind für ihn nur ein blasses Abbild, welches sich im Gedächtnis erhält. Wissen ist für ihn dementsprechend nichts als die Verknüpfung von Sinneseindrücken zu Vorstellungen und die Verbindung zwischen diesen Vorstellungen (aus denen sich abstrakte Muster, etwa mathematische Formeln, ergeben). S. 83-84

„Kausalität“ ist daher eine Vorstellung, die sich aus der wiederholten Erfahrung der zeitlichen Folge von Erfahrungen ergibt (und nicht ein Produkt geistiger Leistung). Die aktive Leistung des Denkens beschränkt sich dabei auf die Registrierung und Ordnung des Erfahrungsflusses nach bestimmten Assoziationsprinzipien. „Alle unsere Vorstellungen sind Abbilder unserer Eindrücke.“ (Hume 2014, S. 34) Daher gibt es für Hume ein einfaches Kriterium zur Beurteilung von Vorstellungen: „Welchem Eindruck entstammt diese … Vorstellung?“ (A.a. O., 37) S. 84

So entwickelt Hume einen erkenntnistheoretischen Skeptizismus. Er wendet sich gegen jeden „radikalen Skeptizismus“, der seiner Meinung nach auf Selbstnegation und Nihilismus hinausläuft und für ihn keinen Sinn ergibt. […] Er schreibt: „Mir scheint, daß die einzigen Gegenstände der abstrakten und demonstrativen Wissenschaften Größe und Zahl sind und daß alle Versuche, diese vollkommeneren Arten des Wissens über diese Grenzen hinaus auszuweiten, bloße Sophisterei und Blendwerk sind.“ (A.a. O., 204) – Damit hat Hume nicht nur dem Rationalismus, sondern auch dem optimistischen Programm von Locke den Boden entzogen. Alles, worauf sich Erkenntnis stützen kann, sind (irrtumsanfällige) Erfahrungen und deren registrierbare Verbindungen. Inhaltliche Theorien – die Aussagen über die Logik von empirischen Sachverhalten treffen wollen – lassen sich nicht definitiv begründen; sie haben in empirischen Feststellungen keine Basis. S. 86

Bemerkungen:

  • Die britischen Empiristen Bacon, Locke und Hume hatten alle keinen mathematischen Hintergrund. Das könnte eine Ursache sein, dass sie mit deduktiven, formalen Überlegungen wenig vertraut waren.

Deutscher Idealismus

Kant

Humes radikaler Skeptizismus wurde zum Ausgangspunkt für eine der bedeutensten Leistungen der bürgerlichen Erkenntnisphilosophie. Immanuel Kant gilt als der Philosoph, der die Leistungen von Rationalismus und Empirismus in einer großartigen Synthese zusammengeführt hat und dabei zu einer Konzeption kommt, die in gewisser Weise heute noch richtungsweisend ist. Kant teilt Humes Einsicht, dass aus empirischer Erfahrung keine Theorie entstehen kann. Aber anstatt in Skepsis zu verharren, unternimmt er den Versuch, die verschiedenen Ansätze in einem allgemeineren Rahmen zu integrieren und dabei auf eine neue Grundlage zu stellen. Diese Grundlage nennt er „transzendentalphilosophisch“, was bedeutet, dass er die Bedingung von jeder möglichen Erkenntnis behandelt. S. 88

Seine Ausgangsfrage lautete: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Diese synthetischen Urteile a priori betreffen allgemeine und notwendige Urteile, die von der Erfahrung unabhängig sind, obwohl sie auf Erfahrung basieren. […] Kant revolutionierte den Rationalismus, indem er ihn logisch und empirisch fasste. Der Kern seiner Argumentation: Dem menschlichen Bewusstsein sind bestimmte Denkformen vorgegeben, die überhaupt erst Erfahrungen ermöglichen. Die Formen der Anschauung – die Ordnung der Dinge in Raum und Zeit – und die Kategorien des Verstandes (wie Kausalität), aber auch andere grundlegende Ideen der Vernunft gehen jeder Erfahrung voraus und sind die geistigen Instrumente, mit denen Wirklichkeit überhaupt erfasst werden kann. S. 90

Ausdrücklich betont Kant die Möglichkeit und Notwendigkeit der methodischen Kontrolle auch dieser Grundlagen der Erkenntnis und schlägt dafür ein doppeltes Prüfverfahren vor, das logische und empirische Stimmigkeit überprüft und Letzterer das letzte Wort überlässt: „Diese dem Naturforscher nachgeahmte Methode besteht also darin: die Elemente der reinen Vernunft in dem zu suchen, was sich durch ein Experiment bestätigen oder widerlegen läßt. Nun läßt sich zur Prüfung der Sätze der reinen Vernunft, vornehmlich wenn sie über alle Grenze möglicher Erfahrung hinaus gewagt werden, kein Experiment mit ihren Objekten machen (wie in der Naturwissenschaft): also wird es nur mit Begriffen und Grundsätzen, die wir a priori annehmen, tunlich sein, indem man sie nämlich so einrichtet, daß dieselben Gegenstände einerseits als Gegenstände der Sinne und des Verstandes für die Erfahrung, andererseits aber doch als Gegenstände, die man bloß denkt, allenfalls für die isolierte und über Erfahrungsgrenze hinausstrebende Vernunft, mithin von zwei verschiedenen Seiten betrachtet werden können. Findet es sich nun, daß, wenn man die Dinge aus jenem doppelten Gesichtspunkte betrachtet, Einstimmung mit dem Prinzip der reinen Vernunft stattfinde, bei einerlei Gesichtspunkte aber ein unvermeidlicher Widerstreit der Vernunft mit sich selbst entspringe, so entscheidet das Experiment für die Richtigkeit jener Unterscheidung.“ (A. a. O., 26) Diese Perspektivenumkehr wird – angeregt von Kants eigenem Vergleich – als die „kopernikanische Wende“ der Erkenntnisphilosophie bezeichnet. S. 94

Kant ist der erste Erkenntnistheoretiker, der die systematische Differenz zwischen dem realen Gegenstand und dem reflektierten Gegenstand hervorhebt. Damit begründet Kant – in Weiterentwicklung des frühen Rationalismus, der über weite Strecken dogmatisch bleibt – das, was heute als „Konstruktivismus“ bezeichnet wird. Theorie ist immer eine Rekonstruktion des Gegenstandes, nie eine Abbildung des Gegenstandes selbst. – Kant hat damit die Erkenntnistheorie auf ein neues Niveau gehoben: S. 95

Bemerkungen:

  • Die Autoren verwenden jetzt oft den Terminus „Erkenntnisphilosophie“ anstelle von „Erkenntnistheorie“, unter den Unterschied dieser beiden Termini zu erläutern.
  • Die Differenz zwischen dem realen Gegenstand und seiner mentalen Reflexion wurde schon vor Kant in der Philosophie thematisiert, es ist zum Beispiel ein Aspekt des Höhlengleichnisses von Platon. Der Bezug zum Konstruktivismus und zur Abbildtheorie ist vielschichtiger als von den Autoren dargestellt. Sie sind offensichtlich Anhänger des Konstruktivismus, was im Buch noch an mehreren Stellen zum Ausdruck kommt.

Hegel

Der wichtigste Gegenspieler Kants im Rahmen der „idealistischen Philosophie“ ist G. E. W. Hegel (1770–1831). Hegels Philosophie gehört zum Umstrittensten, was die Philosophiegeschichte hervorgebracht hat. S. 96

Dabei ist sein Denken radikal idealistisch, d. h. er stellt die Idee in den Mittelpunkt seiner Theorie. Fasst man sein Grundkonzept zusammen, so klingt es wie eine säkularisierte Theologie: Die Welt verdankt ihr Entstehen der Selbstentäußerung eines „absoluten Geistes“ und die Entwicklung der gesamten Wirklichkeit wird getrieben von der Bewegung des Geistes auf dem Weg zurück zu sich selbst bzw. zu einer neuen, perfekten Gestalt. […] Bereits an dieser Stelle zeigt sich ein wichtiger Gesichtspunkt, der Hegels Lehren kennzeichnet: In Anknüpfung an Anregungen der griechischen Philosophie (Heraklit: „alles fließt“) denkt er konsequent und radikal in Bewegungen. Es „gibt“ für ihn nichts; alles ist Teil von Prozessen. S. 97

Entwicklung ist für ihn daher immer auch ein Zerfallsprozess, durch den eine Weiterentwicklung erst möglich wird. Es handelt sich also nicht um einen linearen Fortschritt, sondern um einen Prozess voller Konflikte, Auseinandersetzungen und Widersprüche. Die Logik dieser Art von Entwicklung hat Hegel durch das bekannte dreistufige Modell dargestellt: S. 99

Hegel ist nicht nur der Erste, der sich Erkenntnis als Bewegung und Entwicklung vorstellt (und Erkenntnistheorie damit quasi auf das Niveau einer dynamischen Gesellschaft bringt), er lenkt auch als Erster den Blick auf die gesellschaftliche Bedingtheit und die gesellschaftliche Funktion – auf das, was die moderne Wissenschaftsforschung dann genauer untersucht hat. S. 102

Bemerkungen

  • Es ist zunächst anerkennenswert, dass die Autoren Hegel so ausführlich im Rahmen ihrer kurzen Übersicht über die Geschichte der Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie dargestellt haben. Die Ausführungen zu Hegel zeigen aber, dass die Autoren wesentliche Momente nicht erfasst haben. Das ist angesichts der Problematik seines Denkens kaum verwunderlich. Mit den ausführlichen Bemerkungen zu Problemen der sinnlichen Gewissheit einschließlich eines langen Zitates haben sie durchaus Aspekte dieser Problematik erfasst. Ansonsten finden sich die üblichen Vereinfachungen von dem Dreischritt und der Identität von Identität und Nichtidentität.

4     Der Beginn der Wissenschaftstheorie: Positivismus und Positivismus-Kritik

Mit Kant und Hegel endet die große Zeit der bürgerlichen Erkenntnisphilosophie. Sie verschwindet zwar nicht, aber sie verliert ihre exklusive Bedeutung und wird zu einer Sparte der akademischen Philosophie, die ihrerseits ihre dominante Position als Ort des Diskurses verliert und zu einem Fach unter anderen wird. Diese Entwicklung ist bedingt durch den tief greifenden gesellschaftlichen Wandel, der sich bereits im 18. Jahrhundert anbahnte und sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts radikalisiert. Das im Zusammenhang mit dieser Umwälzung meistgebräuchliche Stichwort ist „industrielle Revolution“. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass es sich um eine tiefe strukturelle Veränderung in allen relevanten gesellschaftlichen Bereichen handelt. Die Soziologie betrachtet als gemeinsamen Nenner aller dieser Veränderungen die Umstellung auf das Prinzip der „Funktionalen Differenzierung“. S. 107

Im 19. Jahrhundert setzte sich das Prinzip der „Funktionalen Differenzierung“ auf breiter Front durch. Es bedeutet vor allem, dass die einzelnen gesellschaftlichen Teilbereiche sich von externer Kontrolle emanzipieren und eine Eigenlogik entwickeln. Dadurch folgt der Umgang mit Themen (vorrangig) themenspezifischen Kriterien. Es bilden sich also eigene, (weitgehend) unabhängige Subsysteme bzw. -welten, die auf bestimmte Themen konzentriert sind und sich deren Logik anpassen. S. 108

Die Fächer, die an der Universität lange Zeit die wichtigsten waren – Religion, Philosophie – verloren ihre Vorherrschaft. Die bis dahin an Universitäten gar nicht (oder nur im Rahmen von Philosophie betriebenen) naturwissenschaftlichen Fächer profitierten am meisten von den Veränderungen und erlebten einen beispiellosen Aufschwung. In nur kurzer Zeit wurde das weitgehend spekulative Bild der Welt ersetzt durch ein empirisch begründetes und theoretisch formuliertes – also wissenschaftliches – Bild. Dadurch wurden die Naturwissenschaften zum neuen Leitfach der Universität; der empirische Forscher und Theoretiker wurde zum neuen „Bildungsideal“ des neuen (natur-)wissenschaftlichen Zeitalters – mit allen Vor- und Nachteilen. –

Mit der komplexen Philosophie Kants und Hegels wollten sie – obwohl es vor allem Kant um die Begründung der Möglichkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis ging – nichts zu tun haben. Alles, was nicht mit dem neuen, erfolgreichen Modell in Verbindung stand, erschien auf einmal als hoffnungslos veraltet und rückständig. Damit war die Zeit der bürgerlichen Erkenntnisphilosophie zu Ende. An ihre Stelle trat ein neues Konzept, das die Entwicklung zur Wissenschaft widerspiegelte: Wissenschaftstheorie löste Erkenntnistheorie ab. Gleichzeitig wurden die Theorien der Erkenntnis selbst zu einem wissenschaftlich organisierten Diskurs. S. 111-112

Bemerkung:

  • Es ist fraglich, ob man von einer Ablösung der Erkenntnistheorie durch die Wissenschaftstheorie sprechen kann. Die Beziehungen dieser beiden Disziplinen sind weitaus komplizierter wie in einem gesonderten Artikel noch untersucht werden soll.

Positivismus

Die erste und über weite Strecken dominante Form der theoretischen Begründung von Wissenschaft wird „Positivismus“ genannt. Der Ausdruck stammt von dem französischen Philosophen(!) Auguste Comte. Sein umfangreiches Buch „Cours de la philosophie positive“ (mehrere Bände, 1830–1845) war vor allem eine massive Absage an jegliche Form von „Metaphysik“, wobei er darunter alles verstand, was nicht handfest empirisch nachweisbar ist. Gelten sollte nur noch, was positiv demonstrierbar ist und in Messwerten dokumentiert werden kann. Alles andere ist Spekulation und hat mit Wissenschaft nichts zu tun.

Dieser Positivismus machte (paradoxerweise) als „Leitphilosophie“ der neuen Wissenschaft eine bemerkenswerte Karriere. Auch ohne ausführliche Auseinandersetzung damit und ohne genauere Vorstellung darüber, was dies genau bedeutete, waren sich die meisten Vertreter vor allem der Naturwissenschaften einig, dass Wissenschaft mit „Positivismus“ weitgehend identisch sei. S. 112

Mill

Einer der Ersten, der den Versuch unternahm, den Positivismus zu einer systematischen Theorie wissenschaftlicher Erkenntnis auszubauen, war John Stuart Mill (1806–1873). Sein umfangreiches Werk „System of Logic“ ist insofern Ausdruck der Veränderungen, als es den Versuch darstellt, eine modernisierte Fassung von Logik zu entwickeln. S. 113

Wissenschaft ist also ein Verfahren der aktiven Induktion qua Beobachtung und Experiment. Ihre Ergebnisse sind objektive Erkenntnisse über feststehende Kausalitäten, die die Wirklichkeit enthält. Irgendwelche Erkenntnisse über das „wahre Wesen“ der Welt sind damit nicht verbunden. S. 115

Mill greift also die „empiristische“ Tradition der Erkenntnistheorie auf und bringt sie auf das Niveau des wissenschaftlichen Zeitalters. Es sind nicht mehr die einfachen Verfahren wie bei Bacon und der Sensualismus von Locke wird ersetzt durch das Vertrauen auf korrekte Methoden. Gleichzeitig schränkt sich jedoch der Umfang dessen, was behandelt wird, ein. Auf dem Weg von der bürgerlichen Erkenntnisphilosophie hin zur Wissenschaftstheorie geht der Stand, den jene erreicht hatte, verloren. Dies hängt zunächst damit zusammen, dass die (neue) Wissenschaftstheorie sich von der (alten) Erkenntnistheorie abgrenzen will und muss und daher deren Formen und Themen für obsolet erklärt. Der inhaltliche Kern ist jedoch, dass Wissenschaft als institutionalisierte und institutionell gebundene Form der Erkenntnis eine Einengung mit sich bringt: Eine ganze Reihe von Themen lassen sich im (damaligen) Verständnis wissenschaftlicher Forschung nicht mehr unterbringen bzw. abbilden. Vor allem wird durch die starke Zentrierung auf Methoden als alleinigem Weg zur Wahrheit (verbunden mit dem Glauben, eine kausal strukturierte Welt ließe sich allein mit quantifizierenden Methoden erfassen) das „erkennende Subjekt“ – von Kant sozusagen gerade erst in seiner Bedeutung hervorgehoben – aus dem Themenkreis der Wissenschaftstheorie ausgeschlossen. Auch die Interaktion von Erkenntnis und Welt (im Sinne von Hegel) ist nun kein Thema mehr. Was bleibt, ist die (alleinige) Betonung der Methode. S. 116

Bemerkungen:

  • Es werden die Probleme einer historisch orientierten Darstellung der Wissenschaftstheorie deutlich. Die Aussagen in Bezug auf den Ausschluss von Themen aus der Wissenschaftstheorie beziehen sich auf die damalige, durch den Positivismus charakterisierte Entwicklungsstufe.

