Güstrow, 08.03.2022

Grenzen des Denkens

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Das Modell „Gedankengebäude“

Man versteht sich gut mit einem Menschen in vielerlei Beziehung, doch bei bestimmten Fragen offenbaren sich auf einmal schier unüberwindliche Barrieren. Unser Gegenüber scheint mit seinen Gedanken wie in einem Gebäude gefangen zu sein, aus dem er nicht heraus und wir nicht hineinkommen. Man kann sich vielleicht noch freundlich mit dem Menschen an der Haustür seines Gedankengebäudes verständigen, aber über die Türschwelle gelangt man nicht.

Wie kann man ein Gedankengebäude eines Menschen veranschaulichen?

Das Gebäude besteht aus drei Etagen und mehreren Kellergeschossen.

In der obersten Etage befinden sich ein Raum mit leitenden Ideen, Vorstellungen und Haltungen. Es ist ein heiliger Raum, der selten von dem Menschen selbst betreten wird und in den auch nur Menschen mit gleicher Gesinnung hineingelassen werden.

In der zweiten Etage gibt es mehrere Räume, die Auffassungen zu bestimmten Themen enthalten, die mit den leitenden Ideen verbunden sind. Das Stockwerk hat keine Türen nach draußen, man kann sich nur am Fenster mit dem Bewohner unterhalten. Fenster werden auch nur geöffnet, wenn Interesse an der Proklamation der eigenen Gedanken besteht.

Im Erdgeschoss gibt es viele Räume mit konkreten Beispielen und Erfahrungen, sowie Fenster und auch Türen nach außen. Kommunikation mit anderen findet an einem Fenster, an einer offenen Tür und selten in einem der Räume statt. 

In der ersten Kelleretage befinden sich unterdrückte Zweifel an den leitenden Ideen. In den weiteren Kelleretagen ist vieles, was nur im Unterbewusstsein enthalten ist. Dies sind vergangene, aber nicht mehr bewusster Erlebnisse wie kindliche Erfahrungen, Gespräche mit Eltern, Freunden und Bekannten, gesehene Filme, gelesene Bücher und anderes.

Dieses Gedankengebäude steuert bewusst oder unbewusst das Denken und Verhalten des Menschen. Die Mauern sind die Grenzen seines Denkens, die nur selten überschritten werden.

Beispiele für Gedankengebäude

Gedankengebäude eines religiösen Menschen

Im obersten Stockwerk wohnt die Idee eines Gottes. Diese Idee kann die Vorstellung eines göttlichen Wesens, von etwas Übernatürlichem oder auch nur den Glauben an eine „unsichtbare Hand“ beinhalten, die die Geschicke des Lebens lenkt.

Im ersten Stock gibt es Räume mit Vorstellungen zum Sinn des Lebens, Einstellungen zum Tod, zu moralischen und ethischen Prinzipien, zu Hilfe und Unterstützung anderer Menschen und anderes.

Das Erdgeschoss es reich gefüllt mit vielen eigenen Erfahrungen in der aktiven oder passiven religiösen Tätigkeit, Erlebnisse und Begegnungen mit anderen religiösen Menschen, mit glücklichen Momenten bei religiösen Veranstaltungen oder Betrachtungen.

Die Zweifel an der „unsichtbaren Hand“, die die vernünftige Einrichtung des Lebens steuert, angesichts der zahlreichen Katastrophen und Ungerechtigkeiten sind im ersten Kellergeschoss enthalten. In den weiteren Kelleretagen befinden sich die kindlichen Erfahrungen im Religionsunterricht, bei kirchlichen Veranstaltungen oder Gesprächen mit Eltern und Großeltern.

Diese Menschen können sich schwer in das Gedankengebäude eines nichtreligiösen Menschen versetzen. Sie können sich oft nicht vorstellen, dass es Menschen gibt, die nicht an einen Gott glauben. In manchen Religionen geht es sogar so weit, dass Nichtgläubige verfolgt werden.

Beim Lesen philosophischer Publikationen ist mir immer wieder bewusst geworden, dass die religiösen Grundhaltungen, die oft nicht explizit dargelegt werden, die Gedankenführungen und die entwickelten Theorien beeinflussen. Gedanken und Theorien nichtreligiöser Philosophen werden, wie etwa die von Marx und Engels, bestenfalls referiert und zurückhaltend kommentiert.

Neben den religiösen Menschen im üblichen Sinne betrifft dies im besonderen Maße auch alle Menschen, die Anhänger bestimmter Sekten oder Verschwörungstheorien sind.

Gedanken zum Kommunismus eines in der alten BRD sozialisierten Bürgers

Ein Bürger der Bundesrepublik ist mit einem in der Schule und den Medien verbreiteten Antikommunismus groß geworden. Mehr oder weniger deutlich beeinflusst dieser oft im Unterbewusstsein das Denken und Reden dieser Menschen. Für sie sind kommunistische Ideen nicht denkbar. Dies betrifft auch viele der Philosophen.

Gedanken zum Sozialismus eines von der marxistisch-leninistischen Philosophie überzeugten Bürgers der DDR

Bürger der DDR, insbesondere die, die sich mit dem Gebäude der „sozialistischen“ Ideologie besonders eng vertraut gemacht haben und weiter daran glauben, lehnen innerlich vieles ab, was aus der alten Bundesrepublik kommt und haben ein tiefes inneres positives Verhältnis zum Leben in der DDR.