Kritik am Positivismus kam zunächst von den Fächern, die sich durch den enormen Aufstieg der Naturwissenschaften nicht nur in die zweite Reihe zurückgedrängt sahen, sondern es zudem auch noch hinnehmen mussten, dass ihnen in Form des imperativischen Positivismus auch noch vorgehalten wurde, sie seien nicht wissenschaftlich, weil sie keine quantifizierenden Methoden verwendeten. Was sich daraus entwickelte, war ein eigenes methodologisches Konzept der nunmehr sogenannten „Geisteswissenschaften“, … S. 117

Vico hatte (gegen Descartes gerichtet) den erkenntnistheoretischen Grundsatz aufgestellt: „Nur das kann erkannt werden, was einer selbst hervorgebracht hat.“ (Vico 1966 [1725], 51) Da die Geschichte das ist, was die Menschen selbst erzeugen, können sie sie auch erkennen – im Gegensatz zu Gottes Schöpfung, die nicht in ihrem Wesen erkennbar ist. Was sich daraus ergab, war eine Art „Zwei-Welten“-Theorie: Die unerkennbare (nur beschreibbare) Schöpfung und die erkennbare Geschichte. Diese Unterteilung wurde zum Ausgangspunkt für die Selbstverortung der Geisteswissenschaften. Im Laufe der Diskussion entwickelte sich daraus – zum Teil in Anlehnung an Hegel – eine Gegenüberstellung von „Natur“, dem bloß empirisch Gegebenen, und der humanen Realität, die von höherer Notwendigkeit bestimmt wird, von „Sittlichen Mächten“ (so etwa Droysen, 1868). S. 118

Dilthey

Dilthey brachte diese Identifizierung von Geschichte mit Sinn schließlich auf den Punkt. Für ihn hatten „Geschichte, Nationalökonomie, Rechts- und Staatswissenschaften, Literaturwissenschaften, Raumkunst und Musikwissenschaften, Philosophie und Psychologie“ eines gemeinsam: dass sie sich „auf dieselbe große Tatsache: Das Menschengeschlecht (beziehen)“. (Dilthey 1981, S. 89) Das Nächstgegebene sind die Erlebnisse. Diese stehen nun aber … in einem Zusammenhang, der im ganzen Lebensverlauf inmitten aller Veränderungen permanent beharrt; auf seiner Grundlage entsteht das, was ich als den erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens beschrieben habe; er umfaßt unsere Vorstellungen, Wertbestimmungen und Zwecke, und er besteht als eine Verbindung dieser Glieder. … Wir besitzen diesen Zusammenhang, er wirkt beständig in uns, die im Bewußtsein befindlichen Vorstellungen und Zustände sind an ihm orientiert, unsere Eindrücke werden durch ihn apperzeptiert, er reguliert unsere Affekte: so ist er immer da und immer wirksam, ohne doch bewußt zu sein.“ (Dilthey 1981, S. 90) S. 118-119

Bemerkungen:

  • Die Aussagen zum „Zusammenhang des Seelenlebens“ entsprechen meinen Vorstellungen von dem individuellen Gedankengebäude eines jeden Menschen. Zu beachten ist allerdings noch, dass dieser „Zusammenhang des Seelenlebens“ auch einen dynamischen Charakter hat. Einschneidende Erlebnisse und Erkenntnisse können zu neuen Strukturen und Inhalten des Gebäudes führen.

Geisteswissenschaften sind also Teil der (geistigen) Wirklichkeit, die sie behandeln. Damit sind sie immer auch in die Geschichte und Selbstreflexion der geschichtlich tätigen Menschen verwoben. Daraus ergibt sich ein Konflikt. „Der Ausgang vom Leben und der dauernde Zusammenhang mit ihm (bildet) den ersten Grundzug in der Struktur der Geisteswissenschaften; beruhen sie doch auf Erleben, Verstehen und Lebenserfahrung. Dieses unmittelbare Verhältnis, in dem das Leben und die Geisteswissenschaften zueinander stehen, führt in den Geisteswissenschaften zu einem Widerstreit zwischen den Tendenzen des Lebens und ihrem wissenschaftlichen Ziel. Wie Historiker, Nationalökonomen, Staatsrechtslehrer, Religionsforscher im Leben stehen, wollen sie es beeinflussen. Sie unterwerfen geschichtliche Personen, Massenbewegungen, Richtungen ihrem Urteil, und dieses ist von ihrer Individualität, der Nation, der sie angehören, der Zeit, in der sie leben, bedingt. Selbst wo sie voraussetzungslos zu verfahren glauben, sind sie von diesem ihrem Gesichtskreis bestimmt.“ (Dilthey 1981, S. 166)

Dilthey löst den Konflikt so: „Ich finde das Prinzip für die Auflösung des Widerstreites in diesen Wissenschaften in dem Verständnis der geschichtlichen Welt als eines Wirkungszusammenhanges, der in sich selbst zentriert ist, indem jeder einzelne in ihm enthaltene Wirkungszusammenhang durch die Setzung von Werten und die Realisierung von Zwecken seinen Mittelpunkt in sich selber hat, alle aber strukturell zu einem Ganzen verbunden sind, in welchem aus der Bedeutsamkeit der einzelnen Teile der Sinn des Zusammenhanges der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt entspringt: so daß ausschließlich in diesem strukturellen Zusammenhang jedes Werturteil und jede Zwecksetzung, die in die Zukunft reicht, gegründet sein muß.“ (Dilthey 1981, S. 167) Diesem Pfad wollte auf Dauer daher auch kaum jemand folgen. Von längerem Bestand war dagegen Diltheys Überlegung zur Methode, die nun diese Geisteswissenschaften verwenden müssen. Es ist dies die Hermeneutik, die systematische Interpretation von Ereignissen und Zusammenhängen. S. 123

Bemerkungen:

  • Dies scheint mir ein grundlegender Gedanke der Wissenschaftstheorie zumindest in den Geisteswissenschaften zu sein. Es geht um die Beziehung zwischen den eigenen Vorstellungen, Werturteilen und Aktivitäten und ihrer Verallgemeinerung zu einer wissenschaftlichen Theorie. Dies ist eine dynamische dialektische Beziehung im Sinne Hegels, d. h. die eigenen Vorstellungen beeinflussen die Theorie und umgekehrt gründen diese auf der Theorie. Die Ablehnung dieser Überlegungen von Dilthey durch die Wissenschaftler seiner Zeit zeugt erneut von dem Unverständnis für Hegelsches Denken.
  • Der damit beschriebene Prozess ist aber noch komplexer, da die einzelnen Wissenschaftler ihre individuellen Vorstellungen haben und so unterschiedliche theoretische Ansätze entstehen. Ein notwendiger Bestandteil der Wissenschaftstheorie ist deshalb auch die von Hegel beschriebene Auseinandersetzung der neue theoretische Ansätze mit bisherigen.

Der Gegenentwurf zum Positivismus, den Dilthey mit dem Entwurf einer eigenständigen „geisteswissenschaftlichen“ Methodik vorlegt, knüpft, so lässt sich leicht erkennen, an die „rationalistische“ und „idealistische“ Tradition der Erkenntnistheorie an. Auch die geisteswissenschaftliche Hermeneutik hebt die Eigenständigkeit geistiger Leistungen hervor. Sie versucht, deren Vorgaben auf das neue Niveau der Wissenschaft zu heben und sich gleichzeitig (dadurch) gegen die Ansprüche des Positivismus zu wehren, indem sie (verschiedene) qualitative Methoden begründet, die nicht zählen und messen, sondern (kontrolliert) interpretieren. – Dieser Gegensatz zwischen verschiedenen methodologischen und wissenschaftstheoretischen Positionen hat sich bis heute – in Variationen – gehalten. Auch wenn Diltheys Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften kein Thema mehr ist – die grundlegenden Differenzen sind nach wie vor Thema. Während in den Naturwissenschaften zwar in jüngster Zeit konstruktivistische Perspektiven aufgekommen sind und diskutiert werden, aber der „positivistische Geist“ im Grunde genommen ungebrochen herrscht, werden in vielen Human- und Sozialwissenschaften die Fragestellungen, die Dilthey angesprochen hat, nach wie vor – wenn auch mit anderen Mitteln – bearbeitet. S. 127

Marx

Die zweite Art der Kritik am Positivismus überschneidet sich in gewisser Weise mit der methodologischen, sie geht jedoch weiter. Hier wird dem Positivismus nicht nur theoretische und methodische Unangemessenheit vorgeworfen – kritisiert wird der „ideologische“ Charakter des Positivismus. Bereits Bacon hatte ja die Möglichkeit der Verzerrung von Erkenntnis in seiner „Idolenlehre“ diskutiert und dabei nicht zuletzt auf gesellschaftlich bedingte Einflüsse Bezug genommen. Diese Perspektive wird im 19. Jahrhundert von Karl Marx aufgegriffen und vor dem Hintergrund einer „materialistischen“ Neufassung der Hegel’schen Philosophie weiterentwickelt. S. 127

Eine seiner wichtigsten Überlegungen zu diesem Thema ergab sich daraus, dass er zwar Hegels Vorstellung von der widersprüchlichen Einheit der geschichtlichen Entwicklung übernahm, aber dessen Überzeugung, diese Entwicklung werde vom „objektiven Geist“ bestimmt, ablehnte. An die Stelle dieser (idealistischen) Vorstellung setzt Marx ein materialistisches Konzept: Grundlage und Motor der Geschichte ist seiner Meinung nach die Dialektik von Produktivkräften (das gesamte Spektrum menschlicher Leistungen) und Produktionsverhältnissen (die ökonomischen Formen, in denen die Produktivkräfte genutzt werden). Damit ist Marx einer der Ersten, die die zentrale Bedeutung von Technik und Ökonomie als Grundlage der Gesellschaft erkannt haben. S. 129

Soziale Realität ist nicht auf menschliche Intentionen zurückzuführen. Ihre Handlungen sind Elemente eines wesentlich komplexeren Geschehens, welches jedoch keineswegs unlogisch abläuft. Zugleich liegt ein entscheidender Unterschied darin, ob die Akteure diese Logik sozialen Geschehens kennen oder nicht. S. 131

Zunächst verweist Marx also auf die Realität der Gedankenbildung und die Abhängigkeit des Denkens von konkreten inneren und äußeren Umständen. Als Erster betont er damit die Differenz zwischen der Logik und der Empirie der Erkenntnis und wird so zu einem der Begründer der Wissenssoziologie. Dazu fragt er nach der Logik der Steuerung des Denkens. Seine Erklärung: Hinter den bewussten Intentionen der Akteure steht die Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse. S. 131

Damit ergibt sich eine neue Fragestellung und eine revolutionäre Einsicht: Wo kommen die falschen Vorstellungen her? Marx’ Antwort ist die klassische Formel: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“.

„Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen …, aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebenso sehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar psychischen. Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses. Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein. In der ersten Betrachtungsweise geht man von dem Bewußtsein als dem lebendigen Individuum aus, in der zweiten, dem wirklichen Leben entsprechenden, von den wirklichen lebendigen Individuen selbst und betrachtet das Bewußtsein nur als ihr Bewußtsein.“ (Marx und Engels 1956, Bd. 3, S. 26).

Bemerkungen:

  • Das ausführliche Zitat stellt die Zusammenhänge zwischen dem Leben und dem Bewusstsein von Menschen viel zutreffender dar, als übliche Kurzfassung: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Die Rolle des Bewusstseins für das Sein wird von Marx an vielen anderen Stellen dargestellt.

Weder die „Nebelbildungen im Gehirn“ noch die scheinbaren Selbstverständlichkeiten der Welt sind also der richtige Bezugspunkt der Erkenntnis. Sie muss von der bloßen Erscheinung, vom Schein zum Wesentlichen vorstoßen, wobei dieses Wesentliche keine Idee, nichts Abstraktes, sondern die konkreten Bewegungsgesetze der realen Welt sind. Marx’ Ideologiekritik läuft also darauf hinaus, dass menschliches Denken von den gesellschaftlichen Verhältnissen gesteuert wird. Diese einfache Formel ist selbstverständlich konkretisierungsbedürftig, aber vektoriell sicher richtig. Wenn man wissen will, warum bestimmte Ereignisse verschieden interpretiert werden, kann man oft die Erklärung in den Positionen finden, die von den Vertretern verschiedener Sichtweisen eingenommen werden. S. 133-134

Kritische Theorie

In der Wissenschaftstheorie haben die Vorgaben von Bacon und Marx vor allem im Rahmen der „Kritischen Theorie“ zu einer heftigen Auseinandersetzung mit und zur Kritik des Positivismus geführt. S. 134

Diese Zusammenhänge blendet die „Traditionelle Theorie“ – so Horkheimers Bezeichnung für den inzwischen etablierten und weitgehend akzeptierten Positivismus – aus. Sie will/kann daher nicht ihre eigene Bedingtheit erkennen. Denn tatsächlich ist Wissenschaft (nur) als Teil der Gesellschaft zu verstehen: „Wissenschaften … sind Momente des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, mögen sie selbst auch wenig oder gar nicht produktiv im eigentlichen Sinne sein.“ (Horkheimer 1968, S. 146)

Horkheimer übernimmt und präzisiert damit die Perspektiven der Marx’schen Ideologiekritik. Seine Wissenschaftsphilosophie ist vor allem eine Kritik, die nicht versucht, durch Methodologie den Wahrheitsgehalt von einzelnen Feststellungen und Theorien zu überprüfen, sondern deren Abhängigkeit von ihrem Kontext und ihre Auswirkungen darauf zu verdeutlichen. Die Kritische Theorie entwickelt also keine alternative Methodologie, sondern kritisiert die des Positivismus. Das ist ihre Stärke, aber auch ihre Schwäche: Ihr Ideal von Erkenntnis ist honorig, bleibt aber unscharf. Eine „positive“ Wissenschaftstheorie kann und will sie ausdrücklich nicht anbieten. S. 136

Bemerkungen:

  • Das ist eine sehr knappe Charakterisierung der kritischen Theorie aus Sicht ihres Beitrages zur Wissenschaftstheorie. Die kritische Theorie enthält weit mehr Gedanken und Anregungen, die gesondert dargestellt werden.

 Phänomenologie

Die geisteswissenschaftliche Hermeneutik entwickelte ein methodologisches Gegenmodell zum Positivismus; die Kritische Theorie kritisierte seine inhaltlichen Restriktionen und seine politischen Voraussetzungen/Folgen. – Ein weiteres Paradigma grenzte sich nicht nur gegen den Positivismus, sondern auch gegen seine Gegner ab. Edmund Husserl (1859– 1938) hielt die bisherigen Bemühungen für unzulänglich. Dem Positivismus hielt er entgegen, dass er – wie jeder Empirismus – dogmatisch sei, weil er schlicht ein bestimmtes Konzept von Wirklichkeit voraussetze (was keine Begründung sein könne). Auch der Skeptizismus (der Kritischen Theorie) sei inhaltlich wie methodisch voreingenommen. Gegen die Position von Dilthey grenzte er sich scharf ab, weil er dessen „Historismus“ – die Vorstellung, dass alles historisch relativ gesehen wird und zu sehen sei – ablehnte. Auch die Annahme, dass die Sichtweise den Gegenstand bestimme, sei keine Begründung von Erkenntnis. Schließlich wandte er sich gegen die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmenden Versuche, Erkenntnis durch psychologische Forschung (etwa durch die Identifizierung von Gesetzen der Wahrnehmung) zu fundieren. Der Psychologismus, so Husserl, fände bloß empirische Regeln heraus, die nichts über logische Gültigkeit beanspruchen können. S. 137

Die Grundlage jeglicher Erkenntnis ist der Vorstoß zum reinen Gegenstand. Dieser Vorstoß kann nur dem reinen Ich gelingen, welches sich den Gegenstand vor-stellt. Normalerweise wenden wir uns den Dingen mit bestimmten Intentionen und entsprechend perspektivisch zu: Ein Fleck kann schön oder scheußlich sein – je nach Einstellung. Diese Ausrichtung des Bewusstseins nennt Husserl „noesis“, den so konstituierten Gegenstand „noema“. S. 137-138

Insofern liegt die Möglichkeit objektiver Erkenntnis im Bewusstsein. Bewusstsein ist für Husserl Bewusstsein-von-etwas; und dieses Etwas entsteht erst durch das Bewusstsein (existiert also nicht als „Ding-an-sich“). […] Dazu bedarf es einiger Einschränkungen der Alltags-Methodik des Vorstellens, die Husserl mit dem Begriff der Epoché (griechisch für: Enthaltung) bezeichnet. Zentral ist dabei die „eidetische Reduktion“: Um einen Gegenstand objektiv erfassen zu können, müssen sämtliche alltagsweltlichen Vor-Einstellungen ausgeklammert werden. Das betrifft nicht nur die subjektiven Empfindungen, es betrifft auch das gesamte Spektrum der in den Wissenschaften üblichen Methoden, Theorien, alle Gewohnheiten und Gewissheiten. Das Sokrates-Motto („Ich weiß, dass ich nichts weiß“, was auch bedeutet: alles, was ich zu wissen meine, ist falsch) wird hier also methodisch beschrieben. Darüber hinaus wird bei Husserl jedoch auch von der Existenz von Gegenständen abgesehen: Für die Betrachtung der „Sache selbst“ ist es unerheblich, ob sie existiert oder nicht – es geht Husserls Phänomenologie nicht um die Differenz Sein/Nichtsein, sondern um das, was an einem Gegenstand als wesentlich erfasst wird. S. 138

Was hat man von dieser – im Original natürlich viel komplexeren – Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft? Unmittelbar noch nichts. Die Phänomenologie von Husserl versteht sich als möglichst präzise Beschreibung des Erkenntnisvorgangs und seiner Bedingungen. Sie soll das Verständnis verbessern und verdeutlichen, was im Alltag und auch im Alltag der Wissenschaft im Umgang mit Gegenständen alles vorausgesetzt, verkürzt und verzerrt wird. Sie versteht sich als Grundlagentheorie jeder wissenschaftlichen Arbeit und jeder „streng wissenschaftlichen Philosophie“ – als Beschreibung des Idealfalls disziplinierten Denkens, welches „zu den Sachen selbst“ vorstößt. S. 139

Zugleich hat Husserl jedoch mit seinen Analysen viele Anregungen gegeben – für eine Fülle phänomenologischer Studien (von Scheler bis Merleau-Ponty), aber auch für Existenzphilosophie (Heidegger), den französischen Existenzialismus (Sartre) und die „Sozialphänomenologie“ (Schütz). Alfred Schütz hat Husserls Theorie des Alltagsbewusstseins aufgegriffen und daraus ein allgemeines Modell der Konstitution von Gesellschaft durch die individuelle und kollektive Erzeugung von Sinn und Relevanz entwickelt – eine Theorie, die ihrerseits erheblich zu der konstruktivistischen Kritik am Kritischen Rationalismus beigetragen hat. Die „geisteswissenschaftliche Hermeneutik“ ist eine methodische und objektlogische Alternative zum Positivismus. Die „Kritische Theorie“ ist zudem eine politische Kritik am Positivismus. Husserls Phänomenologie versteht sich als prinzipielle Begründung jeder Form von Wissenschaft. Was sie gemeinsam haben, ist die prinzipielle Kritik am empiristischen Paradigma der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie.

Dagegen haben andere Wissenschaftstheoretiker auch versucht, den Positivismus weiterzuentwickeln. Diese Bemühungen haben zu einer Fülle von internen Diskursen, gegensätzlichen Auffassungen, zu Auseinandersetzungen und Schulenbildungen geführt, … S. 139-140

Bemerkungen:

  • Husserls Phänomenologie ist ein Beispiel für den Einfluss der Mathematik auf philosophische Überlegungen. In seiner Habilitationsschrift (Husserl 1887) hat er versucht, den Begriff der Zahl als philosophische Kategorie zu definieren, wobei er sich auf die natürlichen Zahlen bezieht. Überraschenderweise verwendet er dabei als Mathematiker keine mathematischen Begriffe, Symbole und Betrachtungen, etwa zu einer axiomatischen Festlegung natürliche Zahlen. Er führt den Zahlbegriff in einer Folge von Abstraktionen, die ein Beispiel für seine später so bezeichneten eidetischen Reduktionen sind, auf die Begriffe der „collective Einigung“ und des „Etwas“ zurück (Husserl 1887, S. 62–63). Damit beschränkt er sich auf die rein formalen Aspekte des Zahlbegriffs, wenn er auch nicht die formalen Darstellungen der Mathematik verwendet. Seine Betrachtung hat nach meiner Kenntnis keinen Einfluss auf die axiomatisch erfolgte Festlegung des Begriffs der natürlichen Zahl, die 1889 vom italienischen Mathematiker Giuseppe Peano formuliert wurde. Ein Merkmal der Betrachtungen von Husserl zum Zahlbegriff, das dann auch in seiner Phänomenologie eine zentrale Rolle spielt, ist das Absehen von nichtformalen Momenten der Begriffe. Seine Kritik am Psychologismus verhindert gerade die Hinwendung zur reichhaltigen Fülle begrifflicher Momente.
  • Das Theoriegebäude von Husserl hat zwar zahlreiche Philosophen wie Martin Heidegger, Oskar Becker, Edith Stein, Max Scheler, Alfred Schütz, Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty und Emmanuel Levinas beeinflusst und wurde von Hermann Schmitz in den 1960er Jahren zu einer „Neuen Phänomenologie“ weiterentwickelt, wird aber heute nicht weiter vertreten.

5 Analytische Philosophie, Logischer Positivismus und Kritischer Rationalismus

Mill hatte versucht, die Schwächen des Sensualismus zu beseitigen, indem er die subjektive Leistung (Wahrnehmung) durch ein Instrument – die Methode – ersetzte. Aber seine Annahme, die (richtige) Verwendung der (richtigen) Methode garantiere die Wahrheit von Aussagen über die Wirklichkeit, wurde schon bald auch von Autoren kritisiert, … Zumindest erschien den meisten Theoretikern Mills Optimismus, die Methode gewährleiste einen verlässlichen Gegenstandskontakt, zweifelhaft – es gab bei näherer Betrachtung keine zwingenden Gründe dafür, dass die Methode allein Objektivität begründen konnte. Von dieser Kritik am frühen Positivismus ausgehend wurden verschiedene Wege beschritten, um dessen Ziel doch noch zu erreichen.

Ein wichtiger, vor allem im angelsächsischen Raum auch heute noch populärer Weg ergab sich nicht zuletzt durch die Entwicklung der formalen Logik. S. 141

Dadurch erweiterte sich der Horizont der Logik, sie wurde zugleich aber auch immer abstrakter und entwickelte sich zu einer allgemeinen Theorie des Zusammenhangs zwischen Form und Gültigkeit von Argumenten. Die vielfältigen Anregungen, die dieser Entwicklung entstammten, führten zu einer Wiederaufnahme der wissenschaftstheoretischen Diskussion.

Analytische Philosophie

Besonders angeregt wurde dadurch ein Diskurs, der später als „Analytische Philosophie“ bezeichnet wurde. Nachdem die Vernunftkritik von Kant als veraltet und der Methodenoptimismus des Positivismus als naiv erschien, wurde hier ein anderer Weg gesucht. Man kam zu der Überzeugung, dass die Begründung von Wahrheit nicht durch die Methode – die praktische Kontaktaufnahme mit der Realität – erfolgen konnte, sondern allgemeiner angelegt sein musste. Allgemeiner als die Frage, wie der Kontakt zur Realität aussieht, ist die, wie denn der gesamte Prozess der Erkenntnis formuliert werden kann. Daher kam man zu der Überzeugung, dass die Wahrheitsfähigkeit von Erkenntnis auf der Ebene der Überprüfung von Aussagen, also auf der der Sprache stattfinden muss – auf der Ebene, auf die alle Schritte des Erkenntnisprozesses übersetzt werden müssen. Das Programm der Wissenschaftstheorie wird in der Analytischen Philosophie daher zur Sprachkritik. S. 142-143

Bertrand Russell (1872–1970), von Haus aus Mathematiker und mit der Weiterentwicklung der Logik beschäftigt, versuchte, eine eigene Formalsprache für wissenschaftliche Aussagen zu entwickeln. Das „Russell-Programm“ der Analytischen Philosophie bestand also darin, eine von der Umgangssprache getrennte Kunstsprache zu entwickeln, mittels der Aussagen möglich sind, die von den Zweideutigkeiten und Unzulänglichkeiten der Alltagssprache befreit sind. Dagegen bemühte sich George Edward Moore (1873–1958), die Schwierigkeiten der Wissenschaftssprache durch eine Reduktion auf die Umgangssprache zu lösen. Er ging davon aus, dass jede Umgangssprache („ordinary language“) einen unproblematischen Kern enthält, der Verständigung erlaubt. Die „Moore-Strategie“ zielt daher in Richtung einer Begründung von Fachsprachen durch den unverwüstlichen Kern der natürlichen Sprache und unternimmt Versuche, diesen herauszuarbeiten. S. 144

Wittgenstein

Besonders ein Autor wurde zur Schlüsselfigur in der Entwicklung der Analytischen Philosophie: Ludwig Wittgenstein. In der Literatur wird zwischen dem „frühen“ und dem „späten“ Wittgenstein unterschieden und tatsächlich kann man deutliche Unterschiede erkennen. Sein frühes Werk „Tractatus logico-philosophicus“ gilt als eines der Hauptwerke der Analytischen Philosophie. Obwohl (oder weil) es nicht unbedingt völlig konsistent ist und einen ungewöhnlichen, manchmal sprunghaften Stil aufweist, hat es bis heute enormen Einfluss auf ihre weitere Entwicklung gehabt. Im Vorwort fasst Wittgenstein seine Arbeit in zwei Sätzen zusammen, die in der Theorieentwicklung immer noch als Bezugspunkt dienen: „Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.“ (Wittgenstein 2019, S. 9) Er fährt fort: „Das Buch will also dem Denken eine Grenze setzen oder vielmehr – nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken: Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müßten wir beide Seiten dieser Grenzen denken können (wir müßten also denken können, was sich nicht denken läßt). Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.“ (A. a. O.) – Damit sind die Grundgedanken in der Tat gut charakterisiert. S. 146

Damit gelingt Wittgenstein gewissermaßen das Kunststück, das „Russell-Programm“ der Entwicklung einer perfekten Sprache der Wissenschaft und das „Moore-Programm“ der Reduktion von problembeladenen Fachsprachen auf den unzerstörbaren Kern der Umgangssprache zu verbinden: Für ihn ist im „Tractatus logico-philosophicus“ die Sprache selbst – logisch verstanden – per se bereits die perfekte Form. Als er sich nach einer langen Pause wieder seinem Thema widmete, versuchte er, dieses Modell noch weiter auszuarbeiten. Aber seine Überlegungen führten ihn Schritt für Schritt zu einem geradezu entgegengesetzten Konzept, welches zwar sprachzentriert bleibt, aber die (optimistische) Idee einer wahrheitsfähigen Einheitssprache aufgibt. In seinen (posthum erschienenen) „Philosophischen Untersuchungen“ stellt er zunächst fest, dass die traditionelle Bestimmung von Sprache als Kombination von Bezeichnungen zu Sätzen zu simpel ist. Was dabei vor allem fehlt, ist der Blick auf die „Verwendung der Sprache“ (Wittgenstein 2019, S. 238) S. 149

Die Hoffnungen der frühen Analytischen Philosophie wurden damit jedoch im Wesentlichen begraben. Die Analytische Philosophie hat sich jedoch als eigenständiger Diskurs erhalten. Nach wie vor wird intensiv darüber nachgedacht, wie man (in der Nachfolge von Russell) eine Kunstsprache zur Wahrheitsfähigkeit perfektionieren oder ob man (in der Tradition von Moore) in der Umgangssprache den wahrheitsfähigen Kern finden kann. Gemeinsam ist beiden „Flügeln“, dass

sie zwar stark an empirischen Wissenschaften orientiert sind, aber gern intuitive Mittel wie „Gedankenexperimente“ nutzen und sich an einzelnen „Sprachhandlungen“ abarbeiten. Zugleich hat die starke Orientierung an der Logik der/und Sprache häufig die Folge, dass Geschichte und Entwicklungen ausgeblendet werden. Entsprechend abgeschottet verlaufen die Diskussionen der Analytischen Philosophie häufig. Dennoch hat sie immer wieder wichtige Anstöße für weitreichende Diskussionen gegeben (wie z. B. die „Sprechakttheorie“ von Searle oder „the Concept of Mind“ von Ryle) und auch prominente „Dissidenten“ (wie Rorty) hervorgebracht. S. 151

Bemerkungen

  • Und wieder waren es Mathematiker und Logiker, die mit ihren formalen Überlegungen und ihrer Unfähigkeit zum dialektischen Denken die Philosophie wesentlich beeinflusst haben.
  • Auf die aktuelle Bedeutung der analytischen Philosophie, insbesondere im angelsächsischen Raum, gehen die Autoren nur kurz ein. Ich habe den Eindruck, dass sich auch viele deutsche Philosophen vielleicht auch in dem Bemühen um internationale Reputation der Analytischen Philosophie annähern. Ein Beispiel ist Michael Quante, der sich u. a. gründlich mit Hegel und Marx beschäftigt. Obwohl er 1992 über Hegels Begriff der Handlung promovierte, geht er in seinem Buch „Philosophische Handlungstheorie“ von 2020 an keiner Stelle auf Hegel ein. Zusammen mit anderen Hegel-Forschern gab er ein Buch zu den Grundideen von Hegels Phänomenologie des Geistes in englischer Sprache heraus (Moyar und Quante 2010).
  • Analysen von Literatur zur Erkenntnistheorie aus dem Bereich der Analytischen Philosophie zeigen, dass erkenntnistheoretische Probleme in einer sehr speziellen Art und Weise behandelt werden, die sich deutlich von den Ausführungen dieser Autoren unterscheiden.

Logischer Positivismus

Ein anderer Weg der Weiterentwicklung des frühen Positivismus, der einige Zeit lang mit der Analytischen Philosophie eng verbunden war und parallel dazu verlief, wird heute als „Neo-Positivismus“ oder auch „Logischer Positivismus“ bezeichnet. Auch der Logische Positivismus ging davon aus, dass die Begründung von Wahrheit allein durch Methoden ebenso wenig gelingen kann wie durch Induktion; auch er wurde entscheidend von den Entwicklungen der formalen Logik angeregt und begab sich auf die Suche nach einer perfekten Formalisierung wissenschaftlicher Erkenntnis. Seine Vertreter standen der „Russell-Strategie“ sowie Wittgenstein nahe und versuchten vor allem, den Übergang von der praktischen Forschung zur Theorie und die theoretische Konservierung von Erkenntnissen zu sichern. Besondere Bedeutung erlangte im Rahmen dieser Bemühungen der „Wiener Kreis“, eine Gruppe von Wissenschaftlern rund um den Physiker und Philosophen Moritz Schlick. Beflügelt von den Fortschritten der Wissenschaft und der Logik entwickelte der „Wiener Kreis“ ein noch ehrgeizigeres Projekt: Es sollte nicht nur die Wissenschaft auf eine einheitliche Erkenntnisbasis gestellt, sondern auch die klassische Philosophie als Logik von Erkenntnis erneuert werden. S. 152

Ziel war die Begründung einer allumfassenden „wissenschaftlichen Weltanschauung“, also einer Weltanschauung, die keine mehr ist, weil sie objektiv begründet ist. Selbstverständlich dachte man dabei an (nur) eine Art von Wissenschaft. Das Ziel war dementsprechend eine einheitswissenschaftliche“ Begründung von Aussagen, wobei für die Vertreter dieser Position nur die Tradition des Empirismus zu diesem Zweck in Frage kam. S. 152

Bei Wittgenstein war Verifizierbarkeit nur die Bedingung sinnvoller Sprache, beim Logischen Positivismus wurde sie zum ausschließlichen Kriterium für jede Argumentation. Rudolf Carnap (1891–1970), ein prominenter (und radikaler) Vertreter dieser Position, benutzte dieses radikalisierte Sinnkriterium zum Ausschluss aller „unsinnigen“ Aussagen. Sie sind seiner Meinung nach „Scheinsätze“. Sprache besteht für Carnap aus Vokabular und Syntax. S. 153

Beide Projekte – die Begründung einer Metasprache und die Frage der genauen Gestalt eines Protokollsatzes – konnten letztlich ebenso wenig abschließend geklärt werden wie die Frage, wie denn beide Sprachen verbunden sind. Zudem musste der Logische Positivismus, um die Tücken des reinen Empirismus zu überwinden, zumindest in der Variante von Carnap die Eigenständigkeit der Logik – unabhängig von der empirischen Realität – annehmen, also eine Position beziehen, die eindeutig „rationalistisch“ bzw. „idealistisch“ ist und daher vielen Positivisten schwer im Magen lag. – Die Entwicklung des Logischen Positivismus kam daher ins Stocken und brach schließlich ab, ohne dass sein ehrgeiziges Programm vollendet worden wäre. Es zeigte sich, dass auch ein ins Logische übersetzter Positivismus sein Ziel nicht erreichen konnte. S. 554-555

Bemerkungen

  • Erstaunlich sind die klaren Wertungen der Autoren zu den Entwicklungen.
  • Die Konsequenzen aus dieser Einschätzung, wenn sie denn zutrifft, wären eine andere Herangehensweise an die Geschichte der Philosophie. Bisher werden alle Entwicklung mehr oder weniger gleichwertig nebeneinandergestellt, ausführlich besprochen und auch durchaus kritisch kommentiert. Mir ist bisher nicht bekannt, dass bestimmte Entwicklungsrichtungen und Theorien als Irrweg oder nicht sinnvoll bezeichnet werden. Dies wäre für Anfänger von großer Bedeutung, es enthebt sie der gründlichen Beschäftigung mit diesen Theorien.
  • Voraussetzung wäre allerdings, dass man die Irrtümer und Fehlentwicklungen sowie deren Hintergründe genau beschreibt, weil man daraus auch lernen kann, was man nicht machen sollte.