Gedanken eines Fachmathematikers zum Lernen von Mathematik

Fachmathematiker sind in dem Gebäude des Denkens über formale Momente mathematischer Begriffe, Sätze und Verfahren gefangen. Sie sind nicht in der Lage, dieses Gebäude zu verlassen und nichtformale Momente in ihre Überlegungen einzubeziehen. Diese werden von ihnen als unmathematisch empfunden und intuitiv abgelehnt. Auch alle Mathematikdidaktiker, die ihre gedankliche Heimat in der Mathematik haben, stehen diesen Überlegungen verständnislos gegenüber.

Zu ihrem Weltbild gehört die feste Überzeugung, dass ein Mathematiklehrer die Mathematik, so wie sie sie verstehen, gehört haben muss. Lehren von Mathematik bedeutet das geschlossene, lückenlose, durchaus auch mit Beispielen angereicherte Vortragen des formalen Gebäudes der Mathematik.

Gedanken eines Fachmathematikers oder eines mathematisch sozialisierten Fachdidaktiker zu Grundbegriffen und Methoden der Stochastik

Auch meine Überlegungen zur Prozessbetrachtung stochastischer Situationen oder zu einem qualitativen Wahrscheinlichkeitsbegriff sind trotz zahlreicher Vorträge bei meinen Kollegen im Arbeitskreis Stochastik auf wenig Resonanz gestoßen. Sie können nicht das traditionelle Gedankengebäude verlassen, das durch die Termini zufälliges Ereignis, Zufallsexperiment und einem quantitativen Wahrscheinlichkeitsbegriff geprägt ist.

Gedanken eines Menschen mit einer narzisstischen oder dissozialen Persönlichkeitsstörung über sich und andere Menschen

Viele dieser Menschen sind in einem Denken gefangen, das sich auf sie selbst bezieht. In ihrem Gedankengebäude ist kein Platz für Gedanken zum Fühlen und Denken anderer Menschen.

Möglichkeiten zur Beeinflussung des Aufbaus oder der Veränderung eines Gedankengebäudes

Es ist sehr schwer und oft nicht möglich, Menschen dazu zu bringen, dass sie ihr Gedankengebäude verlassen oder es zumindest teilweise aufzubrechen. Dazu sehe ich nur folgende Möglichkeiten.

  • Eine erfolgversprechende Möglichkeit ist, beim Aufbau des Gebäudes auf den Menschen Einfluss zu nehmen, d. h. Kinder und Jugendliche mit Gedanken vertraut zu machen, die außerhalb der Gedankengebäude ihrer Eltern liegen. Ein Beispiel ist die Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen in der DDR. Es ist bei vielen gelungen, ihnen auch im Unterbewusstsein eine Ablehnung oder sogar Verachtung faschistischer Gedanken zu vermitteln. Ebenso haben viele ein wenn auch undifferenziertes Verhältnis zur Sowjetunion bzw. Russland erworben. Auch eine innere Ablehnung des Kapitalismus ist ein Ergebnis dieser Erziehung, die über das Gedankengebäude ihrer oft in einem kapitalistischen Staat erzogenen Eltern hinausgeht.
  • Bei Erwachsenen ist es möglich, sie in neue Gedankengebäude einzuführen, wenn sie zu dem Thema noch nicht in einem Gebäude gefangen sind. Ein Beispiel sind meine Erfahrungen mit Grundschullehrerinnen, die unsere Überlegungen für einen neuen Zugang zum Umgehen mit Wahrscheinlichkeiten in der Grundschule mit Begeisterung aufgenommen und umgesetzt haben.
  • Weiterhin kann man Menschen in neue Gedankengebäude einführen, wenn das alte nachhaltig zerstört ist. Dies habe ich am eigenen Leibe erlebt. Nach dem Ende der DDR brauchte ich eine längere Zeit, um zu erkennen, dass grundlegende Teile des damaligen Gedankengebäudes fehlerhaft sind und deshalb abgerissen werden müssen. Meine intuitive Ablehnung gegen Kritiken an der DDR hat sich erst langsam gegeben.
    Eine Zerstörung von Gedankengebäuden setzt einschneidende Veränderungen in der Gesellschaft oder im persönlichen Leben voraus.
  • Bei psychischen Störungen gibt es noch die Möglichkeit einer psychotherapeutischen Behandlung, die allerdings voraussetzt, dass diese Menschen dazu bereit sind.

Zum Umgehen mit Menschen, die zu einem Thema ein anderes Gedankengebäude haben als man selbst

Es ist in vielen Fällen für Menschen nicht möglich oder zu mindestens unerträglich mit Menschen zu kommunizieren, die in grundlegend anderen Gedankengebäuden als dem eigenen beheimatet sind. Die oft einzige Möglichkeit besteht darin, diese Menschen und damit diese Gedankengebäude zu meiden. In einigen Fällen ist es sogar nötig, diese Menschen aufgrund ihrer Verhaltensweisen, etwa bei Verwendung nazistischer Symbole zu bestrafen, bzw. durch Verbot bestimmter Verhaltensweisen wesentlich einzuschränken. Aber auch dann kann man davon ausgehen, dass sich an dem Gedankengebäude, insbesondere auch im Unterbewusstsein, wenig ändern wird.

Revolutionäre Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse oder auch theoretischer Systeme wie der Philosophie können erfolgreich in der Regel vor allem mit jungen Leuten durchgeführt werden, die in ihrem Denken und Verhalten noch nicht eingeschränkt sind.

Ich freue mich über Bemerkungen und kritische Hinweise!