Kritischer Rationalismus

Der Theoretiker, der am grundlegenden Paradigma des Empirismus festhielt, gerade deshalb zu einem scharfen Kritiker des Positivismus wurde und daher eine Neubegründung versuchte, war Karl Raimund Popper. Popper hielt einige Zeit lang Kontakt, aber auch kritische Distanz zum Wiener Kreis, der Brutstätte des Logischen Positivismus. So sehr er dessen grundlegende Überzeugungen teilte, so sehr hielt er die dort beschrittenen Wege für wenig zielführend. Er kam zur Überzeugung, dass das „Hume-Problem“ – die grundlegende Differenz zwischen Erfahrung und Theorie – nicht lösbar sei und zog daraus Konsequenzen. S. 157

„Die Naturgesetze (‚Theorien‘) können widerspruchsfrei als ‚teilentscheidbare‘ (d.h. aus logischen Gründen zwar nicht verifizierbare, wohl aber einseitig falsifizierbare) echte Wirklichkeitsaussagen angesehen werden, die durch Falsifikationsversuche methodisch überprüft werden.“ (Popper 1971, 254f.) Popper „halbiert“ also das Kriterium der Entscheidbarkeit: Definitiv verifizierbar sind Aussagen nie, weil Wahrheit prinzipiell nicht erreichbar ist. Aber sie sind definitiv falsifizierbar. S. 159

Damit ist für Popper das Falsifizierungskriterium das Ei des Kolumbus der Wissenschaftstheorie: „Die Annahme teilentscheidbarer Sätze löst somit nicht nur das ‚Induktionsproblem‘ (es gibt nur einen Typus von Schlüssen, die in induktiver Richtung fortschreiten, nämlich den – deduktiven – modus tollens), sondern auch das (so gut wie allen Fragen der ‚Erkenntnistheorie‘ zugrunde liegende) ‚Abgrenzungsproblem‘; das ‚Kriterium der Falsifizierbarkeit‘ gestattet, die ‚Wirklichkeitswissenschaften‘, die empirisch-wissenschaftlichen Systeme gegen die metaphysischen (aber auch gegen die konventionalistisch-tautologischen) Systeme mit hinreichender Schärfe abzugrenzen – ohne jedoch die Metaphysik (als deren Niederschläge ja, historisch gesehen, die erfahrungswissenschaftlichen Theorien auftreten) für ‚sinnlos‘ erklären zu müssen. (A. a. O., 255f.)

Dies war in der Tat ein radikaler Schritt: Wissenschaft hat nicht mit Theorien im klassischen Sinn – mit Systemen wahrer Aussagen über die Wirklichkeit – zu tun, sondern mit immer nur vorläufig akzeptierten Hypothesen – Annahmen – über die Logik der Wirklichkeit. Die Akzeptanz von Hypothesen ergibt sich nicht aus ihrem (letztlich nicht objektiv feststellbaren) Wahrheitsgehalt, sondern daraus, dass sie sich bewährt haben. Und diese Akzeptanz gilt so lange, bis eine andere Hypothese sich besser bewährt. „Man wird sich wohl daran gewöhnen müssen, die Wissenschaft nicht als ein ‚System unseres Wissens‘, sondern als ein System von Hypothesen aufzufassen, d.h. von grundsätzlich unbegründbaren Antizipationen, mit denen wir arbeiten, so lange sie sich bewähren, ohne daß wir sie als ‚wahr‘ oder auch nur als ‚mehr oder weniger sicher‘ oder ‚wahrscheinlich‘ ansprechen dürfen.“ (A.a. O., 258) Dieses Modell ist später als „Kritischer Rationalismus“ bezeichnet worden. Man könnte sagen: Der Kritische Rationalismus ist die „moderne“ Form des Empirismus. S. 161-162

Popper verzichtet gänzlich auf den Wahrheitsanspruch. Den Anspruch auf Fortschritt und Verbesserung der Welt durch Erkenntnis behält er in gewisser Weise bei, aber er spricht nicht mehr vom Erreichen der Ziele (Wahrheit, Beherrschung der Wirklichkeit), sondern davon, dass sich wissenschaftlicher Fortschritt permanent diesen Zielen annähert (ohne sie je zu erreichen). Darin spiegelt sich einerseits die Skepsis, die sich auch hier bei Versuchen, das ursprüngliche Konzept zu realisieren, einstellte, aber andererseits auch der fortbestehende Glaube an den Fortschritt und die Perfektionierbarkeit des Projekts Wissenschaft. Wissenschaft ist gleichbedeutend mit Fortschritt; was sie nicht erreichen kann, ist nicht erreichbar. Und sie kann ihre Ziele nur durch das erreichen, was Popper als Kritizismus bezeichnete – durch ständige, hartnäckige Überprüfung von Interpretationen und Befunden. S. 162

Der Kritische Rationalismus hatte für Popper jedoch noch eine andere, eine politische Funktion. Er selbst engagierte sich schon früh politisch und stand den sozialdemokratischen Reformbemühungen der 20er-Jahre nahe. Seit den 30er-Jahren wandte er sich mit aller Schärfe gegen totalitäre Regime. Als Wissenschaftstheoretiker galt sein besonderes Augenmerk theoretischen Entwürfen, in denen er Grundlagen für Totalitarismus zu entdecken glaubte. Dabei sah er vor allem in „idealistischen“ Entwürfen (von Platon bis Hegel) eine große Gefahr, weil sie dazu verführten, die Welt unrealistisch zu sehen oder gar irrationale Herrschaftssysteme zu errichten (Platon hatte eine Art von Gelehrtendiktatur propagiert; Hegel hatte hinter allem eine übermenschliche Vernunft wirken gesehen, der man sich letztlich nur unterwerfen kann). Alle Theorien, aus denen sich entweder die Sicherheit, zu wissen, was richtig und was zu tun sei, ableitete, lehnte er ebenso ab wie Theorien, die alles relativierten (den Marxismus daher ebenso wie den so genannten „Historismus“). S. 164

Poppers Kampf gegen die von ihm als „unwissenschaftlich“ betrachteten Ansätze hat zwei Seiten. Auf der einen Seite steht seine energische Kritik am Totalitarismus und dem, was er als dessen „geistige Wurzeln“ ansah. Damit trug er zur Stützung einer wehrhaften Demokratie bei. Auf der anderen Seite tendierte er dazu, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Er verdammte nicht nur wichtige Theoretiker viel zu pauschal; er konnte dadurch auch die Probleme, die diese erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch zu lösen versuchten, (und erst recht deren Lösungsversuche) nicht angemessen behandeln. So mündeten seine Versuche, Objektivität und Vorurteilsfreiheit zu verteidigen, ihrerseits gelegentlich in Dogmatik. S. 165

Bemerkungen

  • Popper war ein expliziter wissenschaftlicher und politischer Gegner von Hegel und Marx. Für eine genaue Analyse siehe den Artikel „Kritik an Hegel“
  • Der Hintergrund seiner Überlegungen zur Falsifizierbarkeit wissenschaftlicher Theorien ist das grundlegende Festhalten an der formalen Logik. Falsifizieren heißt, dass eine Theorie überprüft wird, ob sie falsch ist. Diese naive Betrachtung, die nur die Kategorien richtig oder falsch kennt, ist zur Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theorien nur in seltenen Fällen geeignet. Dies beträfe etwa mathematische Theorien, die man in der Regel mithilfe der zweiwertigen formalen Logik analysieren kann. Aber schon bei grundlegenden Fragen, wie etwa denen zur Axiomatisierung einer mathematischen Theorie, versagen diese elementaren Überlegungen.
  • Aber solche Theorien wie etwa die von Hegel oder Marx pauschal abzutun, kann nur als wissenschaftliche Ignoranz bezeichnet werden. Theorien müssen im Hegelschen Sinne aufgehoben werden.
  • Von Poppers Theorie bleibt nur übrig, dass man Theorien immer kritisch betrachten sollte.

6     Kritik des Kritischen Rationalismus

Poppers Kritischer Rationalismus wurde in weiten Kreisen der Wissenschaft als Nachfolger des traditionellen Positivismus akzeptiert. Sein „Kritizismus“ wurde von vielen – besonders auch von jenen, die sich nur am Rande mit Wissenschaftstheorie beschäftigten – als Synonym für die Wissenschaftlichkeit, für die Einheit von Fortschritt und Wissenschaft und für die politische Vernunft verstanden. S. 166

Bemerkungen

  • Es ist erstaunlich, wie schnell sich Wissenschaftler aktuellen Theorien anschließen. Die von Popper proklammierte kritische Haltung hätte man ja auch zuerst auf seine Theorie anwenden können.

Positivismus-Streit

Auch die Ideologiekritik am Positivismus wurde erneuert. Wieder ging es vor allem darum, dass auch dem Kritischen Rationalismus vorgeworfen wurde, ein viel zu enges, zu einseitiges und vor allem ein politisch verzerrtes und einseitiges Bild der Wirklichkeit zu vertreten.

Einen Höhepunkt erreichten diese Auseinandersetzungen im so genannten „Positivismusstreit“ der deutschen Soziologie. Die Kontrahenten waren Popper und die Anhänger des Kritischen Rationalismus auf der einen Seite, Adorno, Habermas und andere Vertreter der Kritischen Theorie auf der anderen Seite. Mit großem Aufwand wurden die mehr oder weniger bekannten Argumente bzw. Vorwürfe noch einmal wiederholt bzw. neu aufbereitet. Der Kritische Rationalismus warf den Vertretern der Kritischen Theorie vor, wild zu spekulieren und nie Beweise für ihre Thesen vorzulegen; ihrerseits bekamen sie zu hören, dass sie hirn- und sinnlos methodenfixiert seien und einen „methodologisch halbierten Rationalismus“ vertreten würden (so Habermas). Die Auseinandersetzungen endeten wie das Hornberger Schießen – ohne Ergebnis. Jede Seite fühlte sich bestätigt und ermutigt, weiter wie bisher zu verfahren und bei den eigenen wissenschaftstheoretischen Überzeugungen zu bleiben. Insofern fügte sich auch diese Diskussion in die lange Tradition von ergebnislosen Kontroversen, des Missverstehens und des Beharrens auf bereits bezogene Positionen ein. S. 167

So sehr man sich darüber einig war, dass Theorie unabhängig von Erfahrung sei und dass sie zur Erfassung von Komplexität ein angemessenes internes Leistungsvermögen besitzen müsse, so sehr unterschieden sich die Begründungen und Ausformulierungen. Schlagworte, die in diesem Zusammenhang häufig Verwendung fanden, waren „Hermeneutik“, „Dialektische Theorie“ und „Qualitative Methodologie“. Es bestand jedoch keinerlei Einigkeit darüber, was darunter genau zu verstehen sei. S. 168

Bemerkungen

  • Dies ist ein weiterer Beweis für meine Theorie der Gedankengebäude, in denen sich Menschen aber auch Wissenschaftler aufhalten und diese nicht verlassen können. Diesen Kampf auf Leben und Tod einer Theorie hat Hegel allegorisch beschrieben, was allerdings kaum jemand der Interpreten richtig gedeutet hat. Es haben sich an diesem Beispiel sehr deutlich die Grenzen diskursiver Debatten gezeigt. Es ist offensichtlich in vielen Fällen nicht möglich, dass sich Vertreter gegensätzlicher Positionen verständigen können. Dies ist insbesondere dann schwierig, wenn es eigentlich keine Kompromisse zwischen den Positionen gibt.
  • Es gibt nur zwei Lösung dieses Problems. Man kann zum einen die Zeit arbeiten lassen, in der sich dann ergeben kann, dass eine Theorie ausstirbt, unter anderem, weil sie sich als nicht konstruktiv zur Lösung von aktuellen Problemen erweist. Die andere Möglichkeit besteht darin, dass aus einer übergeordneten Sicht (Gedankengebäude) eine Bewertung der beiden Theorien erfolgt und Vertreter der übergeordneten Sicht sich durchsetzen können.

Kuhn

Parallel dazu kam es noch zu einer weiteren, neuen Form der Kritik am Positivismus. Als Begründer dieser Form von Wissenschaftsforschung gilt Ludwik Fleck (1896–1961), der untersuchte, wie sich Wissenschaft aufgrund der (historisch bedingten) Dynamik von Denkstilen entwickelt. Daraus entwickelte sich im Werk von Thomas Kuhn (1922–1996) eine frontale Attacke gegen das herkömmliche Verständnis von Wissenschaft. […] Anhand empirischer Untersuchungen – vorrangig aus dem Bereich der Naturwissenschaften – stellte er fest, dass die Theorie des stetigen Fortschritts der Wissenschaften ein Mythos ist. Um zu beschreiben, wie sich Wissenschaften wirklich entwickeln, verwendete er das Konzept des „Paradigmas“. „Paradigma“ bedeutet eigentlich Beispiel; Kuhn versteht darunter ontologische, methodologische und theoretische Leitvorstellungen und -konzepte. Die Wissenschaftsgeschichte versteht er als einen Prozess, in dem bestimmte Paradigmen eine Zeit lang „herrschen“, dann aber abgelöst werden. S. 168

Oft enthalten neue Paradigmen keine wirklich besseren Lösungen. Wenn sie bestimmte Probleme besser lösen, lösen sie dafür andere oft schlechter. Es kommt daher laut Kuhn auch zu keiner Verifikation von Theorien, noch nicht einmal zur Falsifikation von Theorien (das ist für Kuhn ebenso wenig möglich wie Verifikation). In Wahrheit wird die „Wahrscheinlichkeit im Lichte tatsächlich vorhandener Daten“ geschätzt (a.a. O., 156). Dies ist jedoch keine logische Entscheidung, sondern eine, die zwischen verschiedenen Paradigmen getroffen wird. Verschiedene Paradigmen sind aber „inkommensurabel“ – sie passen nicht zusammen, können sich nicht verständigen und nicht koexistieren. Sie leben, so Kuhn, in „verschiedenen Welten“. […] Der Effekt: „Der Wettstreit zwischen Paradigmata kann nicht durch Beweise entschieden werden.“ (A. a. O.) Dass ein Paradigma besser sei, wird (so Kuhn) daher auch nicht bewiesen, sondern in der Gruppe der Forscher irgendwann unterstellt(!). S. 171

Sein Ansatz hat jedoch in vieler Hinsicht das Nachdenken über Wissenschaft angeregt. So hat beispielsweise Imre Lakatos (1922–1974) das „Paradigmen“-Konzept genauer untersucht und dabei unterschieden zwischen dem „harten Kern“ eines Denkmodells und dem „protective belt“, also den schützenden Zusatzannahmen, von denen es umgeben ist. Diese Unterscheidung eröffnete die Möglichkeit eines flexibleren Umgangs mit Theorien: Auch wenn sie Unzulänglichkeiten oder gar Fehler enthalten, bedeutet das nicht, dass sie zur Gänze falsch sind. […] Was sich dabei zeigte, war ein wesentlich komplexeres Bild von Erkenntnis und Wissenschaft: Die Forschung konnte zeigen, dass und wie die Forschungspraxis und ihre Entwicklung tief mit den jeweiligen Bedingungen verknüpft war und ist, dass Forschung stets ein multifaktorieller Prozess ist, in dem sehr verschiedene Bedingungen zusammenspielen, und dass auch die Kategorien, die sie verwendet, und die Prinzipien, von denen sie sich leiten lässt, nicht etwa „natürlich“ gegeben, sondern Produkte der Umstände sind und dementsprechend nicht immer gleich bleiben, sondern eine Geschichte haben, in deren Verlauf sie sich z. T. erheblich ändern. S. 173

Bemerkungen

  • Die meisten paradigmatischen Beispiele von Kuhn für seine Theorie der Paradigmen stammen aus den Naturwissenschaften, wie etwa das ptolemäische und kopernikanische Weltbild oder die Newtonsche Physik und die Relativitätstheorie. Es ist für einen Naturwissenschaftler kaum nachvollziehbar, in diesen Fällen nicht von einer Höherentwicklung der Physik zu sprechen sowie die Verifizierbarkeit der neuen Erkenntnisse zu leugnen oder zu behaupten, dass die neuen Theorien keine bessere Lösung bieten und sich die Wissenschaftler mehr weniger zufällig darauf geeinigt hätten.
  • Im Bereich der Gesellschaftswissenschaften kann man allerdings, insbesondere auch in der Philosophie die von Kuhn beschriebene Problematik nachvollziehen. So kann man etwa die Analytische Philosophie als ein neues Paradigma bezeichnen, das mit der bisherigen Kontinental-Philosophie nicht kommensurabel ist und durch eine Gruppe von Wissenschaftlern mehr oder weniger zufällig manifestiert wurde.
  • Die Unversöhnlichkeit verschiedener Paradigmen hat sich gerade auch im Positivismus-Streit gezeigt.
  • Meine Theorie der Gedankengebäude hat Beziehungen zu dem Begriff des Paradigmas von Kuhn.

Knorr-Cetina

Eine Vertreterin dieser neuen, mikrologischen Wissenschaftsforschung ist Karin Knorr-Cetina. Sie praktiziert keine „positivistische“ Sozialforschung, sondern „teilnehmende Beobachtung“ – eine Methode, bei der von größter Wichtigkeit ist, im Feld, vor Ort, genau und aufmerksam zu beobachten, was wirklich passiert und sich dabei möglichst wenig von Vorschriften beeinträchtigen zu lassen. Ihr Bericht über die „Fabrikation von Erkenntnis“ (1984) basiert auf einer solchen intensiven Beobachtung des Geschehens in einem biochemischen Labor. […] Sie beschreibt dabei die praktische Realität wissenschaftlicher Forschung in all ihren Facetten. Es handelt sich um ein Milieu, in dem es um viel Geld, das investiert und erwartet wird, geht, aber auch um Status und Anerkennung, um Karrieren und Konkurrenz, um Macht und Hierarchie S. 174

Was Knorr-Cetina damit zeigen will: Im Forschungsalltag kann überhaupt keine Rede davon sein, dass aus Theorien Hypothesen abgeleitet werden, die dann rigoros überprüft werden (womöglich nach dem Hempel-Oppenheim-Schema). Tatsächlich kam es zu einem permanenten Entscheidungsprozess, der auch ganz anders aussehen könnte und wesentlich von nicht-sachlichen Themen (verfügbare Technik, verfügbare Materialien, soziale Abhängigkeiten, Karriereinteressen usw.) mitbestimmt wird. Und was davon dargestellt wird, ist ein künstliches Produkt, das als „Ergebnis“ bezeichnet wird und keine Spuren seiner Erzeugung mehr aufweist. S. 176-177

Bemerkungen:

  • Die Untersuchungen von Knorr-Cetina charakterisieren treffend die aktuelle Situation. insbesondere im Bereich der naturwissenschaftlichen Forschung. Eine Konsequenz wäre allerdings, auf die gesellschaftlichen Ursachen dieser Situation einzugehen und über Modelle in einer postkapitalistischen Gesellschaft nachzudenken.
  • In der DDR war nach meinen Beobachtungen die Situation durchaus qualitativ anders. Auch wenn der Mangel an entsprechenden wissenschaftlichen Geräten in der naturwissenschaftlichen Forschung eine große Rolle spielte, waren die Forschungsprojekte trotzdem durchdacht konzipiert und langfristig angelegt.
  • Die Ergebnisse können auf den Bereich der gegenwärtigen mathematikdidaktischen Forschungen übertragen werden. Die von ihr genannten Faktoren beeinflussen in erheblichem Maße auch die Forschungsaktivität auf diesem Gebiet.

Feyerabend

Die dritte neue Form der Kritik zielte noch grundsätzlicher auf die positivistische Grundphilosophie des hochdisziplinierten und -kontrollierten Gebrauchs von Theorien und Methoden ab. Sie wurde von Paul Feyerabend (1924–1994), einem ursprünglichen Schüler von Popper, auf den Punkt gebracht. In seiner wissenschaftstheoretischen Provokationsschrift mit dem Titel „Wider den Methodenzwang“ rechnet er mit dem ab, was ihm an Positivismus und Kritischem Rationalismus als rigide Zwangsjacke des Denkens erschien. Er schreibt „in der Überzeugung …, daß der Anarchismus vielleicht nicht gerade die anziehendste politische Philosophie ist, aber gewiß eine ausgezeichnete Arznei für die Erkenntnistheorie und die Wissenschaftstheorie.“ (Feyerabend 1986, S. 28) S. 177

„Es ist … klar, daß der Gedanke einer festgelegten Methode oder einer feststehenden Theorie der Vernünftigkeit auf einer allzu naiven Anschauung vom Menschen und seinen sozialen Verhältnissen beruht. Wer sich dem reichen, von der Geschichte gelieferten Material zuwendet und es nicht darauf abgesehen hat, es zu verdünnen, um seine niedrigen Instinkte zu befriedigen, nämlich die Sucht nach geistiger Sicherheit in Form von Klarheit, Präzision, ‚Objektivität‘, ‚Wahrheit‘, der wird einsehen, daß es nur einen Grundsatz gibt, der sich unter allen Umständen und in allen Stadien der menschlichen Entwicklung vertreten läßt. Es ist der Grundsatz: Anything goes (Mach, was du willst).“ (A. a. O., 45) S. 179

 Bemerkungen:

  • Erstaunlich ist, dass das Buch von Feyerabend aus dem Jahre 1986 bereits seine 16. Aufl. erlebte. Seine anarchistische, nihilistische und resignative Sicht auf die Entwicklung von Wissenschaften findet offensichtlich immer noch Anhänger.
  • In Bezug auf die Existenz genereller Methoden für alle Wissenschaften mag dies durchaus zutreffen, aber in Bezug auf eine Einzelwissenschaft ist dies eine sehr destruktive Haltung.
  • Betrachtet man allerdings die Vielzahl der philosophischen Richtungen, die auch in diesem Buch dargestellt werden, kommt man zu dem Eindruck, dass die Einschätzung von Feyerabend für die Philosophie durchaus zutreffen könnte.

7     Alternativen zum Positivismus: Neo-Konstruktivismus

Selbstverständlich muss einiges an der Kritik relativiert werden. Es ist fraglich, ob Kuhns Modell wirklich auf jede Form von wissenschaftlicher Entwicklung zu jeder Zeit zutrifft oder ob er nicht das, was sich in bestimmten Bereichen bzw. bestimmten Phasen von Wissenschaften ereignet, (über) generalisiert. Es ist auch fraglich, ob die Untersuchungen von Knorr-Cetina den gesamten Wissenschaftsprozess charakterisieren (und nicht nur bestimmte, pragmatische Formen) und auch, ob Feyerabends Kritik an der Dogmatik des Positivismus dessen Nutzen nicht zu klein schreibt. Dennoch: Die Perspektiven machen deutlich, dass der Positivismus weder als Erkenntnistheorie noch als Theorie der Wissenschaft ausreicht bzw. zutreffend ist. – Damit stellt sich die Frage nach Alternativangeboten. Tatsächlich mangelt es daran nicht, im Gegenteil: Es gibt mehr als genug. Aber es ist unübersehbar, dass es wesentlich einfacher ist Kritik zu üben als eine Alternative zu entwickeln, die konsensfähig ist. Die Gegner des Positivismus sind sozusagen in viele verschiedene Strömungen und Subströmungen gespalten. Es gibt zwar eine Reihe von identifizierbaren Traditionen, auf die man sich oft beruft, aber keine einheitliche Gegenposition mit der (einfachen) Prägnanz des Positivismus und des Kritischen Rationalismus.

Dies ist alles andere als ein Zufall. Der Hintergrund, vor dem sich der Positivismus und seine Variationen entwickelte, war der Erfolg eines bestimmten Modells von wissenschaftlicher Forschung: das der quantitativen, experimentellen Analyse und die damit verbundene Form der Theorie. Dieses Modell hat zwar den Nachteil, dass es nicht überall passt und sich auf bestimmte Ausschnitte der Wirklichkeit beschränken muss.

Aber es hat den Vorteil, dass es standardisierbar und parallelisierbar ist. Dadurch sind auch wissenschaftstheoretische Aspekte auf Standardprobleme reduzierbar. Ebenso (relativ) einfach

ist die Kritik an diesem standardisierten Programm – eben weil es für viele Problemlagen nicht passt. Die Sache sieht allerdings anders aus, wenn man versucht, ein umfassendes Gegenprogramm zu entwerfen S. 187-188

Und so sehr viele Theoretiker der Ansicht sind, dass der Blick sich auf Zusammenhänge, die Totalität, das Gesamtsystem usw. richten muss, so wenig konnte daraus eine einheitliche Methodologie oder ein einheitliches Theorieverständnis abgeleitet werden. S. 189

Bemerkungen:

  • Es fällt den Wissenschaftstheoretikern offensichtlich schwer, sich damit zu begnügen, dass sie theoretische Aussagen für bestimmte Bereiche von Wissenschaften treffen können. Schon Descartes wollte eine allgemeine Methode zur Bearbeitung wissenschaftlicher Probleme finden.
  • Ich halte es aber durchaus für möglich, dass man Aussagen treffen kann, die für alle Wissenschaften zu treffen. Ein Beispiel ist eine allgemeine Struktur eines Problemlöseprozesses und damit verbundene heuristischen Orientierungen. Auch Grundgedanken von Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes sind aus meiner Sicht als allgemeine Orientierungen für alle Wissenschaften geeignet.

 Pragmatismus

Einige versuchen, die Theorie stärker an die Praxis zu binden und daraus Begründungen zu entwickeln. Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Anregungen, die vom „Pragmatismus“ ausgehen. Ein für die Erkenntnistheorie zentraler Autor ist C. S. Peirce (1839–1914). Er sieht eine anthropologische Begründung von Forschung darin, dass der Zweifel ein unangenehmer Zustand sei, den der Mensch zu überwinden trachte. Ziel sei stets ein Zustand der Überzeugung,

der es erlaubt, Verhaltensregeln – „habits of behaviour“ – zu entwickeln, mit deren Hilfe man unter gegebenen Umständen bestimmte Ziele erreicht. S. 189

Daher ist für Peirce das Denken (und damit die symbolische Verarbeitung von Wirklichkeit) im Kern nichts anderes als die Herstellung von praktischen Wirkungen. Seine „Pragmatische Maxime“ des Erkennens lautet daher: „Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Relevanz haben könnten, wir dem Gegenstand unseres Begriffes in der Vorstellung zuschreiben. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das Ganze unseres Begriffs des Gegenstandes.“ (Peirce 1976, 195) Wir denken also in praktischen Wirkungszusammenhängen. S. 190

Bemerkungen

  • Die Auffassungen von Peirce werden nur sehr verknappt wiedergegeben. Er hat sich zum Beispiel von der Bezeichnung „Pragmatismus“ im Laufe seiner wissenschaftlichen Arbeit (ab 2005) distanziert und vom Pragmatizismus in Bezug auf seine Auffassungen gesprochen, ohne dass sich seine Aussage in der „Pragmatischen Maxime“ ändert. Im Unterschied zum Pragmatismus, demzufolge es die praktischen Konsequenzen und Wirkungen einer lebensweltlichen Handlung oder eines natürlichen Ereignisses sind, die die Bedeutung eines Gedankens bestimmen, geht es ihm allgemein um die „praktische Relevanz“ eines Begriffs ungeachtet einer irgendwie gearteten Nützlichkeit in Bezug auf bestimmte Interessen. Dies lässt sich durchaus mit dem Satz „Die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit.“ verbinden.
  • Obwohl das Denken von Peirce als Mathematiker, Logiker und Wegbereiter der Semiotik durch eine formale, analytische Herangehensweise bestimmt ist, hat er im Unterschied zu Russell und Popper zahlreiche nichtformale Gedanken entwickelt.

Interpretatives Paradigma

Eine strukturell ähnliche (wenn auch inhaltlich anders angelegte) Argumentation wird von vielen Vertretern des „interpretativen Paradigmas“ der empirischen Forschung vertreten. Sie beruft sich oft auf Alfred Schütz (1899–1959), den Begründer der „Sozialphänomenologie“. Schütz hat sich mit der Frage beschäftigt, wie Menschen sich in ihrer Welt orientieren. Entscheidende Bedeutung hatte für ihn dabei die Funktionsweise des Alltagsbewusstseins (s. u.): Es hebt aus der Fülle der vorhandenen Reize einige wenige hervor und verbindet sie zu einem sinnvollen Bild von der Realität. „Wirklichkeit“ wird also nicht abgebildet, sondern aktiv „erzeugt“. Dabei lässt sich das Alltagsbewusstsein von den lebensgeschichtlich erworbenen Vorstellungen leiten, die wiederum eng verflochten sind mit den Vorgaben, die gesellschaftlich vermittelt werden. Es enthält also „Deutungsmuster“ und „Typisierungen“, mit deren Hilfe Ereignisse und neue Situationen geordnet und interpretierbar werden. Aus dieser Sicht ist Wissenschaft zunächst nur eine von vielen möglichen Formen der Deutung und Typisierung; ein Sonderfall, weil sie besondere Ansprüche stellt, aber nichts vom Alltagsgeschehen systematisch Verschiedenes. S. 190

Aus dieser Perspektive ist jede wissenschaftliche Forschung immer auch ein Akt des Verstehens. „Verstehende Ansätze stellen … wissenschaftstheoretisch gesehen, keine Ergänzung, sondern eine Alternative zu allen nicht-verstehenden Richtungen“ (Hitzler 1993, 232) dar, weil sie nicht nur ergänzende Methoden begründen, sondern die Grundoperationen von Forschung und Theoriebildung untersuchen (a.a. O., 233). – Was sich im Pragmatismus und in der Sozialphänomenologie andeutet, ist eine grundsätzlich andere Sichtweise von Wissenschaft. Erkenntnis ist das Resultat eines aktiven Erzeugungsvorganges, der sich zwar methodisch kontrolliert vollzieht, aber seine Wurzeln im praktischen Lebensvollzug, im alltäglichen Leben hat und sich davon auch nur begrenzt löst. Dieses Denken zielt in eine ähnliche Richtung wie die Kritik am Positivismus (und bildet in gewisser Weise deren Grundlage). S. 191

Bemerkungen:

  • Die Ausführungen zum Alltagsbewusstsein entsprechen meine Theorie des Gedankengebäudes.
  • Die Wissenschaft die sich mit dem Interpretieren und Verstehen des Alltagsbewusstseins von Menschen beschäftigt ist die Soziologie. Den Gegenstand und die Methoden der Soziologie auf alle Wissenschaften zu verallgemeinern ist unzutreffend.
  • Deshalb kann man den Pragmatismus und die Sozialphänomenologie nicht vermischen und beiden die Form von Erkenntnis als Resultat eines aktiven Erzeugungsvorgangs zusprechen. Der Pragmatismus ist eine grundsätzliche Haltung zu jeder Wissenschaft, während die Sozialphänomenologie sich nur mit sozialwissenschaftlichen Phänomenen beschäftigt.
  • Die Autoren sind Sozialwissenschaftler und diese damit verbundenen Sichtweise auf die Analyse von äußeren Phänomenen spiegelt sich auch in seinem Buch wider.

Radikaler Konstruktivismus

Beides, die Kritik am Positivismus und die Bemühungen um eine Alternative, tragen bei zu einer breiten Bewegung, die unter dem Oberbegriff „Konstruktivismus“ zusammengefasst wird. Ganz neu ist der Kerngedanke des Konstruktivismus – Wirklichkeit wird nicht einfach erfasst und abgebildet, sondern symbolisch konstruiert – nicht. Kant hat ihn bereits unmissverständlich entwickelt. Daher spricht man besser vom Neo-Konstruktivismus. – Auch ihn gibt es in vielen Spielarten. S. 191

Eine Richtung nennt sich „Radikaler Konstruktivismus“. Radikal ist vor allem der „Abschied von der Objektivität“ (so der Titel eines Aufsatzes von Ernst v. Glasersfeld, 1999). „Was immer wir unter ‚Erkenntnis‘ verstehen wollen, es kann nicht mehr die Abbildung oder Repräsentation einer vom Erleben unabhängigen Welt sein.“ (A. a. O., 17) S. 191

Der Radikale Konstruktivismus vertritt hier die pragmatische Perspektive: „Die Rolle von Wissen (besteht) nicht darin, objektive Realität widerzuspiegeln, sondern darin, uns zu befähigen, in unserer Erlebniswelt zu handeln und Ziele zu erreichen. Daher rührt der … Grundsatz, daß Wissen passen, aber nicht übereinstimmen muß.“ (A.a. O., 24) 192

Für den Konstruktivismus steht also die Einsicht im Zentrum der Überlegungen, dass es keine direkte Verbindung zwischen der Welt und dem Bild der Welt – Erkenntnis – gibt. Alle Theorie ist daher eine eigene Wirklichkeit, die von der, auf die sie sich bezieht, völlig getrennt ist (und unabhängig von ihr, nach eigenen Regeln, funktioniert). S. 193

Bemerkungen:

  • Der Konstruktivismus hat auch in der Mathematikdidaktik, wenn auch nicht in der radikalen Form von Glasersfeld, viele Anhänger. Es wird bestritten, dass man Ziele des Unterrichts konkret angeben kann, da jeder Schüler sein eigenes Bild der Mathematik konstruiert. Dies hat erhebliche Folgen für die Gestaltung von Plänen und Lehrbüchern. Führende Anhänger des Konstruktivismus hatten Einfluss auf die Revision aller Lehrpläne in Deutschland, die zu sogenannten Kerncurricula umgeformt wurden, in denen nur noch allgemeine Aussagen zu generellen Kompetenzen enthalten sind. Eine neue Lehrbuchreihe, die von einem Team dieser Wissenschaftler herausgegeben wird, besteht nur aus einer Sammlung von sogenannten Lerngelegenheiten, das sind projektartige, isolierte Gruppierungen von meist anwendungsorientierten Aufgabenstellungen. Ein systematisches Lernen, insbesondere auch das Ausbilden von Fertigkeiten ist auf diesen Grundlagen kaum mehr möglich. Aktuelle Entwicklungen zeigen, dass die Lehrkräfte die neuen Unterrichtsmaterialien eher ablehnen. Man kann feststellen, dass wissenschaftstheoretische Fehlorientierung zu erheblicher Vergeudung von materiellen und geistigen Ressourcen geführt haben.
  • Wie alle Theorien hat auch der Konstruktivismus einige zutreffende Elemente, zumindest in Bezug auf Lernprozesse. Er betont die Rolle vorhandener mentaler Strukturen beim Lernen und die Rolle eigener geistiger Aktivitäten von Lernenden.
  • Zu den persönlichen Erfahrungen von Glasersfeld, aus denen er seine Philosophie konstruiert hat, gehören seine Erfahrungen mit der Mehrsprachigkeit (Er beherrschte 4 Sprachen, die er als seien Muttersprachen ansah). Sie veranlassten ihn zu der Aussage: „Ich verstand, daß es Dinge gab, die man in der einen Sprache sagen und für wahr halten und die man dennoch nicht in eine andere Sprache übersetzen konnte.“ (Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. In: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. Band 1326. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, S. 26). Dies trifft für anspruchsvolle literarische und philosophische Texte durchaus zu. So halte ich es kaum für möglich, alle Gedanken und Formulierungen von Hegel unverfälscht ins Englische zu übertragen. Möglicher Weise sind die ablehnenden Bemerkungen von Russell, Popper und anderen angloamerikanischen Philosophen zu Hegel darauf zurückzuführen, dass sie die Gedanken von Hegel nicht verstanden haben. Es wäre interessant zu untersuchen, inwieweit der Versuch von Quante u. a., Hegels Gedanken in englischer Sprache verständlich zu machen (Moyar und Quante 2010), Erfolg hatte.
  • Trotzdem gibt es einen Kern von Erkenntnissen, die in jeder Sprache formuliert werden können, sonst gäbe es keine internationalen Forschungsprojekte.
  • Eine weitere Erfahrung von ihm war Beobachtung, wie Kinder das Skifahren lernen. Glasersfeld stellte fest, dass dies nicht durch Erklärungen, sondern nur durch Nachahmung möglich ist. Das Erlernen von komplizierten Bewegungsabläufen wie Treppensteigen, Fahrradfahren oder Skilaufen ist sind sehr spezielle Lernprozesse, von denen man nicht auf alle anderen verallgemeinern kann.
  • Die Autoren geben in diesem Fall im Unterschied zu ihren sonstigen Darlegungen wissenschaftlicher Theorien keine Bewertung des radikalen Konstruktivismus ab.

Evolutionäre Erkenntnistheorie

Der Radikale Konstruktivismus bezieht sich auf Argumente, die einem eigenen erkenntnistheoretischen Ansatz entstammen: der „Evolutionären Erkenntnistheorie“. Dieses Konzept baut seine Überlegungen auf biologischen Einsichten auf, vor allem auf die von Darwin begründete Evolutionstheorie. S. 193

Das Zusammenspiel von (genetischer) Mutation und ökologischer Selektion sorgt dafür, dass das am besten angepasste Lebewesen sich fortpflanzen kann und so als Art überlebt. – Als einer der Stammväter der Evolutionären Erkenntnistheorie gilt Konrad Lorenz (1903–1989), der Mitbegründer der Humanethologie. Er übertrug Darwins Prinzip der Optimierung von Anpassung an die Umwelt auf das menschliche Erkenntnisvermögen. Da der Mensch ein Produkt der Evolution ist, ist auch sein Gehirn nichts Außerirdisches, sondern Ergebnis einer langandauernden Anpassung. […] Zu den Grundannahmen der Evolutionären Erkenntnistheorie zählt jedoch auch, dass diese evolutionär entwickelte und angepasste Fähigkeit zur Erkenntnis nicht bedeutet, dass das, was Menschen als Erkenntnis betrachten, auch „die Wahrheit“ über die Wirklichkeit darstellt. S. 194

Das hat zur Folge, dass wir für das Geschehen, welches sich in Dimensionen humanen Handelns abspielt, gut gerüstet sind. Dagegen haben wir für die für uns nicht unmittelbar relevanten Dimensionen – für das Universum, den atomaren und subatomaren Bereich – überhaupt keine Wahrnehmungsfähigkeiten und unsere Versuche, sie uns zugänglich zu machen (d.h. die in Dimensionen humanen Handelns passenden Kategorien darauf anzuwenden), führen unausweichlich zu unlösbaren Aporien.

Eine weitere Konsequenz ist, dass das Denken niemals voraussetzungslos funktioniert. Es ist gebunden an die Erfordernisse des menschlichen Lebens, setzt sie also immer schon voraus. Die Anschauungsformen spiegeln die Welt, in der wir leben. Damit wird der Gedanke von Kant – die Kategorien des Verstandes seien eine Voraussetzung jeglichen Denkens und daher ein nicht hintergehbares Resultat jeder gedanklichen Ordnung – biologisch begründet. Wir denken also in Kategorien wie „Raum“, „Zeit“ und „Kausalität“, weil diese Orientierungen für uns sinnvoll sind, nicht, weil sie objektiv „richtig“ sind. Das bedeutet beispielsweise, dass die Annahme einer externen Realität nicht logisch zwingend, aber für unser Leben nützlich ist – genauso ist jedoch die Annahme einer Welt der Götter (auf andere Weise) nützlich. S. 195

Bemerkungen

  • Konrad Lorenz war ein erfolgreicher Mediziner und Verhaltensforscher, aber auch Anhänger einer Rassentheorie, die er in der Nazizeit und auch danach vertreten hat. So äußerte er 1988 anlässlich seines 85. Geburtstages: „Es zeigt sich, daß die ethischen Menschen nicht so viele Kinder haben und die Gangster sich unbegrenzt und sorglos weiter reproduzieren.“ Und: „… gegen Überbevölkerung hat die Menschheit nichts Vernünftiges unternommen. Man könnte daher eine gewisse Sympathie für Aids bekommen.“
  • Unbestritten ist, dass in der Phylogenese des Menschen auch die Anlagen für seine geistigen Tätigkeiten entwickelt wurden und unbestritten ist auch, dass das Ziel der Evolution die immer bessere Anpassung an die Lebensumstände sind, wobei ein möglichst effektiver Weg zustande kommt. Daraus aber abzuleiten, dass etwa philosophische Kategorien nur deshalb gebildet wurden, weil sie für das Leben der Menschen nützlich sind und den Gedanken einer externen Realität als nicht zwingend zu bezeichnen, ist absurd und wissenschaftsfeindlich.
  • Auch in diesem Fall geben die Autoren keine Bewertung der Theorie an.

Genetische Erkenntnistheorie

Diese wichtige Ausarbeitung der Erkenntnistheorie hat der schweizerische Psychologe Jean Piaget vorgenommen, der damit zum Begründer der „Genetischen Erkenntnistheorie“ wurde. Anhand empirischer Untersuchungen beschreibt sie, wie das Kind im Kontakt mit seiner Umwelt nach und nach seine kognitiven Strukturen denen der Wirklichkeit anpasst (Akkomodation) und umgekehrt die Umwelt, z.B. die Eltern, ihre Strukturen an diejenigen des Subjekts anpassen (Assimilation). Beide Vorgänge erzeugen ein Gleichgewicht (Äquilibration), das jeweils eine Stufe der Entwicklung markiert. S. 196

Piaget geht in seiner Theorie von einer gegebenen Realität aus, anhand der der Mensch seine Schemata entwickelt. Trotzdem wird das Ding-an-sich für den Menschen nie erkennbar sein – darin ist sich Piaget mit Kant einig. Seine neo-konstruktivistische Theorie ist noch um einen wichtigen Schritt radikaler als die Kants: Sogar die Apriori werden noch einmal hinterfragt und als Konstruktionen kenntlich gemacht. Sein Versuch, die Erkenntnistheorie von der Philosophie abzukoppeln und auf eine experimentelle Basis zu stellen, hat ihm auch Kritik eingebracht. Dem Vorwurf, in den bloßen Empirismus zurückzufallen, entgegnet er, dass auch eine empirische Betrachtung zu Apriori führen kann.

Bemerkungen:

  • Die Gruppe um Piaget untersuchte die unter genetische Entwicklung geistigen Fähigkeiten eines Menschen, insbesondere die frühkindlichen und kindlichen Phasen. Die Ergebnisse der Forschungen betreffen also vor allem Lernprozesse und haben durchaus erhebliche Auswirkungen auf pädagogische und fachdidaktische Forschungen gehabt. Ein grundlegender Mangel der experimentellen Untersuchungen ist, dass sie als klinische Experimente und nicht unter realen Bedingungen von Unterrichtsprozessen stattgefunden haben.
  • Die Darstellung der Bedeutungen der Termini „Akkommodation“ und „Assimilation“ von Piaget ist fehlerhaft. Beide Prozesse beziehen sich auf den Lernprozess eines Subjektes. Es geht um den Prozess der Auseinandersetzung eines Individuums mit der Umwelt, etwa bei der Konfrontation mit Lerngegenständen oder neuen Erfahrungen. Diesen Prozess beschreibt er durch die wechselseitige Beziehung zweier gegensätzlicher Prozesse, der Anpassung des bereits ausgebildeten kognitiven Schemas an neue Umweltbedingungen durch Einverleibung in das Schema (Assimilation) und die Veränderung des vorhandenen kognitiven Schemas durch seine Erweiterung oder Umstrukturierung (Akkommodation). Die Einheit dieser gegensätzlichen Prozesse bezeichnet er als das Streben nach dem Gleichgewicht zwischen Mensch und Umwelt (Äquilibrationsprinzip). Damit ist Piaget einer der wenigen Wissenschaftler, die die Hegelsche Theorie von der Einheit gegensätzlicher Momente angewendet haben. Die Missverständnisse der Autoren belegen erneut die Schwierigkeiten im Verständnis dialektischer Beziehungen.
  • Die Theorien von Piaget, die er für das Lernen von Kindern entwickelt hat, lassen sich auch auf Erkenntnisprozesse bei Erwachsenen anwenden.
    • In Bezug auf die Ausbildung eines Alltagsbewusstseins (einer Weltanschauung oder Ideologie) ist der Prozess der Einordnung neuer Erkenntnisse und Erfahrungen in das vorhandene kognitive Schema (Gedankengebäude) sicher dominierend. Vieles wird passend gemacht. obwohl es bestimmten vorhandenen Vorstellung widerspricht. Eine tatsächliche Veränderung des vorhandenen Schemas findet selten und nur in geringem Umfang statt. Einmal festgefahrene Gedanken lassen sich kaum umlenken. Die Theorie von Piaget erlaubt aber einen vorsichtigen Optimismus in Bezug auf zumindest geringe Veränderungen des Eingefahrenen.
    • Bei dem Erkenntnisprozess von Wissenschaftlern dominiert der Prozess der Akkomodation. Neue Forschungsergebnisse und Erfahrungen verändern Struktur und Inhalt der mentalen Zustände des Wissenschaftlers. Dies gilt zumindest für die naturwissenschaftliche Forschung. Im Bereich der Gesellschaftswissenschaften lassen sich oft starke Bestrebungen der Einverleibung und Passung von Erkenntnissen und Theorien anderer Wissenschaftler in die eigenen Theorien feststellen. Ein Spezialfall dieser Assimilationsprozesse ist die generelle Ablehnung einer anderen Theorie, womit eine Akkommodation praktisch ausgeschlossen ist.

Psychoanalyse

Die psychologischen Grundlagen der Erkenntnis wurden noch von anderen Denkschulen untersucht. Die von Sigmund Freud 1856–1939) begründete psychoanalytische Theorie geht ebenfalls davon aus, dass das Denken sich erst im Laufe des Lebens entwickelt. Sie untersucht jedoch nicht die kognitiven Muster und deren Entwicklung, sondern den psychischen Sinnzusammenhang ihrer Verwendung. S. 197

Erfahrungen zeigen jedoch, dass die Tendenz zur Verwendung der frühen/ primitiven/verzerrenden Mechanismen des Umgangs mit der Wirklichkeit keineswegs verloren geht, d.h. auch Erwachsene projizieren und spalten, leugnen und manipulieren die Wirklichkeit. Dann beherrschen Wünsche und Ängste die Gedanken – eine Erfahrung, die im Alltag problemlos gemacht werden kann. So ist es üblich, für unliebsames Geschehen jemanden verantwortlich zu machen, nicht zuletzt auch, um (sich selbst und andere) von eigenen Beteiligungen abzulenken. Die Jagd nach dem Sündenbock gehört zweifellos zu den beliebtesten Formen der Bewältigung von Problemen; ebenso wie wirklichkeitsverzerrende Interpretationen, mittels derer Sachverhalte umdefiniert, je nach Bedarf hochgepuscht oder verniedlicht werden, und ebenso wie die Beschwörung von Göttern, Geistern und sonstigen Produkten der Phantasie.

Kurz: Menschen tendieren dazu, an Stelle von wirklichkeitsangemessenem Denken mit verzerrenden Modalitäten zu arbeiten, vor allem, wenn sie psychisch unter Druck stehen und/oder die Entwicklung ihres Erlebens biografisch erheblich beeinträchtigt wurde. In diesen Fällen wird die Wahrnehmung von Wirklichkeit und ihre kognitive Verarbeitung getrübt und gestört, weil sie von inneren Zwängen (die sozial provoziert und vorgegeben sein können) bestimmt werden. S. 198

Evolutionäre Erkenntnistheorie und moderne Subjekttheorien sind in gewisser Weise eine Art Mittelweg zwischen Kritischem Rationalismus und Neo-Konstruktivismus. Sie verbinden die Annahme einer strukturellen Relativität der Erkenntnis mit derjenigen der systematischen Optimierbarkeit. Das Besondere liegt darin, dass hier die Erkenntnis auf eine „materielle“, genauer: biologische Grundlage aufgebaut wird. Damit wird versucht, den Zirkel der Begründungen durch eine empirische Fundierung zu durchbrechen. Kritiker waren damit nicht zufrieden (was nicht verwunderlich ist). Bemängelt wurde vor allem, dass auch die Evolutionäre Erkenntnistheorie eine unbeweisbare Hypothese sei, so dass sie sich eine wirkliche Begründung nicht leisten könne. Kritisiert wurde zudem, dass eine inhaltliche Bearbeitung von erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Fragen auf dieser allgemeinen Basis kaum möglich sei. S. 201

Bemerkungen:

  • Die Rolle des Unbewussten, mit dessen Erforschung sich die Psychoanalyse beschäftigt, kann in Bezug auf das Alltagsbewusstsein kaum unterschätzt werden. Spontane Abwehr und Zustimmungsmechanismen basieren wahrscheinlich oft auf solchen unbewusst mentalen Zuständen.
  • Neben dem Unbewussten in Form von Begriffen, Vorstellungen oder Erlebnissen müssen aber auch als Faktoren des Erkenntnisprozesses besondere Charaktereigenschaften gezählt werden, die dem Individuum oft selber nicht bewusst sind. Es geht dabei insbesondere um die Fähigkeiten zur Selbstreflexion und zur Empathie. Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung sind zum Beispiel nicht in der Lage, das eigene Verhalten Bezug auf die Wirkung auf andere zu beurteilen und damit auch nicht zu verändern.
  • Die Erforschung solcher personalen psychischen Faktoren ist außerordentlich kompliziert, da Unbewusstes kaum zugänglich ist und Menschen mit den betreffenden Persönlichkeitsstörungen sich an der Erforschung ihrer Störung nicht beteiligen, da sie diese aufgrund der Störung nicht anerkennen.
  • Eine Konsequenz in Bezug auf die Bewertung von philosophischen Theorien ist eine Analyse der individuellen Geschichte und Persönlichkeitsstruktur der betreffenden Wissenschaftler. Es kann sicher davon ausgegangen werden, dass die individuellen Besonderheiten eines Wissenschaftlers auch Einfluss auf seinen Erkenntnisprozess und die entwickelten Theorien haben, insbesondere auf dem Gebiet der Philosophie.

Systemtheorie

Ein weiterer konsequent neo-konstruktivistischer Ansatz ist im Rahmen der „Systemtheorie“ entwickelt worden. Vor allem Niklas Luhmann (1927–1998) hat den Versuch unternommen, systemtheoretisches Denken auf Erkenntnisprobleme anzuwenden, und dabei eine Reihe von Überlegungen angestellt, die die Diskussion erheblich angeregt haben. Er erklärt zunächst, dass mit der bloßen Feststellung, „Wirklichkeit“ sei ein kognitives oder soziales Konstrukt, noch nicht viel erreicht ist: „Es genügt nicht, von der (unbestreitbaren) Mitwirkung bestimmter (sprachlicher, psychologischer, sozialer) Ursachen am Zustandekommen von Erkenntnis auszugehen und daraus zu schließen, daß das Resultat Erkenntnis nichts anderes ist als eine … Konstruktion.“ (Luhmann 1990, 521) […] Diese Operation der Beobachtung, bei der „die Unterscheidung zur Gewinnung von Informationen über das Bezeichnete benutzt wird“ (Luhmann 1984, 597), liegt also jedem funktionierenden System zugrunde. Die auf diese Weise gewonnenen Vorstellungen sind systeminterne Konzepte, keine Abbilder der Umwelt. Was sich als Gegenstand darstellt, ist eine bezeichnete Einheit im beobachtenden System, kein Element der Umwelt. S. 201-202

Dieser Sichtweise zufolge ist Wissenschaft also ein Beobachten von Beobachten bzw. ein „Beobachten 2. Ordnung“, sofern sie sich an organisierte Regeln hält. Und Wissenschaftstheorie ist ein „Beobachten 3. Ordnung“, weil sie die Regeln, nach denen Wissenschaft funktioniert, beobachtet. Dabei sind „Objektivität“ und „Wahrheit“ Kategorien, mit denen das Beobachten funktioniert, aber keine wie auch immer gearteten Feststellungen über eine Übereinstimmung von Vorstellungen und Realität. Dies ist aus prinzipiellen Gründen nicht möglich: Das System kann sein Gehäuse nicht verlassen; die Beobachtung bleibt immer ein Teil des Systems. Dass Erkenntnisse praktisch genutzt werden können, ist kein Beweis für die „Richtigkeit“ der Erkenntnis, sondern nur dafür, dass etwas machbar ist. […]

Der systemtheoretische Neo-Konstruktivismus gibt also eine andere Antwort auf die Frage, was Erkenntnis ist. Er nimmt keinen Bezug auf materiale (biologische) Befunde, sondern setzt nur die Funktionsweise von Systemen voraus, aus deren Logik wissenschaftliche Erkenntnis als ein Sonderfall bzw. eine Spezialisierung abgeleitet wird. Aber auch diese Variante ist – wie der Neo-Konstruktivismus generell – dadurch gekennzeichnet, dass auf jeden Versuch einer Begründung von Erkenntnis verzichtet wird. Stattdessen steht die Annahme der (System-)Relativität von Vorstellungen im Zentrum, so dass zwar über eine bessere Funktionalität von Vorstellungen, aber nicht mehr über ihren Wahrheitsgehalt gesprochen werden kann. Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie sind daher auch (nur noch) Beschreibungen von Beobachtungen, aus denen sich keine Objektivitätskriterien (mehr) ableiten lassen. – War der Kritische Rationalismus die moderne Variante der Wissenschaftstheorie, so kann der Neo-Konstruktivismus als „postmoderne“ Erkenntnistheorie verstanden werden. S. 203

Bemerkungen:

  • Die Systemtheorie des Verwaltungsbeamten und Sozialwissenschaftlers Niklas Luhmann ist durch einen hohen Grad an formalem Charakter gekennzeichnet. Es ist eine erhebliche Vereinfachung, die Gesellschaft in ein System von relativ voneinander unabhängigen Teilsystemen (Wissenschaft, Recht, Kunst, Politik, Ökonomie, Religion, Erziehungssystem, Moral) einzuteilen. Die Betrachtungsweise ignoriert z. B. die hierarchischen Beziehungen zwischen Ökonomie, Politik und Wissenschaft.
  • Wie der radikale Konstruktivismus verzichtet auch die Systemtheorie von Luhmann auf die Betrachtung fundamentaler erkenntnistheoretische Fragen wie das Verhältnis von Theorie und Realität. Die erkenntnistheoretischen Schranken der Systemtheorie werden von ihr selber formuliert, in dem festgestellt wird, dass das System sein Gehäuse nicht verlassen kann.
  • Im Unterschied zu vielen anderen Theorien ergeben sich aus der Systemtheorie keine Anregungen für die Erkenntnistheorie bzw. zur Analyse wissenschaftlicher Theorien.

8     Denotative und konnotative Theorien

Mit dem Neo-Konstruktivismus ist die Darstellung der bisherigen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Entwürfe und Angebote zwar nicht vollständig, aber in gewisser Weise abgeschlossen. Es gibt gegenwärtig kein Modell, das an Prominenz mit dem Kritischen Rationalismus und dem Neo-Konstruktivismus mithalten kann.

Denn die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Vereinheitlichung der Diskurse kommt, ist gering. Jedenfalls gibt es keinen logischen Grund dafür, warum jetzt das passieren sollte, was in ca. 2500 Jahren nicht passiert ist – auch wenn es seit genauso vielen Jahren immer wieder versucht wurde.

Damit stellt sich die Frage: Wieso ist es so schwer, eine einheitliche Basis für die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zu finden? In diesem Kapitel sollen zwei Gründe diskutiert werden:

  • Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien beschäftigen sich nicht mit einer einzigen, sondern mit verschiedenen Problemlagen
  • Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien stellen selbst einen Theorietyp dar, der bestimmte Eigenschaften/Probleme hat, die keine Vereinheitlichung ermöglichen. S. 206-207

Folgt man diesem Konzept, so kann man (mit Blick auf die Vorschläge, die in den verschiedenen Diskussionen gemacht wurden) auf der Ebene der Logik von Realität zwei Typen unterscheiden, die sich empirisch auf unterschiedliche Weise mischen (können):

  • Auf der einen Seite steht der Typ von Realität, der innerhalb bestimmter Grenzen konstant und unveränderlich gegeben ist, der immer und überall auf die gleiche Weise funktioniert. Dies wird in der Literatur als nomologische Realität bezeichnet.
  • Auf der anderen Seite steht der Typ von Realität, der veränderlich und immer verschieden ist, der sich selbst entwickelt und steuert und dabei mit seiner Umwelt interagiert und der einen offenen Entwicklungshorizont besitzt. Auf diesen Realitätstyp passt der Begriff autopoietische Realität.

Empirisch sind diese beiden Typen nur in Mischformen vorhanden. Reine Nomologie existiert nur in Lehrbüchern, in denen nomologische Zusammenhänge unabhängig von den jeweiligen Bedingungen dargestellt werden. S. 209

Stellt man nun die Frage, welche Art von Theorie benötigt wird, um die jeweiligen Formen der Realität zu erfassen, so ergeben sich eine Reihe von unterschiedlichen Möglichkeiten.

Denotative Theorien

Solange sich Theorie mit rein nomologischer Realität beschäftigt, hat sie die Möglichkeit, sie methodisch zu fixieren und zu manipulieren (weil diese Art von Realität nicht durch Manipulationen verändert wird). Zugleich kann sie nomologische Realität aus allen Zusammenhängen herauslösen und in beliebige Kontexte einbetten (aus dem gleichen Grund). Dies bedeutet, dass nomologische Realität mit Hilfe methodischer Arrangements experimentell bearbeitet und dadurch systematisch und kontrollierbar untersucht werden kann. Auf diese Weise lässt sich aus der empirischen Realität reine – kontextunabhängige – Logik herauspräparieren: S. 210

Nomologische Realität lässt sich, anders ausgedrückt, algorithmisch reduzieren. Sie lässt sich daher in der Sprache der formalen Logik ausdrücken. Die formale Logik ist eine Kunstsprache, die mit einem begrenzten Vorrat an Zeichen (die eindeutige Bedeutungen haben) und mit einer festgelegten Grammatik (also Regeln, wie Verbindungen von Zeichen hergestellt werden können) arbeitet. Theorien, die nomologische Realität behandeln, sind daher denotativ: eindeutig abgrenzend, zuordnend und festlegend (allerdings nicht voraussetzungsfrei, vgl. v. Kutschera 1973). Sie bieten stabile und exklusive Muster von nomologischer Realität. S. 211

Konnotative Theorien

Autopoietische Realität hingegen stellt andere Anforderungen an Theorien. Autopoietische Realität ist das Ergebnis eines Zusammenspiels von vielen verschiedenen Faktoren. Dabei verläuft dieses Zusammenspiel nicht immer gleich, sondern variiert. […] Autopoietische Realität ist immer etwas Besonderes und diese Besonderheit kann nicht allein aus dem, was für alle Fälle gilt, abgeleitet werden. In gewissem Sinne ist jeder Fall ein Fall für sich – folgt seiner eigenen Logik S. 212

Mit anderen Worten: Autopoietische Realität ist nicht nur eigendynamisch und bringt ständig neue Variationen hervor, sie ist auch widersprüchlich, also nicht auf einen einzigen Nenner zu bringen. Damit müssen Theorien, die autopoietische Realität bearbeiten, andere Aufgaben bewältigen und dabei auf andere Weise verfahren, als dies im Umgang mit nomologischer Realität der Fall ist. Sie sind konnotativ. Zunächst ist die Fülle der beteiligten Faktoren und die der möglichen Variationen theoretisch nicht zu bändigen. Es ist kaum möglich, alle relevanten Faktoren (angemessen) zu erfassen. Daher lässt sich das Prinzip des Experimentierens mit Realität nur begrenzt anwenden, da autopoietische Wirklichkeit zu umfangreich ist, um vollständig manipulierbar zu sein, und zudem mit dem experimentellen Arrangement interagiert, so dass im Experimentieren eine jeweils eigene Wirklichkeit erzeugt wird. S. 213

Es gibt also nicht nur eine Möglichkeit der theoretischen Konzeptualisierung, sondern verschiedene Möglichkeiten der Einschätzung und Zuordnung. Ob also die moderne Arbeitswelt das Familienleben fördert oder erschwert (oder beides), kann – je nach Perspektive – unterschiedlich gesehen werden. Dadurch wird jedoch Theoriearbeit auch unabschließbar: Da es immer Unzulänglichkeiten und Möglichkeiten der Kritik gibt, da immer Faktoren noch anders gewichtet, Zusammenhänge noch anders gesehen werden können und da es immer wieder Neues und Unerwartetes zu verarbeiten gibt, bleiben Theorien chronisch unabgeschlossen, bleiben sozusagen eine „Dauerbaustelle“. S. 214

Der zweite Punkt betrifft die andere Seite des Verhältnisses von Theorie und Realität. Nomologische Realität kann von denotativen Theorien nicht beeinflusst werden, sie kann sie aber ihrerseits auch nicht beeinflussen. Theorie und Realität sind und bleiben getrennte Welten. Auch dies ist bei konnotativen Theorien anders. Sie verändern die Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen nicht nur, sie werden auch von ihr beeinflusst und gesteuert. Da die Voraussetzungen und die Auswahl einer konnotativen Theorie nicht allein durch ihren Gegenstand begründbar sind, spielen gegenstandsfremde Faktoren eine wichtige Rolle: Sie beeinflussen die Entscheidungen, welche Prämissen genutzt und welche Paradigmen akzeptiert werden und welche nicht. Es sind also auch kulturelle und institutionelle Faktoren, die konnotative Theorien konstituieren und steuern. Traditionen und der „Zeitgeist“ beeinflussen daher Entscheidungen über präferierte Denkweisen. S. 218

Fazit

Theorien, die sich mit autopoietischer Realität beschäftigen, unterscheiden sich also von denen, die nomologische Realität behandeln. Sie verfahren konnotativ, was einige besondere Strukturmerkmale verursacht (methodologische Uneindeutigkeit, fehlende algorithmische Reduzierbarkeit, Unabgeschlossenheit, schwierige Balance zwischen Allgemeinheit und Besonderheiten, Multiparadigmatismus, Mehrdeutigkeit, dauerhafte Begründungsproblematik, Anwendungsabhängigkeit, Verwendung von relativ unscharf definierten Begriffen und einer offenen Grammatik) und mit einem komplexen Austausch zwischen Theorie und Realität verbunden ist. S. 219-220

Bemerkungen

  • Die Autoren unterbreiten einen Vorschlag, alle Wissenschaften in zwei Typen zu unterteilen, die mit Typen von Existierendem korrespondieren. Der Vorschlag ist offensichtlich in der Literatur noch nicht weiter diskutiert worden, als Quelle wird lediglich eine Arbeit von Schülein aus dem Jahre 2002 angegeben.
  • Der Terminus „Autopoiesis“ wurde von dem chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana eingeführt (Maturana und Varela 2005) und auf andere Wissenschaften übertragen. Sie verallgemeinerten damit ihre Untersuchungen zur menschlichen Farbwahrnehmung. Laut diesen besitzt das Nervensystem keinen unmittelbaren Bezug zur Außenwelt, sondern entwirft vielmehr sein eigenes Bild der es umgebenden Welt durch rekursive Operationen.
  • Niklas Luhmann verwendet den Terminus „Autopoiesis“ als Schlüsselbegriff in seiner Theorie zu sozialen Systemen. Seine zentrale These lautet, dass soziale Systeme ausschließlich aus Kommunikation bestehen (nicht aus Subjekten, Akteuren, Individuen oder ähnlichem) und in Autopoiesis operieren. Darunter ist zu verstehen, dass die Systeme sich in einem ständigen, nicht zielgerichteten autokatalytischen Prozess quasi aus sich selbst heraus erschaffen. (Wikipedia, Autopoiesis, zuletzt bearbeitet am 1. November 2021)
  • Leider führen die Autoren in diesem Kapitel so gut wie keine konkreten Beispiele für die entsprechenden Erscheinungsformen der Realität sowie die dazugehörigen Wissenschaften an. Als Beispiele für Theorien autopoietischer Prozesse werden lediglich genannt: „Theorien der Familie, der Firma, des Managements, der Therapie, der Politik usw.“ (S. 215) sowie „Eine Textinterpretation, Organisationstheorie“ (S. 217).
  • Offensichtlich gehört die organische Welt zur autopoietischen Realität. Nun lässt sich diese Welt aber durchaus mit denotativen Theorien beschreiben, wie etwa die Mendelschen Gesetze zeigen. Es gibt zahlreiche Prozesse in der Ökonomie und anderen gesellschaftlichen Bereichen, die sich durch stochastische Gesetze erfassen lassen. Die wenigen Beispiele verdeutlichen, dass eine Einteilung der Realität in diese beiden Bereiche und eine entsprechende Zuordnung von Theorien problematisch ist.
  • Weiterhin ist die Frage zu stellen, welchen Beitrag zur Wissenschaftstheorie eine solche Strukturierung leistet. Es geht in erster Linie um eine Beschreibung von existierenden Bereichen der Realität und Theorien. Konstruktive Elemente dieses Herangehens sind eher nicht zu erkennen.

Konsequenzen

Welche Konsequenzen haben diese Überlegungen für die Interpretation der Probleme von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie? Vor allem vier Konsequenzen können zum besseren Verständnis beitragen. S. 220

Unterschiedliche Ebenen von Theorie

Der erste Punkt: Der Begriff „Theorie“ ist zu vieldeutig. Man muss erkenntnistheoretisch genauer unterscheiden, auf welche Ebene von Theorie sich die Argumentation bezieht. Dabei kann man differenzieren zwischen:

  • der allgemeinen Ebene: Hier geht es um Merkmale, die jede Theorie hat und die eine Theorie von anderen Formen kognitiver Modelle (Meinung, Glauben etc.) unterscheidet;
  • der Ebene der strukturellen Differenzen: Hier geht es um Merkmale, die sich aus systematischen Unterschieden (etwa des Gegenstandes, mit dem Theorien zu tun haben) ergeben; S. 220
  • der Ebene der singulären Theorie: Hier geht es um Merkmale, die eine bestimmte Theorie (und nur diese) aufgrund der besonderen Umstände, denen sie unterliegt, betreffen. S. 221

Gemischte Realität und Wahl der Methoden

Empirische Realität besteht in vielen Fällen aus einer Mischung von nomologischen und autopoietischen Elementen. Entsprechend kann sie sowohl mit quantitativen als auch mit qualitativen Methoden sinnvoll erfasst werden. S. 222

Gemischte Realität, gemischte Theorie

Die gleiche Problematik stellt sich auf der Ebene der Theorie. Reale Theorien sind (fast) immer Mischtypen. S. 224

Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien sind konnotativ

Die dritte Konsequenz, die sich aus dieser Perspektive ergibt, ist, dass jede Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie konnotativ ist. S. 226

Kurz: Es ist nicht verwunderlich, dass sich Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie in so hohem Maße als Dauerkontroverse, als intensiv in Zeitgeist und gesellschaftliche Bedingungen verstrickt und als breites Spektrum von verschiedenen Konzepten, die in sich zersplittert und untereinander zerstritten sind, präsentieren. Aber dieser Dissens hat auch etwas Produktives: Er zwingt zur Ausarbeitung und Legitimation und damit zur Erhöhung des Niveaus und zur Differenzierung des Theorieangebots. Andererseits sind viele Kontroversen auch unproduktiv, unterliegen irrationalen Verfestigungen und Steigerungszwängen und versperren den Blick auf das Gesamtproblem. Es hat den Anschein, als wären dies die (unvermeidlichen?) „Betriebskosten“ eines differenzierten Diskurses. – Die Entwicklung der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie entspricht insgesamt dem typischen Schicksal konnotativer Theorien. – S. 227

Bemerkungen:

  • Die Unterscheidung der genannten Ebenen der Theorie ist sicher sinnvoll, aber keine Konsequenz aus der dargestellten Strukturierung.
  • Mit der Feststellung, dass es sich bei realen Theorien immer um Mischtypen handelt, ist ebenfalls kein großer Erkenntnisgewinn verbunden.
  • Es ist recht einseitig, wenn man die Vielfalt der existierenden Theorien auf die natürlich vorhandene Problematik des Gegenstandsbereiches alleine zurückführt. Es spielen immer auch die individuellen Vorstellungen und Fähigkeiten der jeweiligen Wissenschaftler eine große Rolle. Ein Kriterium ist zum Beispiel die Frage, inwieweit die Wissenschaftler mit den anspruchsvollen Überlegungen von Hegel umgehen können.

 9     Wozu also Wissenschaftstheorie?

Es ist also nicht zu erwarten, dass die Diskussionen in absehbarer Zeit zu einem Abschluss kommen werden. […] Das bedeutet jedoch keineswegs, dass man von der Beschäftigung mit Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien nichts hätte. Auch wenn sie Probleme nicht lösen, ermöglichen ihre Leistungen den Blick auf ein wesentlich besseres Problemverständnis. Immerhin haben sich viele der besten Denker ihrer Zeit mit den Themen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie beschäftigt – mit einer Intensität und Ausdauer, die äußerst eindrucksvoll ist. Was sie dabei erarbeitet haben, gehört zu den bleibenden Großtaten des menschlichen Geistes. S. 228

Wenn die Problemlage von Theorien offensichtlich ist und nicht verleugnet wird, besteht ein manifester Bedarf an Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien. Bedarf ist allerdings nicht gleich Bedarf. Es kommt wiederum auf die Fragestellung an. Dabei können sowohl die Fragestellungen als auch die Möglichkeiten, die Fragen zu beantworten, durch die wissenschaftstheoretischen Diskussionen angeregt werden. Der weiter oben erwähnte „Nachteil“ von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien, nämlich dass sie sich als bunte, heterogene Vielfalt ohne eindeutige, wasserdichte Ergebnisse präsentieren, ist zugleich ein Vorteil: Es wird viel angeboten und damit ergeben sich auch Möglichkeiten, etwas Passendes für die jeweils eigene Fragestellung und den eigenen Zugang zu finden. Das Spektrum der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien ist eine Fundgrube voll hochinteressanter Ansätze und Angebote, in der sich für jede Problemlage intelligente Ansätze und Überlegungen finden – auch wenn die Diskussionen immer noch weitergeführt werden (müssen). S. 235

Bemerkungen:

  • Die Ausführungen erwecken den Eindruck, alle bisherigen Theorien sind „hochinteressante Ansätze und Angebote, in der sich für jede Problemlage intelligente Ansätze und Überlegungen finden“ lassen. Dies entspricht der Auffassung von Feyerabend „Anything goes.“ Wie meine Bemerkungen zu einzelnen Theorien zeigen, ist diese Einschätzung nicht zutreffend. Mehrere der Theorien sind gerade gar nicht geeignet, der Realität in sinnvoller Weise zu erfassen.
  • Es zeigt sich also, dass mit der von den Autoren vorgenommenen Beschreibung von Theorien sich keine Konsequenzen für Auswahlkriterien oder andere Aspekte der Bewertung ergeben.

Ein Blick zurück

Die Ergebnisse der Diskussionen, die im Lauf der Geschichte geführt worden sind, sind für die heutige Situation der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie nach wie vor relevant. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit können hier kurzgefasst eine Reihe von Ergebnissen genannt werden: S. 236

Einen einleuchtenden empirischen Rahmen bietet das auf Darwin und in die Sozialpragmatik zurückgehende, von Lorenz und anderen ausgearbeitete Modell der „Evolutionären Erkenntnistheorie“ mit dem Konzept einer „Biologie der Erkenntnis“. Was einleuchtet, ist der Kerngedanke, dass Erkenntnisfähigkeit ein Produkt der Evolution ist und von den „Produktionsbedingungen“ dimensioniert ist. Was ebenso einleuchtet, sind die Hinweise auf die physiologischen Grundlagen der Erkenntnis, vor allem der Nachweis, dass keine Wirklichkeit abgebildet, sondern externe Reize intern interpretiert werden. Die damit verbundenen weiterführenden Überlegungen sind, soweit sie zum Reduktionismus (Rückführung von Erkenntnis auf Biologie) tendieren, allerdings nicht unbedingt geeignet, die weiterreichenden Problemlagen – vor allem die Dialektik von Erkenntnis und Gegenstand sowie Erkenntnis und Gesellschaft – zu begreifen. Die historisch-genetische Theorie Piagets hat den evolutionären Ansatz weiterentwickelt, um ihn auf die Themen Kants – die Apriori – anzuwenden, damit sie als Konstruktionen verständlich werden. S. 237

Ein geeigneter Zugang für die Differenzierung von Typen symbolischer Reproduktion der Realität ergibt sich aus der Theorie des Alltagsbewusstseins, die die normale Funktionsweise von Bewusstsein als pragmatischen und egozentrischen Umgang mit Wirklichkeit unter den vorrangigen Zielen der Aufrechterhaltung von Handlungsfähigkeit und der Identitätsbalance beschreibt. Dabei verwendet das Alltagsbewusstsein verschiedene kognitive Modi, ohne sie immer zu trennen: Glauben, Meinen, Wissen, Fühlen. In Krisensituationen und/oder unter Entlastung von Handlungs- (bzw. Identitäts)druck kann der Modus des Alltagsbewusstseins auf Reflexion umgestellt werden: Die Aufmerksamkeit wendet sich bestimmten Themen zu und orientiert sich am Ziel der Gewinnung von objektiver Erkenntnis. S. 238

Schließlich hat die empirische Wissenschaftsforschung ein neues und besseres Verständnis von Wissenschaft ermöglicht. In gewisser Weise hat sie das hier und dort noch gepflegte heroische Bild von Wissenschaft entmystifiziert, in dem sie gezeigt hat, wie banal der Alltag von Forschung sein kann, mit welchen Widrigkeiten sie sich herumschlagen muss und wie sie sich langsam, mühsam durch Irrtümer und Fehler weiterbewegt. Man könnte aber auch sagen, dass genau dieser geschärfte Blick den Respekt vor dem, was sie leistet, erhöht. Denn erst im Alltag der Forschung zeigt sich, was es heißt, Hypothesen zu entwickeln, mit ihnen zu arbeiten und sie so weiterzuentwickeln, dass sie als Theorien angeboten werden können; was es heißt, unter Konkurrenzdruck, neben Intrigen und der Dominanz mächtiger Seilschaften zu arbeiten; was es heißt, trotzdem ständig kritisch, selbstkritisch und doch konstruktiv an irgendeiner Stelle eines Riesenbetriebs tätig zu sein, vielleicht zu scheitern und doch nicht aufzugeben. Es ist jedoch nur dieser anstrengende, manchmal quälende Prozess, der Wissenschaft das ermöglicht, was sie (und nur sie) bestenfalls kann: Erkenntnis so nahe wie möglich an die Wirklichkeit heranzubringen. S. 244

Wissensgesellschaft

Damit stellt sich der Wissenschaftstheorie definitiv eine doppelte Aufgabe. Während sie sich lange Zeit darauf beschränken konnte, die internen Probleme der Gültigkeit und Begründung von wissenschaftlicher Erkenntnis zu behandeln, ist heute das, was lange Zeit eher von bestimmten „Außenseiterpositionen“ auf verschiedene Weise (wie etwa bei Bacon, Marx, der Kritischen Theorie) angesprochen wurde, ein unabweisbares weiteres Thema geworden: dass Wissenschaft ein soziales System, ein Stück gesellschaftliche Realität ist. Deshalb muss auch ihre Verstricktheit in diese Realität – ihre Bedingtheit wie ihre Auswirkungen – von einer Theorie der Wissenschaft mit erfasst werden. Interne Legitimation muss ergänzt werden durch Kenntnis der Funktionsweise und des Austauschs mit ihrer Umwelt. S. 246

Es gibt Schätzungen, dass inzwischen rund die Hälfte(!) aller Forschungsergebnisse geheim, d.h. auch der wissenschaftlichen Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Aber auch der Staat ist daran wesentlich beteiligt. Die Staaten haben sich nämlich keineswegs zur Gänze aus der Steuerung von Forschung und Investitionen zurückgezogen. Hier spielen vor allem das Militär, genauer gesagt: die militärische Aufrüstung eine zentrale Rolle. Während traditionelle Kriege bei aller Dramatik und Grausamkeit in ihren Möglichkeiten auf das begrenzt blieben, was dem „Kriegshandwerk“ zur Verfügung stand, sind moderne Kriege, spätestens seit dem Ersten Weltkrieg, zu wissenschaftlich fundierten Konflikten geworden – neben politischen, strategischen und ökonomischen Ressourcen zu einem Kampf zwischen den jeweiligen Leistungen angewandter Physik, Chemie und Biologie. S. 251

Was sich dabei zeigt: Weder die Freiheit der Wissenschaft – jeder Wissenschaftler soll und darf nur seinen eigenen Vorstellungen folgen – noch die Steuerung durch die (Markt-)Kräfte reichen aus, um das gewaltige Potential, das moderne Forschung erzeugt, angemessen zu behandeln. Beide sind zu kurzsichtig und besitzen zu wenig interne Kapazitäten, um die Wissenschaft in eine allgemeinverträgliche, nachhaltige Richtung zu lenken und ihre Ergebnisse hinreichend zu kontrollieren. Die Problemlagen sind zu kompliziert, um sie noch mit Berufung auf das Humboldt´sche Ideal einer humanistischen, aufgeklärten Universität in den Griff zu bekommen – und zu dramatisch, um sie sich selbst zu überlassen. S. 252-253

Wissenschaft, Politik und Moral

Unter diesen Vorzeichen kommt mit der Zunahme an Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnis und der Partikularität der Verwertung der Wissenschaft eine völlig neue Verantwortung zu. „Wissen“ ist nicht mehr ein problemloses Potenzial. Weder die Richtung der Wissensproduktion noch die Verwendung können heute noch als „nicht dazu gehörig“ oder „nicht wichtig“ ausgeklammert werden. Es stellt sich daher unentwegt die Frage, welche Auswirkungen die gegebenen Bedingungen auf Form und Inhalt haben, was es für Alternativen gibt etc. Dementsprechend erhöht sich der Anspruch an Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie und dementsprechend muss ihr Qualifikationsprofil erweitert werden. S. 253

Wenn Wissen die Welt nicht nur interpretiert, sondern folgenlos verfügbar macht, wenn wissensbasierte Entscheidungen nicht nur die Produktion, sondern immer auch eine bestimmte (Um-)Verteilung von Chancen und Risiken bedingen bzw. ermöglichen, kann Wissenschaft nicht länger als isolierter Teilbereich mit reiner Binnenorientierung angesehen werden. Die Zeiten, in denen Erkenntnis selbstverständlicher Bestandteil einer Kultur oder automatischer Fortschritt im Kampf gegen Ignoranz und Repression war, sind vorbei. Durch ihren enormen Fortschritt übernimmt Wissenschaft, ob sie will oder nicht, dezidiert politische Funktionen und muss sich auch entsprechend legitimieren können. S. 254

Damit hängt eine weitere Frage zusammen: Kann Wissenschaft eine Ethik hervorbringen? Kann man von Institutionen, die auf Wissensproduktion getrimmt sind, erwarten, dass sie Normen hervorbringen, die diese Produktion in allgemeinverträgliche Richtungen lenken? Dagegen spricht einiges. S. 254

Ihre Sozialisation enthält in der Regel keine besondere Ausbildung und die Norm der Wissensproduktion basiert ja gerade auf der Suspendierung von Handlungszwängen, d.h. auch von normativen Vorgaben. Wissenschaftler sind daher von Berufs wegen in gewisser Weise skrupellos. Das muss Verantwortung nicht ausschließen, bedingt sie aber auch nicht unmittelbar.

Wenn man dann noch die erheblichen Interessens- und Zielkonflikte bedenkt, die mit Erkenntnissen verbunden sind, zeichnet sich nicht ab, dass es zu einer stabilen Wissenschaftsethik kommt – zumindest nicht von selbst. Andererseits werden die ethischen Fragen immer drängender, je deutlicher die Problemlagen werden, die mit Erkenntnisfortschritt sichtbar werden bzw. entstehen. Moderne Wissenschaft kann die Augen vor den Auswirkungen ihrer Erkenntnisse nur noch mit Mühe verschließen. Und sie kann, wenn sie konsequent entwickelt wird, auch die dramatischen Probleme, die auf Gesellschaften zukommen, nicht ignorieren, sondern muss sie zum Thema machen. S. 255

Moderne Gesellschaften stehen vor dem Problem, dass die bisherige Form von Politik für die zu lösenden Probleme nicht mehr ausreicht. Es sieht so aus, als müsste – vor dem Hintergrund funktionaler Differenzierung und ohne deren Leistungen aufzugeben – ein neues Niveau erreicht werden, auf dem die Politik stärker von der Einbeziehung betroffener Gruppen, Institutionen und Subsysteme sowie von einem höheren Informiertheitsgrad getragen wird. Es dürfte eine Überlebensfrage werden, ob es gelingt, Fragen wie Globalisierung und soziale Gerechtigkeit, Ökologie, moderne Ökonomie und Lebensbedingungen in stärkerem Maße als bisher auf der Basis tragfähiger Konsenspolitik und vor dem Hintergrund eines Maximums an Informiertheit zu behandeln. S. 256

Bemerkungen:

  • Mit den Hinweisen zur gesellschaftlichen Rolle der Wissenschaft und den damit zusammenhängenden politischen und ethischen Fragen wird ein wichtiger Aspekt der Wissenschaftstheorie angesprochen, der weit über den Rahmen der üblichen Überlegungen zur reinen Form der Erkenntnisfindung hinausgeht und vieles relativiert was an „schönen“ Theorien entwickelt wurde.
  • Offen bleibt allerdings Frage, ob es nicht an der Zeit wäre, gesellschaftliche Bedingungen wesentlich zu verändern, damit die Entwicklung der Wissenschaft ungestörte erfolgen kann. Eine naheliegende Konsequenz wäre z. B., für eine Gesellschaft einzutreten, in der es keine Rüstungsindustrie mehr gibt und damit auch die entsprechenden Forschungen gegenstandslos wären.

Literaturverzeichnis

Bacon, Francis (1990a): Neues Organon. Teilband 1 Lateinisch-Deutsch. Hamburg: Felix Meiner Verlag (Philosophische Bibliothek).

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Feyerabend, Paul (1986): Wider den Methodenzwang. 16. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 597).

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Hume, David (2014): Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. 4. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Studienbibliothek, 5).

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Knorr-Cetina, Karin (1984): Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft. Rev. und erw. Fassung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Theorie).

Locke, John (2017): Versuch über den menschlichen Verstand. Band I. 1. Buch. Weder Prinzipien noch Ideen sind angeboren. 2. Buch. Über die Ideen. Hamburg: Felix Meiner Verlag (Philosophische Bibliothek, v.75).

Marx, Karl; Engels, Friedrich (1956): Werke. 43 Bände. Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus. Berlin: Dietz.

Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2005): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. 12. Aufl., genehmigte Taschenbuchausg. München: Goldmann (Goldmann-Buch, 11460).

Moyar, Dean; Quante, Michael (Hg.) (2010): Hegel’s Phenomenology of spirit. A critical guide. 1., paperback ed. Cambridge: Cambridge University Press (Cambridge critical guides).

Schülein, Johann August; Reitze, Simon (2021): Wissenschaftstheorie für Einsteiger. 5. Auflage. Wien: Facultas; UTB (UTB, 2351).

Wittgenstein, Ludwig (2019): Tractatus logico-philosophicus. Unter Mitarbeit von Joachim Schulte. 23. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 501).

Ich freue mich über Bemerkungen und kritische Hinweise!